Wie sich im Bereich Homecare und speziell im Segment Wundversorgung wirtschaftlich arbeiten lässt und wie sich das neue Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) niederschlägt, erläutern Ben Bake, Vorstandsvorsitzender der Sanitätshaus Aktuell AG und Mitglied des Vorstands des BVMed Bundesverbands Medizintechnologie e. V., sowie Ralph Mayer, Divisionsleiter Care Team bei Sanitätshaus Aktuell.
Positive Auswirkungen des TSVG erwartet
OT: Wie hat sich der Bereich Homecare und speziell das Segment Wundversorgung in Ihrem Unternehmen in den vergangenen Jahren entwickelt?
Ralph Mayer: Die Wundversorgung gehört zu den wenigen wachsenden Homecare-Bereichen, schon allein durch zunehmende Betroffenenzahlen bei Diabetes, Dekubitus und Ulkus. Zudem werden die Patienten hier eher durch Homecare-Teams versorgt als durch Apotheken. Wir sind in den Versorgungsnetzwerken vertreten, bekommen die Patientenzuweisungen. Dabei gibt es etliche Schnittmengen zu Schwesterbereichen wie Reha oder Pflege. Für eine qualitative Versorgung ist des Weiteren die Kooperation mit Krankenhäusern und Ärzten nötig.
Ben Bake: Der gesamte Homecare-Bereich wächst um etwa drei bis vier Prozent pro Jahr. Positiv wird sich das neue TSVG niederschlagen, das den Ausschreibungen im Hilfsmittel-Sektor ein Ende bereitet. Denn deren Zahl war in den letzten Jahren massiv angestiegen. Die Vorstößereichten bis hinein in Produktsegmente, bei denen wir das zuvor nicht für möglich hielten. Zum Beispiel gab es Ausschreibungen bei der eigentlich sehr intimen und beratungsintensiven Stomaversorgung. Da wurden sogar Videochats zur Patientenberatung als ausreichend erachtet.
OT: Erst sechs Monate nach Inkrafttreten des TSVG am 11. Mai 2019 verlieren noch bestehende Ausschreibungsverträge ihre Rechtswirkung. Den Einfluss des neuen Gesetzes spüren Sie aber schon jetzt?
Bake: Ganz erheblich! Unser Vertragsmanagement-Team ist zurzeit sehr gefordert, Konzepte zu entwickeln sowie mit den Krankenkassen neue Wege zu gehen und neue Verträge auszugestalten. Hier brennt sozusagen die Luft! Wir haben für den Bereich Homecare unsere Kräfte mit anderen Leistungsgemeinschaften im VVHC (Verband Versorgungsqualität Homecare e. V.) gebündelt. In den anderen Bereichen arbeiten wir eng mit unserem Kooperationspartner Reha-Service-Ring, den anderen Leistungsgemeinschaften sowie dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik zusammen, um erfolgreich und mit Augenmaß zu verhandeln sowie ein für alle Seiten gutes Ergebnis zu erzielen. Sicherlich werden wir keinen Quantensprung bei den Vergütungen erleben. Aber die Ausschreibungen haben dazu geführt, dass ein multimorbider Patient keine Wahl mehr hatte und teils die Versorgung durch sechs oder sieben Leistungserbringer akzeptieren musste. Das kann sich nun wieder ändern. Wir setzen sehr auf ein gemeinsames Vorgehen, damit niemand mit Dumpingangeboten einen neuen Preiskampf beginnt. Im Sinne der Patienten hoffen wir, dass extreme Preis- und Qualitätsausreißer nach unten, wie bei den aufsaugenden Inkontinenzprodukten, der Vergangenheit angehören. Sicher bleibt dies auch in Zukunft eine schwierige Produktgruppe, die sich nur mit optimierten Prozessen und Logistikkonzepten im Hintergrund auskömmlich gestalten lässt. Insgesamt bin ich aber optimistisch und darüber erfreut, dass sich auch viele Krankenkassen mit der neuen Situation positiv auseinandersetzen.
„4 Sterne“ für mehr Wirtschaftlichkeit
OT: Wie wichtig ist die Homecare in Ihrem Gesamtportfolio?
Bake: Leistungen für etwa 700 Millionen Euro pro Jahr rechnen die Betriebe unserer Leistungsgemeinschaft insgesamt mit den Krankenkassen ab. Davon entfallen rund 140 Millionen Euro auf das Care Team, also die Homecare.
OT: Können Ihre Mitglieder im Bereich Homecare wirtschaftlich arbeiten?
Mayer: Bereits seit vielen Jahren empfehlen wir unseren Häusern, ein sogenanntes „4‑Sterne-Haus“ zu werden – also eine Rundum-Versorgung „aus einer Hand” in den vier Bereichen Homecare, Sanitätshausbedarf, Rehabilitation und Orthopädie-Technik (OT) anzubieten. Sonst wird es schwierig mit der Wirtschaftlichkeit. Allerdings muss man für jeden der Bereiche Leidenschaft entwickeln. Spezielle „Erfahrungsaustauschgruppen“, Erfa-Gruppen genannt, helfen unseren Mitgliedsbetrieben beispielsweise beim Einstieg in die Homecare oder bei der Optimierung ihrer Prozesse. Damit sorgen sie unter anderem für höhere Rentabilität.
Bake: Nicht nur bei der Wundversorgung erhöht ein solches Konzept die Qualität, die Kundenorientierung und die Wirtschaftlichkeit gleichermaßen. So lässt sich die Wundheilung nur mit einer guten Kompressionsversorgung optimal unterstützen. Also ist hier ebenso das Sani-Team gefragt. Gegebenenfalls benötigt der Patient außerdem Reha oder OT. Wirtschaftlich ist, die Kunden komplett zu versorgen – und dabei nicht nur die Wunde, sondern alle anderen Erkrankungen ebenfalls zu beachten. Alles aus einer Hand zu erhalten ist letztlich für die Patienten bzw. pflegenden Angehörigen angenehmer als viele Partner koordinieren zu müssen.
OT: Worin liegen die besonderen Herausforderungen im Homecare-Segment Wundversorgung?
Mayer: Ein schwieriges Thema sind die unserer Ansicht nach willkürlichen Kürzungen, die Krankenkassen bei Produkten vornehmen, die aus dem Ausland zu beziehen sind. Hier wird in die Entscheidungshoheit der Ärzte eingegriffen und gefordert, auf andere als die verordneten Produkte auszuweichen. Zudem werden Positiv-/Negativlisten an die Ärzte verteilt. Diese haben zwar eigentlich empfehlenden Charakter, aber zum Teil haben die Ärzte Angst vor Regressforderungen, wenn sie den Empfehlungen nicht folgen. Da würden wir uns mehr Durchsetzungskraft wünschen. Gerade der Bereich Wundversorgung ist davon betroffen. Außerdem unterliegen die benötigten Verbandmittel dem Apothekenrecht, wir partizipieren hier lediglich an den verhandelten Apothekenverträgen, die wir aktuell nicht beeinflussen können.
Homecare als Schnittstelle
OT: Wie wesentlich ist das interdisziplinäre Versorgungs-management bei der Wundversorgung, darunter die Zusammenarbeit mit Ärzten, Kliniken und Pflegediensten?
Bake: Es ist unbestritten, dass Netzwerke und Kooperationen sinnvoll sind sowie im Interesse von Patienten und Krankenkassen liegen. Doch die Tatbestände gemäß Paragraf 299 a und b des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit von Korruption im Gesundheitswesen – haben die ganze Branche erst einmal hellhörig gemacht. Aufgrund dieses Antikorruptionsgesetzes von 2016 wurde geprüft, ob alle Pfadeder Zusammenarbeit gesetzeskonform sind. Deshalb habenwir für unsere Betriebe ein Compliance- Handbuch entwickelt, auf dessen Grundlage sie mit Ärzten und anderen Partnern in interdisziplinären Netzwerken zusammenarbeiten können.
Mayer: Das Care Team ist zum Beispiel bei der Wundversorgung eine wichtige Schnittstelle zwischen allen Akteuren, zwischen Ärzten, Pflegediensten, Kliniken, Therapeuten, Patienten bzw. Angehörigen. Wir leisten ja nicht die Wundversorgung, sondern liefern das entsprechende, vom Arzt verordnete Produkt und weisen in die korrekte Handhabung ein. Wir unterstützen beim Übergang vom klinischen in den ambulanten Sektor. Als Care Team sind wir Hilfsmittelkoordinatoren und vermitteln zwischen den unterschiedlichen Fachleuten.
OT: Wie unterstützen Sie das interdisziplinäre und interprofessionelle Arbeiten?
Bake: Um noch professioneller Netzwerken zu können, haben wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern die Ausbildung zum Hilfsmittelkoordinator ins Leben gerufen. Inzwischen wurden mehr als 120 Hilfsmittelkoordinatoren ausgebildet, die in den Unternehmen arbeiten und Netzwerke fördern. Wir möchten, dass jede Fachrichtung über den Tellerrand ihres spezifischen Gebiets schaut. So soll sich die Wundschwester nicht nur auf die Wunde fokussieren, sondern genauso einen eventuellen Rehabedarf des Patienten im Blick haben und mit den entsprechenden Fachkollegen zusammenarbeiten. Hier setzen die Koordinatoren an, bringen die Netzwerke in die tägliche Arbeit ein. Für eine optimale Behandlung rücken Homecare, Arzt, Pflege und Therapie immer mehr zusammen.
Mayer: Isoliertes Arbeiten ist nicht zielführend, das dringt immer mehr in alle Bereiche des Gesundheitswesens durch. Qualifikation ist ein Türöffner für gegenseitige Akzeptanz. Beispielsweise schätzen die Ärzte das Spezialwissen unserer 200 zertifizierten Wundexperten. Wichtig ist, „up-to-date“ zu bleiben. So ist derzeit zu hören, dass der Gesetzgeber die Unterdruck-Wundtherapie (Negative Pressure Wound Therapy NPWT), eine spezielle Versiegelungstherapie für stark nässende großflächige Wunden, vom klinischen in den niedergelassenen Bereich überführen will. Heute ist dies noch eine Einzelfallentscheidung der Krankenkassen, es gibt keine Kennziffer. Deshalb lassen viele noch die Finger davon. In Zukunft bieten sich hier interessante Möglichkeiten, darauf stellen wir uns gemeinsam mit den Partnern aus der Industrie ein.
OT: Schlägt der vieldiskutierte Fachkräftemangel auch auf die Homecare durch?
Bake: Das ist ein generelles Problem. Wir könnten zwischen 80 und 100 Leute sofort vermitteln, von OT bis Homecare, wenn wir sie denn finden würden. Deshalb unterstützen wir unsere Häuser sowohl bei der Ausbildung des Nachwuchsesals auch der Qualifizierung der Mitarbeiter. Wir führen Workshops durch, um den Betrieben zu helfen, sich als attraktive Arbeitgeber zu präsentieren. Hier schlummern ungenutzte Potenziale. Unsere Betriebe bieten Arbeitszeitkonten, flexiblen Arbeitszeiten und Work-Life-Balance bis zu leistungsgerechter Bezahlung oder sozialen Engagements. Sanitätshäuser werden oft als verstaubt wahrgenommen, dabei arbeiten wir mit fortschrittlichen Verfahren wie 3D-Druck und modernen Materialien wie Silikon, Fiberglas, Carbon. Logistik und IT werden immer wichtiger. Wir haben eine Kampagne unter dem Motto „Passt in mein Leben“ gestartet, um junge Leute zu begeistern.
Mayer: Gegenüber den Krankenhäusern können wir mit geregelten Arbeitszeiten punkten, ohne Schichtdienst – das schätzen unter anderem unsere examinierten Wundschwestern. Nicht zuletzt genießen sie in unseren Teams einen hohen Stellenwert. Schlussendlich müssen wir das Image der Sanitätshäuser und unserer gesamten Branche im öffentlichen Bewusstsein viel positiver aufladen.
Das Interview führte Cathrin Günzel
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