Wachs­tums­markt Wundversorgung

Diabetisches Fußsyndrom, Dekubitus, Ulkus – bis zu vier Millionen Menschen leiden in Deutschland nach Anga­ben des BVMed Bundesverbands Medizintechnologie e. V. an offenen Wunden. Der demografische Wandel sowie die wachsende Zahl an Diabeteserkrankungen führen auch zu einer steigenden Nachfrage nach entsprechenden Home­care-Versorgungsangeboten.

Wie sich im Bereich Home­ca­re und spe­zi­ell im Seg­ment Wund­ver­sor­gung wirt­schaft­lich arbei­ten lässt und wie sich das neue Ter­min­ser­vice- und Ver­sor­gungs­ge­setz (TSVG) nie­derschlägt, erläu­tern Ben Bake, Vor­stands­vor­sit­zen­der der Sani­täts­haus Aktu­ell AG und Mit­glied des Vor­stands des BV­Med Bun­des­ver­bands Medi­zin­tech­no­lo­gie e. V., sowie Ralph May­er, Divi­si­ons­lei­ter Care Team bei Sani­täts­haus Aktuell.

Posi­ti­ve Aus­wir­kun­gen des TSVG erwartet

OT: Wie hat sich der Bereich Home­ca­re und spe­zi­ell das Seg­ment Wund­ver­sor­gung in Ihrem Unter­neh­men in den ver­gan­ge­nen Jah­ren entwickelt? 

Ralph May­er: Die Wund­ver­sor­gung gehört zu den weni­gen wach­sen­den Home­ca­re-Berei­chen, schon allein durch zu­nehmende Betrof­fe­nen­zah­len bei Dia­be­tes, Deku­bi­tus und Ulkus. Zudem wer­den die Pati­en­ten hier eher durch Home­­ca­re-Teams ver­sorgt als durch Apo­the­ken. Wir sind in den Ver­sor­gungs­netz­wer­ken ver­tre­ten, bekom­men die Patien­tenzuweisungen. Dabei gibt es etli­che Schnitt­men­gen zu Schwes­ter­be­rei­chen wie Reha oder Pfle­ge. Für eine qualita­tive Ver­sor­gung ist des Wei­te­ren die Koope­ra­ti­on mit Kran­kenhäusern und Ärz­ten nötig.

Ben Bake: Der gesam­te Home­ca­re-Bereich wächst um etwa drei bis vier Pro­zent pro Jahr. Posi­tiv wird sich das neue TSVG nie­der­schla­gen, das den Aus­schrei­bun­gen im Hilfs­mit­tel-Sek­tor ein Ende berei­tet. Denn deren Zahl war in den letz­ten Jah­ren mas­siv ange­stie­gen. Die Vor­stö­ße­reich­ten bis hin­ein in Pro­dukt­seg­men­te, bei denen wir das zuvor nicht für mög­lich hiel­ten. Zum Bei­spiel gab es Aus­schrei­bun­gen bei der eigent­lich sehr inti­men und be­ratungsintensiven Sto­ma­ver­sor­gung. Da wur­den sogar Vi­deochats zur Pati­en­ten­be­ra­tung als aus­rei­chend erachtet.

OT: Erst sechs Mona­te nach Inkraft­tre­ten des TSVG am 11. Mai 2019 ver­lie­ren noch bestehen­de Aus­schrei­bungs­ver­trä­ge ihre Rechts­wir­kung. Den Ein­fluss des neu­en Geset­zes spü­ren Sie aber schon jetzt? 

Bake: Ganz erheb­lich! Unser Ver­trags­ma­nage­ment-Team ist zur­zeit sehr gefor­dert, Kon­zep­te zu ent­wi­ckeln sowie mit den Kran­ken­kas­sen neue Wege zu gehen und neue Ver­trä­ge aus­zu­ge­stal­ten. Hier brennt sozu­sa­gen die Luft! Wir haben für den Bereich Home­ca­re unse­re Kräf­te mit ande­ren Leis­tungsgemeinschaften im VVHC (Ver­band Versorgungs­qualität Home­ca­re e. V.) gebün­delt. In den ande­ren Berei­chen arbei­ten wir eng mit unse­rem Koope­ra­ti­ons­part­ner Reha-Ser­vice-Ring, den ande­ren Leis­tungs­ge­mein­schaf­ten sowie dem Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­­nik zusam­men, um erfolg­reich und mit Augen­maß zu ver­handeln sowie ein für alle Sei­ten gutes Ergeb­nis zu erzie­len. Sicher­lich wer­den wir kei­nen Quan­ten­sprung bei den Ver­gütungen erle­ben. Aber die Aus­schrei­bun­gen haben dazu geführt, dass ein mul­ti­mor­bi­der Pati­ent kei­ne Wahl mehr hat­te und teils die Ver­sor­gung durch sechs oder sie­ben Leis­tungserbringer akzep­tie­ren muss­te. Das kann sich nun wie­der ändern. Wir set­zen sehr auf ein gemein­sa­mes Vor­ge­hen, damit nie­mand mit Dum­ping­an­ge­bo­ten einen neu­en Preis­kampf beginnt. Im Sin­ne der Pati­en­ten hof­fen wir, dass extre­me Preis- und Qua­li­täts­aus­rei­ßer nach unten, wie bei den auf­sau­gen­den Inkon­ti­nenz­pro­duk­ten, der Vergan­genheit ange­hö­ren. Sicher bleibt dies auch in Zukunft eine schwie­ri­ge Pro­dukt­grup­pe, die sich nur mit opti­mier­ten Pro­zes­sen und Logis­tik­kon­zep­ten im Hin­ter­grund aus­kömmlich gestal­ten lässt. Ins­ge­samt bin ich aber optimis­tisch und dar­über erfreut, dass sich auch vie­le Krankenkas­sen mit der neu­en Situa­ti­on posi­tiv auseinandersetzen.

„4 Ster­ne“ für mehr Wirtschaftlichkeit

OT: Wie wich­tig ist die Home­ca­re in Ihrem Gesamtportfolio? 

Bake: Leis­tun­gen für etwa 700 Mil­lio­nen Euro pro Jahr rech­nen die Betrie­be unse­rer Leis­tungs­ge­mein­schaft ins­gesamt mit den Kran­ken­kas­sen ab. Davon ent­fal­len rund 140 Mil­lio­nen Euro auf das Care Team, also die Homecare.

OT: Kön­nen Ihre Mit­glie­der im Bereich Home­ca­re wirtschaft­lich arbeiten?

May­er: Bereits seit vie­len Jah­ren emp­feh­len wir unse­ren Häu­sern, ein soge­nann­tes „4‑S­ter­ne-Haus“ zu wer­den – also eine Rund­um-Ver­sor­gung „aus einer Hand” in den vier Berei­chen Home­ca­re, Sani­täts­haus­be­darf, Reha­bi­li­ta­ti­on und Ortho­pä­die-Tech­nik (OT) anzu­bie­ten. Sonst wird es schwie­rig mit der Wirt­schaft­lich­keit. Aller­dings muss man für jeden der Berei­che Lei­den­schaft ent­wi­ckeln. Spe­zi­el­le „Erfah­rungs­aus­tausch­grup­pen“, Erfa-Grup­pen genannt, hel­fen unse­ren Mit­glieds­be­trie­ben bei­spiels­wei­se beim Ein­stieg in die Home­ca­re oder bei der Opti­mie­rung ihrer Prozes­se. Damit sor­gen sie unter ande­rem für höhe­re Rentabilität.

Bake: Nicht nur bei der Wund­ver­sor­gung erhöht ein sol­ches Kon­zept die Qua­li­tät, die Kun­den­ori­en­tie­rung und die Wirt­schaftlichkeit glei­cher­ma­ßen. So lässt sich die Wundhei­lung nur mit einer guten Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung opti­mal unter­stüt­zen. Also ist hier eben­so das Sani-Team gefragt. Ge­gebenenfalls benö­tigt der Pati­ent außer­dem Reha oder OT. Wirt­schaft­lich ist, die Kun­den kom­plett zu ver­sor­gen – und dabei nicht nur die Wun­de, son­dern alle ande­ren Erkran­kungen eben­falls zu beach­ten. Alles aus einer Hand zu erhal­ten ist letzt­lich für die Pati­en­ten bzw. pfle­gen­den Angehöri­gen ange­neh­mer als vie­le Part­ner koor­di­nie­ren zu müssen.

OT: Wor­in lie­gen die beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen im Home­ca­re-Seg­ment Wundversorgung? 

May­er: Ein schwie­ri­ges The­ma sind die unse­rer Ansicht nach will­kür­li­chen Kür­zun­gen, die Kran­ken­kas­sen bei Pro­dukten vor­neh­men, die aus dem Aus­land zu bezie­hen sind. Hier wird in die Ent­schei­dungs­ho­heit der Ärz­te eingegrif­fen und gefor­dert, auf ande­re als die ver­ord­ne­ten Pro­duk­te aus­zu­wei­chen. Zudem wer­den Posi­tiv-/Ne­ga­tiv­lis­ten an die Ärz­te ver­teilt. Die­se haben zwar eigent­lich emp­feh­len­den Cha­rak­ter, aber zum Teil haben die Ärz­te Angst vor Regress­forderungen, wenn sie den Emp­feh­lun­gen nicht fol­gen. Da wür­den wir uns mehr Durch­set­zungs­kraft wün­schen. Gera­de der Bereich Wund­ver­sor­gung ist davon betrof­fen. Außer­dem unter­lie­gen die benö­tig­ten Ver­band­mit­tel dem Apo­the­ken­recht, wir par­ti­zi­pie­ren hier ledig­lich an den ver­han­del­ten Apo­the­ken­ver­trä­gen, die wir aktu­ell nicht beein­flus­sen können.

Home­ca­re als Schnittstelle

OT: Wie wesent­lich ist das inter­dis­zi­pli­nä­re Ver­sor­gungs-manage­ment bei der Wund­ver­sor­gung, dar­un­ter die Zusam­men­ar­beit mit Ärz­ten, Kli­ni­ken und Pflegediensten? 

Bake: Es ist unbe­strit­ten, dass Netz­wer­ke und Koopera­tionen sinn­voll sind sowie im Inter­es­se von Pati­en­ten und Kran­ken­kas­sen lie­gen. Doch die Tat­be­stän­de gemäß Para­graf 299 a und b des Straf­ge­setz­bu­ches – Straf­bar­keit von Kor­rup­ti­on im Gesund­heits­we­sen – haben die gan­ze Bran­che erst ein­mal hell­hö­rig gemacht. Auf­grund die­ses Anti­kor­rup­ti­ons­ge­set­zes von 2016 wur­de geprüft, ob alle Pfa­de­der Zusam­men­ar­beit geset­zes­kon­form sind. Des­halb haben­wir für unse­re Betrie­be ein Com­pli­ance- Hand­buch ent­wi­ckelt, auf des­sen Grund­la­ge sie mit Ärz­ten und ande­ren Part­nern in inter­dis­zi­pli­nä­ren Netzwer­ken zusam­men­ar­bei­ten können.

May­er: Das Care Team ist zum Bei­spiel bei der Wundver­sorgung eine wich­ti­ge Schnitt­stel­le zwi­schen allen Akteu­ren, zwi­schen Ärz­ten, Pfle­ge­diens­ten, Kli­ni­ken, Therapeu­ten, Pati­en­ten bzw. Ange­hö­ri­gen. Wir leis­ten ja nicht die Wund­ver­sor­gung, son­dern lie­fern das ent­spre­chen­de, vom Arzt ver­ord­ne­te Pro­dukt und wei­sen in die kor­rek­te Hand­habung ein. Wir unter­stüt­zen beim Über­gang vom klini­schen in den ambu­lan­ten Sek­tor. Als Care Team sind wir Hilfs­mit­tel­ko­or­di­na­to­ren und ver­mit­teln zwi­schen den unter­schied­li­chen Fachleuten.

Ralph May­er, Divi­si­ons­lei­ter
Care Team bei Sani­täts­haus Aktuell.

OT: Wie unter­stüt­zen Sie das inter­dis­zi­pli­nä­re und inter­pro­fes­sio­nel­le Arbeiten? 

Bake: Um noch pro­fes­sio­nel­ler Netz­wer­ken zu kön­nen, ha­ben wir gemein­sam mit unse­ren Mit­glie­dern die Ausbil­dung zum Hilfs­mit­tel­ko­or­di­na­tor ins Leben geru­fen. In­zwischen wur­den mehr als 120 Hilfs­mit­tel­ko­or­di­na­to­ren aus­ge­bil­det, die in den Unter­neh­men arbei­ten und Netz­werke för­dern. Wir möch­ten, dass jede Fach­rich­tung über den Tel­ler­rand ihres spe­zi­fi­schen Gebiets schaut. So soll sich die Wund­schwes­ter nicht nur auf die Wun­de fokus­sie­ren, son­dern genau­so einen even­tu­el­len Reha­be­darf des Patien­ten im Blick haben und mit den ent­spre­chen­den Fachkolle­gen zusam­men­ar­bei­ten. Hier set­zen die Koor­di­na­to­ren an, brin­gen die Netz­wer­ke in die täg­li­che Arbeit ein. Für eine opti­ma­le Behand­lung rücken Home­ca­re, Arzt, Pfle­ge und The­ra­pie immer mehr zusammen.

May­er: Iso­lier­tes Arbei­ten ist nicht ziel­füh­rend, das dringt immer mehr in alle Berei­che des Gesund­heits­we­sens durch. Qua­li­fi­ka­ti­on ist ein Tür­öff­ner für gegen­sei­ti­ge Akzep­tanz. Bei­spiels­wei­se schät­zen die Ärz­te das Spe­zi­al­wis­sen unse­rer 200 zer­ti­fi­zier­ten Wund­ex­per­ten. Wich­tig ist, „up-to-date“ zu blei­ben. So ist der­zeit zu hören, dass der Gesetz­ge­ber die Unter­druck-Wund­the­ra­pie (Nega­ti­ve Pres­su­re Wound The­rapy NPWT), eine spe­zi­el­le Ver­sie­ge­lungs­the­ra­pie für stark näs­sen­de groß­flä­chi­ge Wun­den, vom kli­ni­schen in den nie­der­ge­las­se­nen Bereich über­füh­ren will. Heu­te ist dies noch eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung der Kran­ken­kas­sen, es gibt kei­ne Kenn­zif­fer. Des­halb las­sen vie­le noch die Fin­ger davon. In Zukunft bie­ten sich hier inter­es­san­te Möglich­keiten, dar­auf stel­len wir uns gemein­sam mit den Part­nern aus der Indus­trie ein.

OT: Schlägt der viel­dis­ku­tier­te Fach­kräf­te­man­gel auch auf die Home­ca­re durch? 

Bake: Das ist ein gene­rel­les Pro­blem. Wir könn­ten zwi­schen 80 und 100 Leu­te sofort ver­mit­teln, von OT bis Home­ca­re, wenn wir sie denn fin­den wür­den. Des­halb unter­stüt­zen wir unse­re Häu­ser sowohl bei der Ausbil­dung des Nach­wuch­se­sals auch der Qua­li­fi­zie­rung der Mit­ar­bei­ter. Wir füh­ren Work­shops durch, um den Betrie­ben zu hel­fen, sich als attrak­ti­ve Arbeit­ge­ber zu präsen­tieren. Hier schlum­mern unge­nutz­te Poten­zia­le. Unse­re Betrie­be bie­ten Arbeits­zeit­kon­ten, fle­xi­blen Arbeits­zei­ten und Work-Life-Balan­ce bis zu leis­tungs­ge­rech­ter Bezah­lung oder sozia­len Enga­ge­ments. Sani­täts­häu­ser wer­den oft als ver­staubt wahr­ge­nom­men, dabei arbei­ten wir mit fort­schritt­li­chen Ver­fah­ren wie 3D-Druck und moder­nen Mate­ria­li­en wie Sili­kon, Fiber­glas, Car­bon. Logis­tik und IT wer­den immer wich­ti­ger. Wir haben eine Kam­pa­gne unter dem Mot­to „Passt in mein Leben“ gestar­tet, um jun­ge Leu­te zu begeistern.

May­er: Gegen­über den Kran­ken­häu­sern kön­nen wir mit gere­gel­ten Arbeits­zei­ten punk­ten, ohne Schicht­dienst – das schät­zen unter ande­rem unse­re exami­nier­ten Wund­schwestern. Nicht zuletzt genie­ßen sie in unse­ren Teams einen hohen Stel­len­wert. Schluss­end­lich müs­sen wir das Image der Sani­täts­häu­ser und unse­rer gesam­ten Bran­che im öffent­li­chen Bewusst­sein viel posi­ti­ver aufladen.

Das Inter­view führ­te Cath­rin Günzel

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