Ver­wen­dung der Elek­tro­m­yo­gra­phie in der funk­tio­nel­len Elektrostimulation

Th. Schauer, Ch. Klauer
Die Funktionelle Elektrostimulation (FES) stellt ein etabliertes Therapieverfahren in der neurologischen Rehabilitation dar. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Erfassung und Auswertung des Elektromyogramms am stimulierten Muskel zwischen den Stimulationsimpulsen für folgende Zielstellungen: 1.) Anpassung des Unterstützungsgrades an die detektierte willkürliche Restmuskelaktivität, 2.) Verbesserung der Regulierung des Stimulationseffekts (Regelung des Betrags der durch FES rekrutierten motorischen Einheiten λ) und 3.) Beobachtung natürlicher Muskelaktivitäten/ der Motorkoordination während der FES.

Ein­lei­tung

Ein aner­kann­tes Ver­fah­ren in der moto­ri­schen Neu­ro­re­ha­bi­li­ta­ti­on von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten ist die Funk­tio­nel­le Elek­tro­sti­mu­la­ti­on (FES), bei der Bewe­gun­gen der betrof­fe­nen Extre­mi­tä­ten durch geziel­te künst­li­che Akti­vie­rung gelähm­ter Mus­kel gene­riert wer­den 1. Mit­tels elek­tri­scher Rei­ze kön­nen in den moto­ri­schen (effe­ren­ten) Ner­ven Akti­ons­po­ten­zia­le erzeugt wer­den und so Kon­trak­tio­nen der gelähm­ten Mus­ku­la­tur her­bei­ge­führt wer­den. Alter­na­tiv zur Rei­zung moto­ri­scher Ner­ven kön­nen auch in sen­so­ri­schen (affe­ren­ten) Ner­ven Akti­ons­po­ten­zia­le indu­ziert wer­den, die zur Aus­lö­sung und zur Modu­la­ti­on von Refle­xen, meist auf spi­na­ler Ebe­ne (Rücken­mark), füh­ren 2. Das Appli­zie­ren der elek­tri­schen Rei­ze erfolgt in der Regel über mehr­mals wie­der­ver­wend­ba­re Hydrogel-Klebeelektroden.

Anzei­ge

Neben der rei­nen Erzeu­gung der Bewe­gun­gen stellt die FES dem zen­tra­len Ner­ven­sys­tem inten­si­ve Bewe­gungs­rei­ze zur Ver­fü­gung. Dies kann das Wie­der­erler­nen der ver­lo­ren­ge­gan­ge­nen moto­ri­schen Funk­tio­nen beschleunigen.

Erfolgt die Sti­mu­la­ti­on syn­chron zur Bewe­gungs­in­ten­ti­on des Pati­en­ten, so kann die Beein­flus­sung der neu­ro­na­len Plas­ti­zi­tät des Gehirns auf­grund der pro­prio­zep­ti­ven und soma­to­sen­si­blen Rück­mel­dung der künst­lich ver­stärk­ten Mus­kel­an­span­nung sogar noch ver­stärkt wer­den 3. Die­ses Prin­zip macht sich die EMG-gesteu­er­te funk­tio­nel­le Elek­tro­sti­mu­la­ti­on zunut­ze (für eine Über­sicht sie­he 4). Die schwa­chen wil­lent­li­chen Mus­kel­kon­trak­tio­nen wer­den über eine Elek­tro­m­yo­gra­phie (EMG)-Messung erfasst. Hier­für kön­nen die glei­chen Elek­tro­den wie für die Sti­mu­la­ti­on ver­wen­det wer­den, da nur wech­sel­wei­se und nicht gleich­zei­tig gemes­sen und sti­mu­liert wird. Über­schrei­tet die Mus­kel­ei­gen­ak­ti­vi­tät ein zuvor defi­nier­tes Maß, so wird ein fest vor­ge­ge­be­nes Sti­mu­la­ti­ons­pro­fil ange­wandt. Wäh­rend der akti­vier­ten Sti­mu­la­ti­on erfolgt kei­ne wei­te­re Über­wa­chung des Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekts oder der Patientenaktivität.

Durch die wesent­lich auf­wän­di­ge­re Mes­sung und Aus­wer­tung des EMG auch zwi­schen den Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­sen las­sen sich viel­fäl­ti­ge Aus­sa­gen über die momen­ta­ne Mus­kel­ak­ti­vie­rung tref­fen. So kön­nen die indi­vi­du­el­len Antei­le der Mus­kel­kon­trak­ti­on, die durch Elek­tro­sti­mu­la­ti­on und durch natür­li­che Vor­gän­ge her­vor­ge­ru­fen wur­den, bestimmt wer­den. Zu letz­te­ren zäh­len die wil­lent­li­che Akti­vie­rung des Mus­kels sowie Mus­kel­ak­ti­vi­tä­ten, die auf Reflexe/Spastiken zurück­zu­füh­ren sind.

Die­ser Bei­trag beschreibt zunächst die tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen zur Erfas­sung des EMG wäh­rend der Sti­mu­la­ti­on sowie die not­wen­di­ge Signal­ver­ar­bei­tung. Anschlie­ßend wer­den drei mög­li­che EMG-Anwen­dun­gen in der FES vorgestellt:

  1. Die Unter­stüt­zung schwa­cher wil­lent­li­cher Mus­kel­kon­trak­tio­nen durch eine EMG-gere­gel­te Stimulation,
  2. die Ver­bes­se­rung der Regu­lie­rung des Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekts (Rege­lung des Betrags der durch FES rekru­tier­ten moto­ri­schen Ein­hei­ten λ) und
  3. die Beob­ach­tung natür­li­cher Muskelaktivitäten/der Motor­ko­or­di­na­ti­on wäh­rend der FES am Bei­spiel des FES-Fahrradfahrens.

Erfas­sung und Aus­wer­tung des Elektromyogramms

Eine EMG-Mes­sung und Aus­wer­tung wäh­rend akti­ver Elek­tro­sti­mu­la­ti­on mit­hil­fe von Ober­flä­chen­elek­tro­den ist nicht tri­vi­al 5. So wer­den die EMG-Signa­le und die Mess­tech­nik durch die Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­se stark gestört. Da EMG-Signa­le in der Ampli­tu­de sehr klein sind (im Bereich von eini­gen hun­dert μV), bil­det die Ver­stär­kung durch Instru­men­ten­ver­stär­ker eine Mög­lich­keit zur Erfas­sung. Durch die Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­se kann der Ver­stär­ker jedoch in die Sät­ti­gung gehen (für eine rela­tiv zur Sti­mu­la­ti­ons­pe­ri­ode lan­ge Zeit funk­ti­ons­un­fä­hig sein) oder sogar zer­stört wer­den. Aus die­sem Grund müs­sen EMG-Ver­stär­ker für den Ein­satz bei der FES spe­zi­el­le Vor­aus­set­zun­gen erfül­len. So ist es üblich, den Ver­stär­ker auto­ma­tisch wäh­rend des Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­ses durch geeig­ne­te Schal­tungs­tech­nik kurz­zei­tig von den Mess­elek­tro­den zu tren­nen 6 7 8 9 10 oder es wer­den Ver­stär­ker mit Über­span­nungs­schutz ver­wen­det, die durch spe­zi­el­le Maß­nah­men nur sehr kurz in der Sät­ti­gung ver­wei­len 11 12 13.

In den letz­ten Jah­ren haben sich, alter­na­tiv zu den klas­si­schen EMG-Ver­stär­kern mit hoher Ver­stär­kung, Mess­sys­te­me mit hoch­auf­lö­sen­dem AD-Wand­ler (21…24 Bit) in der EMG-Mes­sung durch­ge­setzt. Anstatt zu ver­stär­ken, wird in die Signa­le qua­si digi­tal hin­ein gezoomt. EMG-Mess­sys­te­me mit die­ser Tech­no­lo­gie sind weni­ger anfäl­lig in Bezug auf Sti­mu­la­ti­ons­ar­te­fak­te, wenn sie mit einem ent­spre­chen­den Über­span­nungs­schutz ver­se­hen sind.

Nach der Appli­ka­ti­on jedes Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­ses kann (auch bei bipha­si­scher Impuls­form) zwi­schen den bei­den Mess­elek­tro­den eine asym­me­tri­sche Ladung ver­blei­ben. Der dadurch her­vor­ge­ru­fe­ne Ent­la­dungs­pro­zess erzeugt einen wei­te­ren Mess­ar­te­fakt. Die­ser ver­grö­ßert sich, wenn das EMG direkt von den Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den gemes­sen wird, da die­se wesent­lich grö­ßer sind als nor­ma­le EMG-Elek­tro­den. Aus die­sem Grund ver­wen­den die meis­ten in der For­schung ein­ge­setz­ten Sys­te­me bis­her ver­schie­de­ne Elek­tro­den für Sti­mu­la­ti­on und EMG-Messung.

Das eigent­li­che EMG-Signal setzt sich aus zwei Antei­len zusam­men (sie­he Abb. 1 und die Arbei­ten von Mer­let­ti et al. 14 15):

Der ers­te Anteil steht in Bezug zu der Mus­kel­kon­trak­ti­on, die durch die Sti­mu­la­ti­on her­vor­ge­ru­fen wird. Die syn­chro­ne Akti­vie­rung vie­ler moto­ri­scher Ein­hei­ten durch einen Sti­mu­la­ti­ons­im­puls führt im EMG zur soge­nann­ten M‑Welle (Über­la­ge­rung vie­ler Akti­ons­po­ten­zia­le). Die Ampli­tu­de die­ser Wel­le liegt dabei im Bereich von eini­gen mV. Die M‑Welle ist das Ergeb­nis der direk­ten Rei­zung des moto­ri­schen Nervs und star­tet 3 bis 6 ms nach dem Sti­mu­lus. Nach etwa 20 ms ist die M‑Welle nahe­zu abgeklungen.

Die Ampli­tu­de (λ) der M‑Welle kann als Maß für die Anzahl der durch Sti­mu­la­ti­on rekru­tier­ten moto­ri­schen Ein­hei­ten ver­wen­det wer­den. Das Fre­quenz­spek­trum der M‑Welle sowie die Dau­er des Zeit­in­ter­valls zwi­schen Sti­mu­lus und Maxi­mum der M‑Welle geben fer­ner Auf­schluss über den Grad der mus­ku­lä­ren Ermü­dung 16.

Der zwei­te Anteil des EMG stammt von Mus­kel­ak­ti­vi­tä­ten, die der Mensch ohne die Elek­tro­sti­mu­la­ti­on erzeugt hat. Sol­che Kon­trak­tio­nen kön­nen wil­lent­lich oder unwil­lent­lich durch Refle­xe, Spas­ti­ken oder einen erhöh­ten Mus­kel­to­nus gene­riert wer­den. Man spricht bei die­sem zwei­ten EMG-Anteil oft­mals von Will­kür-EMG, obwohl dies offen­sicht­lich nicht ganz kor­rekt ist. Die kor­rek­te­re Bezeich­nung wäre „nicht durch FES-indu­zier­tes EMG“. Da bei der phy­sio­lo­gi­schen Mus­kel­ak­ti­vie­rung die moto­ri­schen Ein­hei­ten asyn­chron akti­viert wer­den, fin­det kei­ne syn­chro­ne Über­la­ge­rung der Akti­ons­po­ten­zia­le statt. Das resul­tie­ren­de Will­kür-EMG ist daher ein sto­chas­ti­sches Signal, des­sen Rau­scham­pli­tu­de im μV-Bereich nahe­zu pro­por­tio­nal zur Kon­trak­ti­ons­stär­ke ist (unter iso­me­tri­schen Bedin­gun­gen, das heißt, bei kon­stan­ter Mus­kel­län­ge). Das Will­kür-EMG hat im Fre­quenz­spek­trum sei­ne Haupt­an­tei­le im Fre­quenz­band von 30 bis 300 Hz und eine Spit­ze bei ca. 120 Hz 17.

In der Regel ist man dar­an inter­es­siert, den Will­kür-EMG-Anteil aus dem gemes­se­nen EMG-Signal zu extra­hie­ren. Unge­fähr 20 bis 30 ms nach einem Sti­mu­la­ti­ons­im­puls ver­blei­ben von der M‑Welle und vom Ent­la­dungs­vor­gang nur noch nie­der­fre­quen­te Antei­le im EMG-Signal. Die­se Arte­fak­te (bezüg­lich des Will­kür-EMG) las­sen sich durch die Anwen­dung eines Hoch­pass­fil­ters mit einer Grenz­fre­quenz von 100 bis 330 Hz erfolg­reich eli­mi­nie­ren 18 19 20 21 22. Durch die Anwen­dung eines sol­chen Fil­ters gehen jedoch auch die nie­der­fre­quen­ten Antei­le im Will­kür-EMG ver­lo­ren. In dem resul­tie­ren­den Signal wer­den Peri­oden mit Arte­fak­ten und Fil­ter­tran­si­en­ten zu Null gesetzt (blan­ked). Die Blan­king-Peri­ode star­tet übli­cher­wei­se kurz vor Beginn des Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­ses und endet 20 bis 30 ms nach dem Sti­mu­la­ti­ons­im­puls. Bei einer Sti­mu­la­ti­ons­pe­ri­ode von 50 ms (Fre­quenz: 20 Hz) erhält man somit 20 bis 30 ms ver­wert­ba­res Will­kür-EMG. Das ent­spre­chen­de EMG-Signal kann anschlie­ßend klas­sisch wei­ter­ver­ar­bei­tet wer­den, indem man eine Gleich­rich­tung und Inte­gra­ti­on (rea­li­siert als Tief­pass-Fil­ter) anwendet.

Ist das EMG-Signal zwi­schen den Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­sen Arte­fakt-frei (kein Ent­la­dungs­vor­gang und kei­ne Ein­schwing­vor­gän­ge des Ver­stär­kers oder der Fil­ter), so kann die M‑Welle aus dem aktu­el­len EMG-Signal und den EMG-Auf­zeich­nun­gen der vor­he­ri­gen Sti­mu­la­ti­ons­pe­ri­oden geschätzt wer­den 23 24 25 26 27. Dies erfolgt unter der Annah­me, dass M‑Welle und Will­kür-EMG nicht mit­ein­an­der kor­re­liert sind. Fer­ner wird vor­aus­ge­setzt, dass sich die Form der M‑Welle über bis zu 15 Peri­oden nicht stark ändert. Ska­lie­run­gen der Ampli­tu­de der M‑Welle in Abhän­gig­keit von der Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät sind jedoch zuläs­sig. Tat­säch­lich ist die Inva­ri­anz der M‑Wellenform für nahe­zu iso­me­tri­sche Mus­kel­kon­trak­tio­nen gut erfüllt 28.

Eine Schät­zung des Will­kür-EMG kann man alter­na­tiv zum gera­de vor­ge­stell­ten Ansatz nun auch ermit­teln, indem man vom gemes­se­nen EMG-Signal die geschätz­te M‑Welle sub­tra­hiert. Ein Vor­teil die­ses Fil­ter­an­sat­zes gegen­über dem vor­he­ri­gen Hoch­pass-Fil­ter ist, dass das vol­le Fre­quenz­spek­trum des Will­kür-EMG erhal­ten bleibt und dass über einen grö­ße­ren Zeit­raum zwi­schen den Sti­mu­la­ti­ons­im­pul­sen das Will­kür-EMG aus­ge­wer­tet wer­den kann. Dies lie­fert ein poten­zi­ell rausch­är­me­res Ergeb­nis der EMG-Auswertung.

Die Erfas­sung von M‑Welle und Will­kür-EMG ist der­zeit nur bei einer EMG-Mes­sung über sepa­ra­te EMG-Elek­tro­den mög­lich. Bei der direk­ten Mes­sung über die Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den sind Sti­mu­la­ti­ons­ar­te­fak­te und Ent­la­dungs­vor­gän­ge so stark, dass nur eine Erfas­sung des Will­kür-EMGs mit­tels einer Hoch­pass­fil­te­rung durch­führ­bar ist.

Ver­stär­kung schwa­cher Bewegungsintentionen

Eine Erwei­te­rung der EMG-gesteu­er­ten FES stellt die EMG-pro­por­tio­na­le Sti­mu­la­ti­on dar 29 30 31 32 33 34 35 36. Hier erfolgt eine kon­ti­nu­ier­li­che Detek­ti­on der Bewe­gungs­in­ten­tio­nen auch wäh­rend der Sti­mu­la­ti­on. Die schwa­chen wil­lent­li­chen Mus­kel­ak­ti­vi­tä­ten wer­den durch die Elek­tro­sti­mu­la­ti­on ver­stärkt, indem die Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät pro­por­tio­nal zum geglät­te­ten Will­kür-EMG gewählt wird (Abb. 2, Vari­an­te A). Der durch die EMG-basier­te Sti­mu­la­ti­on geschlos­se­ne Regel­kreis mit dem Men­schen als Reg­ler weist bei eini­gen weni­gen Pati­en­ten Schwin­gun­gen auf. Ursa­chen dafür kön­nen unter ande­rem die Zeit­ver­zö­ge­rung durch die Fil­te­rung oder die Schwie­rig­keit des Pati­en­ten bei der Erzeu­gung einer gleich­mä­ßi­gen Mus­kel­kon­trak­ti­on sein.

Kann ein Pati­ent kei­ne genü­gend gleich­mä­ßi­ge wil­lent­li­che Kon­trak­ti­on gene­rie­ren, so bie­tet sich ein Sti­mu­la­ti­ons­ver­fah­ren an, wel­ches die Elek­tro­sti­mu­la­ti­on in Abhän­gig­keit vom Will­kür-EMG über eine Hys­te­re­se-Kenn­li­nie akti­viert und deak­ti­viert (Abb. 2 (Vari­an­te B) 37 38. Sobald eine obe­re Schwel­le durch das Will­kür-EMG über­schrit­ten wird, wird die Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät durch Inte­gra­ti­on mit dem Anstieg K erhöht, bis ein vor­ge­ge­be­ner Maxi­mal­wert erreicht wird. Die­ser Wert wird solan­ge gehal­ten, bis der Pati­ent sei­nen Mus­kel ent­spannt und die Ampli­tu­de des Will­kür-EMG unter eine unte­re Schwel­le fällt. Infol­ge des­sen ver­rin­gert sich die Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät mit dem Anstieg ‑K und wird dann deaktiviert.

Die bei­den zuvor beschrie­be­nen Ansät­ze haben den Nach­teil, dass die maxi­ma­le Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät zu Beginn fest­ge­legt wird und bei Stö­run­gen (z. B. Spas­tik) oder Ermü­dung even­tu­ell nicht mehr aus­rei­chend ist, um die gewünsch­te Bewe­gung genü­gend zu unter­stüt­zen. Um die­ses Pro­blem zu lösen, kann man, wie in Abbil­dung 2 (Vari­an­te C) dar­ge­stellt, das Will­kür-EMG in einen Refe­renz­win­kel für das Gelenk trans­for­mie­ren und die­sen dann durch eine klas­si­sche Rege­lung mit Erfas­sung des Ist-Win­kels rea­li­sie­ren 39.

Regu­lie­rung des Stimulationseffekts

In der Regel wird die durch die Sti­mu­la­ti­on gene­rier­te Mus­kel­kon­trak­ti­on durch Ver­än­de­rung der Impuls­la­dung modu­liert. Die­se lässt sich über die Dau­er und Ampli­tu­de der appli­zier­ten Impul­se ein­stel­len. Der Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekt, in die­sem Fall die Anzahl der durch Elek­tro­sti­mu­la­ti­on rekru­tier­ten moto­ri­schen Ein­hei­ten, ist jedoch schwer vor­her­seh­bar. Die Rekru­tie­rungs­kenn­li­nie der Mus­keln besitzt eine Schwel­le sowie Sät­ti­gung, deren Bestim­mung am Pati­en­ten zeit­auf­wän­dig ist. Die Kenn­li­nie vari­iert von Tag zu Tag, auch durch gering­fü­gig ver­schie­de­ne Plat­zie­rung von Elek­tro­den, und weist zeit­va­ri­an­tes Ver­hal­ten, u. a. auf­grund von Mus­kel­er­mü­dung, auf.

Um den Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekt bes­ser vor­her­sag­bar zu gestal­ten, bie­tet sich eine Online-Erfas­sung des Rekru­tie­rungs­zu­stands λ und des­sen Feed­back-Rege­lung an 40. Nach jedem Sti­mu­lus lässt sich λ direkt bestim­men, sodass sich eine sehr schnel­le Regel­schlei­fe rea­li­sie­ren lässt, die einen vor­ge­ge­be­nen Refe­renz­wert für den Akti­vie­rungs­grad des Mus­kels einstellt.

Als neue Stell­grö­ße für die Sti­mu­la­ti­ons­stär­ke ver­wen­det man dann die Refe­renz des λ‑Regelkreises. Dies erleich­tert die FES-Anwen­dung wesent­lich, da der Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekt für eine vor­ge­ge­be­ne λ‑Referenz nicht mehr so stark von inne­ren Ein­flüs­sen wie z. B. der Ermü­dung abhängt. Der Ent­wurf von über­la­ger­ten Gelenk­win­kel­reg­lern ver­ein­facht sich dra­ma­tisch, da die Rekru­tie­rungs­kenn­li­ni­en durch die λ‑Regelung linea­ri­siert wer­den und nicht mehr bei der Modellierung/Identifikation berück­sich­tigt wer­den müssen.

Um den Vor­teil eines λ‑geregelten Mus­kels gegen­über einer nor­ma­len unge­re­gel­ten Sti­mu­la­ti­on zu demons­trie­ren, wur­de bei­spiel­haft die Sti­mu­la­ti­on des Fuß­he­bers M. tibia­lis ante­rior betrach­tet. Die­se spielt bei der Kom­pen­sa­ti­on einer Fuß­he­be­schwä­che mit­tels Pero­ne­us­sti­mu­la­to­ren bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten eine wesent­li­che Rol­le. Bei einer gesun­den Test­per­son, die mit frei hän­gen­dem Bein in einem Roll­stuhl saß, wur­de 40 Minu­ten lang abwech­selnd in einer simu­lier­te Schwung­pha­se der M. tibia­lis ante­rior direkt (unge­re­gelt) und λ‑geregelt sti­mu­liert. Die Inten­si­tä­ten (Ladung und λ‑Referenz) bei­der Vari­an­ten wur­den anfäng­lich so gewählt, dass eine Fuß­he­bung um 25° erzielt wur­de. Abbil­dung 3 zeigt das Ergeb­nis die­ses Tests. Bei den λ‑geregelten Sti­mu­la­ti­ons­in­ter­val­len kommt es im Lau­fe der Zeit zu einem deut­lich gerin­ge­ren Abfall der Fuß­he­bung. Die Rege­lung kom­pen­siert intern die auf­tre­ten­de Mus­kel­er­mü­dung durch eine Anpas­sung (Erhö­hung) der wirk­li­chen Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät (Ladung), bis eine zuvor fest­ge­leg­te Sicher­heits­be­gren­zung der Ladung erreicht wird. Eine detail­lier­te­re Dar­stel­lung der Ergeb­nis­se ist Klau­er et al. 41 zu ent­neh­men. Die Über­trag­bar­keit die­ser Ergeb­nis­se auf Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten wird der­zeit kli­nisch unter­sucht. Ers­te expe­ri­men­tel­le Ergeb­nis­se deu­ten auf einen gleich­falls posi­ti­ven Effekt der λ‑geregelten Sti­mu­la­ti­on hin.

Moni­to­ring der Mus­kel­ak­ti­vi­tä­ten und Motorkoordination

Im Rah­men des BMBF-geför­der­ten Ver­bund­pro­jek­tes Reh­a­Ro­bES wur­de an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Ber­lin ein mehr­ka­na­li­ges Sti­mu­la­ti­ons- und Mess­sys­tem ent­wi­ckelt, wel­ches erst­mals die ein­gangs beschrie­be­ne EMG-Mes­sung direkt über die Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den erlaubt 42 43. Dies redu­ziert den Auf­wand für eine EMG-Mes­sung signi­fi­kant, wobei im Ver­gleich zur klas­si­schen Elek­tro­m­yo­gra­phie bei Ver­wen­dung grö­ße­rer Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den die EMG-Akti­vi­tät ein­zel­ner klei­ne­rer Mus­keln nicht mehr selek­tiv beur­teilt wer­den kann. Um Mess­ar­te­fak­te durch Ent­la­dungs­vor­gän­ge zu ver­hin­dern, erfolgt nach jedem Sti­mu­la­ti­ons­im­puls eine erzwun­ge­ne Ent­la­dung durch geziel­ten kurz­zei­ti­gen Kurz­schluss der Elek­tro­den. Das Sti­mu­la­ti­ons- und Mess­sys­tem kann mit elek­tro­me­cha­ni­schen The­ra­pie­ge­rä­ten, wie zum Bei­spiel mit einem FES-Fahr­ra­d­er­go­me­ter, kom­bi­niert wer­den, sodass sich aus den kine­ma­ti­schen Daten des Bewe­gungs­trai­ners und dem EMG Rück­schlüs­se auf die Motor­ko­or­di­na­ti­on der Pati­en­ten zie­hen las­sen. Basie­rend dar­auf kön­nen neue The­ra­pie­ver­fah­ren rea­li­siert wer­den, wie z. B. die Kom­bi­na­ti­on von Elek­tro­sti­mu­la­ti­on und EMG-Biofeedback.

Mit der ent­wi­ckel­ten EMG-Mes­sung über die Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den kann das Sti­mu­la­ti­ons­sys­tem um eine Dia­gno­se-Kom­po­nen­te erwei­tert wer­den. Die mehr­ka­na­li­ge EMG-Mes­sung ermög­licht eine Über­wa­chung der The­ra­pie sowie eine Pro­to­kol­lie­rung des The­ra­pie­fort­schritts. Es ist jedoch auch eine Online-Adap­ti­on der The­ra­pie­pa­ra­me­ter oder ‑form mög­lich. Unter ande­rem kön­nen die rich­ti­gen Sti­mu­la­ti­ons­in­ter­val­le (z. B. Tret­kur­bel-Win­kel­be­rei­che eines Ergo­me­ters) für das pare­ti­sche Bein eines Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten aus den erfass­ten EMG-Akti­vi­tä­ten des gesun­den Bei­nes ermit­telt werden.

In Abbil­dung 4 sind die auf das gesun­de Bein nor­mier­ten Mus­kel­ak­ti­vi­tä­ten der Knie­stre­cker und ‑beu­ger einer Schlag­an­fall­pa­ti­en­tin beim iso­ki­ne­ti­schen FES-Fahr­rad­fah­ren dar­ge­stellt. Mit­hil­fe des Motors im Ergo­me­ter wur­de die Tritt­ge­schwin­dig­keit bei 40 U/min kon­stant gehal­ten. Der Pro­band wur­de auf­ge­for­dert, selbst­stän­dig mit bei­den Bei­nen mode­rat mit zu tre­ten. Die EMG-Mes­sun­gen wur­den bei einer mode­ra­ten, eher sen­so­risch wir­ken­den Sti­mu­la­ti­ons­in­ten­si­tät von 20 mA und 300 μs über die 9 x 7 cm gro­ßen Hydro­gel-Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den durch­ge­führt (dass eine EMG-Mes­sung mit dem Sys­tem auch bei einer moto­risch effek­ti­ven Sti­mu­la­ti­on mit höhe­ren Sti­mu­la­ti­ons­am­pli­tu­den mög­lich ist, wur­de bereits in Shala­by et al. 44 gezeigt). In Abbil­dung 4 sind die ent­spre­chen­den Sti­mu­la­ti­ons­be­rei­che als Bal­ken dar­ge­stellt. Inter­es­sant ist, dass bei einer „phy­sio­lo­gisch sinn­vol­len“ Sti­mu­la­ti­on (Abb. 4, links, Akti­vie­rung der Stre­cker kurz vor und wäh­rend der Exten­si­ons­pha­se sowie Beu­ger kurz vor und wäh­rend der Fle­xi­ons­pha­se des Bei­nes) nahe­zu kei­ne Mus­kel­ak­ti­vi­tät im pare­ti­schen Bein beob­ach­tet wer­den konn­te. Hin­ge­gen konn­te bei einer „unphy­sio­lo­gi­schen“ Sti­mu­la­ti­on, bei der z. B. die Knie­stre­cker wäh­rend der Bein­beu­gung gereizt wer­den, eine pha­sen­ge­rech­te Akti­vie­rung des pare­ti­schen Bein­stre­ckers bei die­ser Pati­en­tin detek­tiert wer­den (Abb. 4, rechts).

Die­ses illus­tra­ti­ve Bei­spiel macht deut­lich, wie wich­tig die Über­wa­chung und Aus­wer­tung des Sti­mu­la­ti­ons­ef­fek­tes wäh­rend der The­ra­pie sein kann. Eine auto­ma­ti­sche Anpas­sung der The­ra­pie, z. B. durch Ände­rung der Sti­mu­la­ti­ons­ver­läu­fe, ent­spre­chend der Beob­ach­tun­gen ist ein inter­es­san­tes zukünf­ti­ges Forschungsfeld.

Zusam­men­fas­sung

Die Erfas­sung und Aus­wer­tung des Elek­tro­m­yo­gramms zwi­schen den ein­zel­nen Impul­sen einer akti­ven funk­tio­nel­len Elek­tro­sti­mu­la­ti­on erlaubt die bes­se­re Berück­sich­ti­gung der Eigen­ak­ti­vi­tä­ten der Pati­en­ten sowie die Über­wa­chung und die Regu­lie­rung des Sti­mu­la­ti­ons­ef­fekts. All dies kann die FES-The­ra­pie wesent­lich ver­bes­sern. Exis­tie­ren­de und zukünf­ti­ge Sti­mu­la­ti­ons­sys­te­me soll­ten daher um ein ent­spre­chend aus­ge­leg­tes EMG-Modul erwei­tert wer­den. Für eine ein­fa­che Hand­ha­bung ohne zusätz­li­chen Auf­wand, ins­be­son­de­re bei mehr­ka­na­li­ger Anwen­dung der FES, ist nur die EMG-Mes­sung über die Sti­mu­la­ti­ons­elek­tro­den prak­ti­ka­bel. Lei­der ist es für die­se Form der EMG-Mes­sung bis­her noch nicht gelun­gen, die durch FES erzeug­te Mus­kel­ak­ti­vi­tät in Form der M‑Welle zu erfas­sen. Hier besteht drin­gen­der Forschungsbedarf.

Für die Autoren:
Dr. Tho­mas Schauer
Tech­ni­sche Uni­ver­si­tät Berlin
Fach­ge­biet Regelungssysteme,
Sekre­ta­ri­at EN 11
Ein­stein­ufer 17
10587 Ber­lin
schauer@control.tu-berlin.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper
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