Seit 1993 organisiert die IOA (International Ostomy Association) alle drei Jahre, jeweils am ersten Samstag im Oktober, den weltweiten Aktionstag – in diesem Jahr unter dem Motto „Die Rechte von Stomaträgern sind Menschenrechte – immer und überall“. Die OT-Redaktion sprach mit Erich Grohmann, 1. Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen ILCO, über die Zielsetzung des Aktionstages, das Verbesserungspotenzial in der Stoma-Versorgung, die Fallstricke in der sanitären Infrastruktur und über das anstehende 50-jährige Jubiläum der ILCO.
OT: „Die Rechte von Stomaträgern sind Menschenrechte – immer und überall!“: Warum wurde dieses Motto zum diesjährigen Welt-Stoma-Tag gewählt?
Erich Grohmann: Diese Rechte stehen in den verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen auf unterschiedlichen Ebenen und die Umsetzung der Rechte ist unterschiedlich ausgeprägt. Probleme gibt es aber nicht nur in den „anderen Ländern“, auch bei uns stellt sich da so manche Frage. In der Charta der Rechte von Stomaträgern wurde 1993 festgeschrieben, „dass es das Recht des Betroffenen ist, ein gut angelegtes, richtig platziertes Stoma zu erhalten, unter voller und angemessener Berücksichtigung des Wohlergehens des Patienten“.
Das beinhaltet, dass vor der OP die bestmögliche Platzierung des Stomas ermittelt und angezeichnet wird. Das sollte von einem kompetenten Fachpersonal vorgenommen werden. Das wurde bei den durch die Deutsche Krebsgesellschaft (Onkozert) zertifizierten Kliniken mit beauflagt. In allen anderen Kliniken, die solche Operationen durchführen, ist das nicht bindend festgeschrieben. Ich kann mir vorstellen, dass die Anzahl der Revisionsoperationen reduziert werden könnte, wenn man generell das vorherige Anzeichnen durch geschultes Fachpersonal (z. B. Stomatherapeuten) umsetzt.
„Man muss sich Zeit nehmen“
OT: In welchen Bereichen ist noch Luft nach oben?
Grohmann: Zweifelsfrei haben wir eine gute Versorgung. Zu wünschen lässt die Information der Betroffenen über ihre Rechte und das Anlernen bei der richtigen Versorgung des Stomas. Bei einer Liegezeit von bis zu zehn Tagen, einschließlich der Operation, sieht der Patient den Stomatherapeuten im Schnitt zweimal in dieser Zeit. Es bedarf in den ersten Monaten jedoch einer engmaschigen Betreuung der Betroffenen und der Angehörigen durch die Therapeuten. Man muss bedenken, dass mehr als 50% der Stomaanlagen bei Menschen angelegt werden, die über 70 Jahre alt sind. Viele haben bereits über einen längeren Zeitraum andere chronische Erkrankungen und einen höheren Bedarf an Unterstützung. Das gilt natürlich besonders, wenn es zu Komplikationen am Stoma kommt. Sehen wir uns den besonderen Fall an, der leider keine Seltenheit ist: Der Patient wird am Freitagnachmittag entlassen. Ihm wird Versorgungsmaterial für zwei Tage mitgegeben (drei Beutel und eine Grundplatte). Bei der Fahrt nach Hause löst sich die Grundplatte. Mangelndes Wissen und Können des Patienten beim Wechsel kann zur Folge haben, dass die gewechselte Grundplatte wieder nicht hält. Der Dienstleister hat noch nicht geliefert und ist am Wochenende nicht erreichbar. Es gibt viele Einzelmaßnahmen, die man ansprechen muss. So der Bedarf an Versorgungsmaterial, der zu Beginn höher ist. Hier muss niederschwellig versorgt werden. Richtiges Anlernen des Betroffenen bedarf natürlich Zeit. Die muss man sich nehmen.
OT: Was können Leistungserbringer optimieren?
Grohmann: Hier will ich nur sagen, die Neubetroffenen sind oft in einem fortgeschrittenen Alter. Sie brauchen länger, um sicher bei dem Versorgungswechsel zu sein. Man muss es ihnen mehrmals erklären und auf alle Details aufmerksam machen. Es gilt, nicht über den Patienten zu bestimmen, sondern gemeinsam nach einer guten Lösung zu suchen. Hier haben aber nicht nur die Versorger eine Pflicht, sondern auch die Krankenkassen. Sie sind Vertragspartner der Versorger und müssen kontrollieren, ob die Verträge auch eingehalten werden.
OT: Äußerlich ist Stomaträger:innen die Behinderung nicht anzusehen. Inwiefern sind sie dennoch Diskriminierungen ausgesetzt?
Grohmann: Diskriminierung, wo fängt sie an? Wenn Sie mit einem Stoma in ein Schwimmbad oder eine Sauna gehen, kommt es vor, dass das Fachpersonal Sie nicht in das Schwimmbecken lässt. Wenn Sie berufstätig sind, dann brauchen sie eine Toilette, wo man auch einmal ungestört den Wechsel der Versorgung durchführen kann. Abgehende Winde kann man nicht anhalten, und geräuschlos sind diese auch selten. Das sind viele kleine Dinge im Leben, die es schwer machen können. Die Dichte der Behindertentoiletten und deren Ausstattung sind da ein weiterer Schwerpunkt.
Einheitliche Mindestanforderungen für Behindertentoilette gefordert
OT: Die Deutsche ILCO nimmt den diesjährigen Welt-Stoma-Tag zum Anlass, durch ihre Mitglieder die sanitäre Situation an vielen Orten überprüfen zu lassen und zu bewerten. Auf welche Hürden treffen Stomaträger:innen in der sanitären Infrastruktur? Was planen Sie mit den Ergebnissen dieser Untersuchung? Wie erhoffen Sie eine Verbesserung zu erreichen?
Grohmann: Behindertentoiletten haben nur wenige genormte Anforderungen, die sich auf das Sicherheitssystem beziehen und die Möglichkeiten der Nutzung durch einen Rollstuhlfahrer. Beim Waschbecken fangen die Probleme schon an. Hat es die richtige Höhe, sodass es von allen genutzt werden kann? Hat es einen Spiegel und geht der bis in die richtige Ebene? Dem Rollstuhlfahrer nutzt es nicht viel, wenn dieser auf der gewohnten Augenhöhe hängt. Aber er muss auch so angebracht sein, dass der Betroffene beim Versorgungswechsel das Stoma im Spiegel sehen kann. Es ist also wichtig, dass der Spiegel bis zur Waschbeckenoberkante geht.
Weitere Bedingungen sind: Gibt es Ablagen für die Materialien für den Versorgungswechsel? Haben Männertoiletten auch einen Abfallbehälter für Vorlagen, wie sie oft von Betroffenen mit Stomarückverlagerung genutzt werden? Gibt es einen Kleiderhaken? Und dann das Zeichen für Behinderung, der Rollstuhl. Das symbolisiert für die meisten: Diese Toilette ist nur für Rollstuhlfahrer gedacht. Es kommt nicht selten zu belästigenden Anspielungen vor der Toilette, wenn ein Mensch ohne offen sichtbare Behinderung diese benutzen möchte. Hier ist Handlungsbedarf. Es sollten europaweit einheitliche Mindestanforderungen für die Ausstattung von Toiletten und im Speziellen von Behindertentoiletten geschaffen werden.
Wir wollen erst einmal erfassen, wie eine Behindertentoilette ausgestattet sein sollte. Das wollen wir auch zu den ILCO-Verbänden außerhalb Deutschlands tragen. Danach müssen wir ermitteln, wer für die Umsetzung zuständig ist. Dazu müssen wir uns auch Verbündete holen: Patientenfürsprecher, Behindertenbeauftragte auf Landes- und Bundesebene, Kommunalpolitiker, aber auch Abgeordnete auf Landes- und Bundesebene, ja auch auf europäischer Ebene. Wenn wir etwas erreichen wollen, dürfen wir keinen in seiner Pflicht auslassen.
OT: Welche weiteren Aktionen gab es anlässlich des Aktionstages?
Grohmann: In den Gruppen gibt es unterschiedliche Einzelmaßnahmen. In Rheinland-Pfalz wurden die Behindertentoiletten in den Fokus gerückt. An anderer Stelle hat man Stomabeutel künstlerisch gestaltet und beabsichtigt, eine Wanderausstellung in Kliniken einzurichten, um auf die heutige, moderne und technisch immer weiter vervollkommnete Versorgung aufmerksam zu machen. Dies soll helfen, Ängste vor einem Stoma abzubauen.
Öffentliche Meinung ist weit von der Realität entfernt
OT: Welches Fazit ziehen Sie zum diesjährigen Welt-Stoma-Tag? Wie erreicht man durch den Welt-Stoma-Tag die öffentliche Aufmerksamkeit?
Grohmann: Die Bemühungen, Aufmerksamkeit zu erreichen, waren in diesem Jahr durch Corona eingeschränkt, ja fast unmöglich. Es wird jetzt schrittweise nachgeholt. Ein Welt-Stoma-Tag ist ja auch keine Momentaufnahme, sondern ein Höhepunkt, den wir nun verzögert ausleben. Dabei werden Möglichkeiten öffentlicher Veranstaltungen genutzt. Informationen in den Pflegeschulen sind ein anderer Weg. Die zukünftigen Pflegefachkräfte sollen sich in einen Betroffenen hineinversetzen können. Dann werden sie mit dem Betroffenen Entscheidungen finden und nicht über ihn entscheiden. Das angebliche Wissen der anderen über das, was uns Betroffenen gut tut, das Handeln über uns, das ist eine schlimme Form der Diskriminierung.
Krankheiten, die sich mit Problemen unterhalb der Gürtellinie beschäftigen und dann noch mit Körperausscheidungen, sind nicht gerade zur Lesergewinnung geeignet. Selbsthilfe wird in einem verstaubten Mantel gesehen und die öffentliche Meinung ist weit von der Realität entfernt. Öffentlichkeitsarbeit mit Unterstützung der Presse, des Rundfunks oder gar des Fernsehens sind da eher selten. Sie stehen oft in Verbindung mit Außergewöhnlichem: einem Bergsteiger mit Stoma, der einen 5.000er besteigt, oder ein Radrennfahrer. Hört man etwas von Schauspielern oder Politikern, die einen künstlichen Körperausgang haben?
Ausbau der Digitalisierung in der Selbsthilfe
OT: Bei Ihnen steht im nächsten Jahr bereits das nächste Jubiläum an. Was haben Sie zum 50-jährigen Bestehen der ILCO geplant?
Grohmann: 50 Jahre Deutsche ILCO, wir wollen auf uns aufmerksam machen. Blau/weiß sind die Farben der ILCO. Also haben wir uns ein Blumenmeer blau und weiß blühend vorgestellt. Den Blumensamen dazu versenden wir mit unserer Mitgliederzeitschrift. Wir rufen alle Kooperationspartner auf, sich uns anzuschließen. Vorgärten vor unseren Häusern, Blumenkästen auf dem Balkon. Unsere ILCO-Tage, die wir alle drei Jahre begehen, werden im September in Mannheim nicht nur den fachlichen Teil haben, sondern auch eine Feierstunde. Es gehört nicht nur das Leben danach – also nach der OP und Stomaanlage – zu unseren Aufgaben, auch die Prävention halten wir für wichtig. Wenn wir helfen können, Erkrankungen zu verhindern und damit auch die Folgen, dann haben wir eine wichtige Aufgabe erfüllt: Gesundheit erhalten. Da sind wir in verschiedenen Landesverbänden aktiv. In NRW ist es die Kampagne „1000 mutige Männer für NRW“ (Mit diesem Slogan werben Darmkrebsbetroffene der ILCO für die Sinnhaftigkeit der Darmkrebsvorsorge, Anm. d. Red.)
Der Ausbau der Digitalisierung in der Selbsthilfe und die Erweiterung des Besuchsdienstes bei Neubetroffenen in den Akut- und Rehakliniken sind weitere wichtige Schritte. Die Digitalisierung ermöglicht es, weltweit die Menschen anzusprechen, ihnen Informationen von Betroffenen für Betroffene rund um die Uhr anzubieten.
Die Fragen stellte Jana Sudhoff.
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