Welchen Einfluss das auf die Produktentwicklung hat und wie der Spagat zwischen medizinischem Anspruch und Lifestyle gelingen kann, darüber hat die OT-Redaktion mit Jens Thomsen, Produktmanager bei der Schein Orthopädie Service KG, gesprochen.
Diabetiker-Schutzschuhe sollen – wie der Name schon sagt – in erster Linie schützen. Welche Rolle spielt heute neben der Funktion auch das Design und inwiefern haben sich die Ansprüche der Kunden in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Jens Thomsen: Als die ersten Diabetiker-Schutzschuhe in den 1990er-Jahren auf den Markt kamen, stand ausschließlich die medizinische Funktion im Vordergrund. Das Design spielte damals bestenfalls eine Nebenrolle. Relativ schnell haben wir – und auch viele Ärztinnen und Ärzte – aber festgestellt, dass die Betroffenen diese Schuhe oft gar nicht oder nur sehr unregelmäßig getragen haben. Vor allem Frauen hatten große Hemmungen, Schuhe zu tragen, die schon von Weitem als orthopädische Produkte zu erkennen waren.
Mitte bis Ende der 2000er-Jahre setzte deshalb ein klarer Trend zu dezentem, alltagstauglichem Design ein. Dieser Trend hat sich im darauffolgenden Jahrzehnt noch verstärkt. Heute legen wir bei allen „LucRo“-Produktlinien größten Wert auf ein ansprechendes Erscheinungsbild – ohne dabei die medizinischen Anforderungen aus dem Blick zu verlieren. Schließlich sind unsere Schuhe nach wie vor Medizinprodukte.
Wir sind überzeugt: Die grundlegenden Ansprüche der Endverbraucher haben sich nicht verändert – die Industrie hört heute einfach besser hin. Denn am Ende hängt die Gesundheit von Menschen mit Diabetes ganz entscheidend davon ab, ob sie ihre medizinischen Hilfsmittel, in unserem Fall die Spezialschuhe beim diabetischen Fußsyndrom, auch wirklich regelmäßig tragen.
Was als schön definiert wird, ist mitunter eine Geschmacksfrage. Wie ermitteln Sie die Stilvorlieben Ihrer Kunden und wie fließen diese in die Produktentwicklung ein?
Das ist tatsächlich sehr vielfältig. Wir bekommen zum einen direkte Rückmeldungen von Patientinnen und Patienten, zum anderen erreichen uns Vorschläge über unsere Kundschaft und unseren Außendienst. Beides fließt in unsere Bedarfsermittlung ein. Natürlich beobachten wir auch den Markt sehr genau – sowohl den Bereich der konfektionierten Diabetiker-Schutzschuhe als auch den „normalen“ Komfortschuhbereich. Die meisten kreativen Impulse kommen aber aus unserem eigenen Designerteam. Dort werden aktuelle wie auch zukünftige Modetrends aufgegriffen, die wir unter anderem auf Messen entdecken. Auch das Internet spielt für uns eine wichtige Inspirationsquelle. Alle gesammelten Ideen werden bei uns im Haus und gemeinsam mit ausgewählten Kunden diskutiert. Auf Basis dieses Feedbacks treffen wir dann unsere Entscheidungen – immer mit dem Ziel, die sehr individuellen, oft auch subjektiven Wünsche der Endverbraucher möglichst gut zu erfüllen.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Kollektion „LucRo Sportic“ entwickelt worden. Welche Zielgruppe wollen Sie damit ansprechen?
Bevor wir mit der Entwicklung begonnen haben, haben wir uns ganz bewusst gefragt: Welche optischen Wünsche hätten wir persönlich an einen Diabetikerschuh? Mit dieser Frage im Gepäck haben wir unsere Kunden besucht und auch mit einigen Endverbraucherinnen und Endverbrauchern gesprochen – und das Ergebnis war eindeutig: Es fehlte eine Kollektion speziell für jüngere und junggebliebene Menschen mit Diabetes. So entstand die „LucRo-Sportic“-Kollektion. Und weil die Resonanz so positiv war, folgte wenig später mit „Urbanic“ eine weitere Linie, die ebenfalls auf ein modernes, alltagstaugliches Design setzt – bei gleichzeitig höchsten medizinischen Standards.

Welche besonderen Herausforderungen gab es, sportliches Design mit den hohen Schutzanforderungen eines Diabetikerschuhs zu vereinen?
Bei der Entwicklung stand für uns immer die medizinische Komponente an erster Stelle. Wir haben deshalb den medizinischen Nutzen als feste Grundlage genommen und das Design konsequent um die gesetzlichen Anforderungen herum aufgebaut. Eine große Herausforderung war es, die voluminöse Schutzkonstruktion optisch zu verschlanken. Das ist uns durch eine besonders tief gezogene Schalenlaufsohle gelungen. Gleichzeitig konnten wir das Gewicht durch den Einsatz innovativer Spezialmaterialien deutlich reduzieren. So entstand ein Schuh, der trotz seiner hohen Schutzfunktion leicht und dynamisch wirkt – und dessen sportlicher Charakter auch durch die gezielte Materialauswahl unterstrichen wird.
Gibt es eine Grenze, an der Designwünsche mit medizinischen Anforderungen kollidieren?
Ja, ganz eindeutig. Es gibt gewisse gestalterische Wünsche, die sich mit den medizinischen Anforderungen einfach nicht vereinbaren lassen. Ein klassisches Beispiel sind elegante Pumps mit Absatz – bei Menschen mit Diabetes sind sie aufgrund der ungünstigen Druckverteilung und des fehlenden regulierenden Verschlusses nicht realisierbar. Auch konfektionierte Spezialschuhe für Diabetes benötigen ein gewisses Mindestmaß an Volumen und Stabilität. Hinzu kommt die versteifte, verwringungsarme Sohle, die für den Schutz des Fußes essenziell ist. Dadurch lassen sich sehr dünne oder besonders flexible Schuhkonstruktionen nicht umsetzen. Mit anderen Worten: Das Design hat bei uns immer Spielraum – aber nie auf Kosten der medizinischen Sicherheit.
Es heißt: Ein Hilfsmittel wirkt nur, wenn es auch getragen wird. Welche Rolle spielt die Optik Ihrer Meinung nach in Bezug auf die Therapietreue?
Eine sehr große Rolle. Wenn ein Schuh gefällt, wird er auch deutlich lieber und häufiger getragen – und nur dann kann er seine Wirkung entfalten. Unser primäres Ziel ist es, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu erhalten. Dazu gehört, dass sie sich möglichst viel und gerne bewegen. Bewegung wirkt sich positiv auf die Blutwerte aus, unterstützt häufig auch eine Gewichtsreduktion und fördert insgesamt eine aktivere Teilhabe am Leben. Die meisten Menschen, die einen konfektionierten Diabetiker-Schutzschuh tragen müssen, möchten dabei nicht weiter auffallen. Genau deshalb legen wir so großen Wert auf das Design: Unsere „LucRo“-Schuhe sind heute optisch kaum noch von einem konfektionierten Bequemschuh zu unterscheiden. Dieses positive Feedback bekommen wir nicht nur von unseren Kundinnen und Kunden mit Diabetes, sondern auch von Endverbrauchern, die mit Diabetes gar nichts zu tun haben. Kurz gesagt: Ein ansprechendes Design ist ein entscheidender Schlüssel, damit unsere Schuhe gern getragen werden – und sie damit ihre therapeutische Wirkung auch wirklich entfalten können.
In der Hilfsmittelbranche gibt es zunehmend Kooperationen zwischen Herstellern von Gesundheitsschuhen und Modemarken. Welche Chancen und Vorteile sehen Sie für beide Seiten und letztendlich für die Kundschaft?
Wir sind überzeugt, dass das Thema Partnerschaften und Kooperationen in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen wird. Grundsätzlich gilt für uns: Eine Kooperation ergibt nur dann Sinn, wenn alle Beteiligten davon profitieren – der Hersteller, die Modemarke und am Ende natürlich auch die Kundinnen und Kunden. Aktuell sehen wir erste interessante Ansätze in diesem Bereich. Ob und in welchem Umfang sich diese durchsetzen, wird sich zeigen. Wir beobachten diese Entwicklungen jedenfalls mit großem Interesse. Langfristig könnten solche Kooperationen dazu beitragen, medizinische Schuhe noch stärker in die Alltagsmode zu integrieren – und damit die Akzeptanz bei den Endverbrauchern weiter zu erhöhen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Jens Thomsen ist seit mehr als 30 Jahren für die Schein Orthopädie Service KG tätig. Er ist mitverantwortlich für die Entwicklung neuer Schuhprodukte. Als Produktmanager für den Bereich Schuhe hat er täglichen Kontakt zu den Kunden und steht als Ansprechpartner zur Verfügung.
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