Einleitung
Die Gonarthrose ist eine der häufigsten Erkrankungen der älteren Bevölkerung. Weltweit sind etwa 34 % der Frauen und 24 % der Männer ab 60 Jahren betroffen 1. Nach Daten des Statistischen Bundesamts stellt die Kniearthrose die Hauptdiagnose für die Indikation „Knietotalendoprothese“ (Knie- TEP) dar 2. 2015 gehörte die Implantation der Knie-TEP auf Rang 18 zu den 50 häufigsten Operationen in Krankenhäusern 3. Besonders ältere Patienten sind durch die Operation zur TEP-Implantation von verschiedenen erhöhten Risiken wie Komplikationen während der Narkose, Revisionsoperationen oder bakteriellen Infektionen der Knie-Endoprothese bis hin zur Sepsis und Herzinfarkten betroffen 456.
Von den arthrotischen Veränderungen ist häufiger das mediale als das laterale Gelenkkompartiment betroffen 7. Dies wird durch eine Achsfehlstellung begünstigt 8. Ein wichtiger Therapieansatz ist deshalb die Verlagerung der Belastung auf das intakte Kompartiment 910. Dabei hat sich die Verwendung von entlastenden knieübergreifenden Orthesen als sichere und kostengünstige Behandlungsmöglichkeit zur Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung etabliert. Sie kann eine chirurgische Intervention sogar verzögern 11. Sowohl klinische als auch biomechanische Studien konnten die Wirksamkeit von Knieorthesen belegen, allerdings lagen dabei nur selten randomisierte vergleichende Studiendesigns zugrunde. Au- ßerdem muss der längerfristige Nutzen valgisierender/varisierender Orthesen durch weitere klinische Studien belegt werden. Der Nutzennachweis ist dabei auch von der Akzeptanz in Bezug auf das Tragen der Orthese oder vom Fortschreiten der Arthrose abhängig 1213. Ziel dieser prospektiven randomisierten Studie im Parallelgruppendesign zur Anwendung der Knieorthese „Genu OA“ war demnach die Erfassung folgender Aspekte:
a) des medizinischen Nutzens im Sinne der Wirkung auf Schmerz, Gehleistung und Beweglichkeit sowie dieser Ergebnisse aus Patientensicht,
b) der Gebrauchstauglichkeit der Orthese in der ambulanten Versorgung und
c) der Handhabung und Akzeptanz durch Patienten mit Gonarthrose.
Methoden
Studiendesign
Die Studie entspricht einer sogenannten Post-Market Clinical Follow-up Study gemäß der Europäischen Leitlinie MEDDEV 2.12/2 rev.2 [2012–01]. In dieser randomisierten, prospektiven, interventionellen, monozentrischen Studie in zweiarmigem Parallelgruppendesign wurde eine Gruppe von Patienten mit Gonarthrose über einen Zeitraum von zwei Monaten mit der Knieorthese „Genu OA“ versorgt und mit einer Kontrollgruppe verglichen, der eine Standardintervention zukam.
Patienten
Für die Studie wurden Patienten eines Orthopädischen Praxiszentrums rekrutiert. Die Zuordnung zu einer der beiden Gruppen erfolgte auf der Basis einer vorab erstellten Randomisierungsliste. Eingeschlossen wurden Patienten, bei denen eine mediale oder laterale Femurtibialarthrose 2. oder 3. Grades nach der radiologischen Klassifikation von Kellgren und Lawrence vorlag. Zu den Ausschlusskriterien gehörte eine Gehunfähigkeit oder Rollstuhlabhängigkeit sowie Erkrankungen, die eine Studienteilnahme über einen Zeitraum von zwei Monaten nicht zuließen. Weitere Ausschlusskriterien waren eine begleitende ipsilaterale femuropatellare Arthrose 3. oder 4. Grades, ipsilaterale Cox arthrosen 2. bis 4. Grades jeweils nach der radiologischen Klassifikation von Kellgren und Lawrence, ein Body- Mass-Index über 30, Kortisoninjektionen im Zeitraum von weniger als vier Wochen vor Studienbeginn und eine fehlende Verständigungsmöglichkeit in deutscher Sprache.
Intervention
In der Studie wurde die Versorgung von Patienten mit der Knieorthese „Genu OA“ (Abb. 1) der Firma Thuasne mit der Standardintervention über einen Beobachtungszeitraum von zwei Monaten verglichen. Die Orthese besteht aus einem textilen, elastischen Trägermaterial. Auf einer Seite der Orthese ist eine herausnehmbare Gelenkschiene platziert, welche die physiologische Gelenkführung unterstützt. Extensions- und Flexionsbegrenzung können über Anschläge eingestellt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite setzt das Entlastungssystem an, das aus unelastischen Zugelementen besteht. Das Zugsystem beruht auf einem 3‑Punkt-Entlastungssystem und sorgt für die notwendige Entlastung des betroffenen Kniekompartiments. Es besteht aus zwei sich kreuzenden Gurten. Um das Öffnen und Schließen der Orthese für den Patienten zu erleichtern, sind die Gurte an der Vorderseite mit einem automatisch sich schließenden Magnetverschluss versehen. Aufgrund der Bauart kann die Orthese sowohl medial als auch lateral entlasten.
Alle Patienten der Orthesengruppe wurden in der Handhabung der Orthese geschult und über die Gefahr einer Durchblutungsstörung und einer Schwellungsneigung des Unterschenkels bei zu fest angelegten Gurten aufgeklärt. Je eine Gruppe mit der Orthese versorgter Patienten und eine Gruppe ohne Orthese wurden über einen vorab definierten Zeitraum von zwei Monaten beobachtet. Die bis dahin durchgeführte Standardtherapie (Analgetika oral und lokal, Krankengymnastik, Pufferabsatz, Schuhranderhöhung oder Verwendung eines Gehstocks) wurde beibehalten. Diese beiden Gruppen wurden dann im Hinblick auf vorher festgelegte Parameter miteinander verglichen.
Parameter
Sämtliche Ergebnisparameter der Studie wurden a priori festgelegt. Hauptparameter war die Ausweitung der freien Gehstrecke bis zur Schmerzverstärkung nach zweimonatiger Verwendung der Knieorthese. Folgende sekundäre Parameter wurden wie folgt erfasst:
- Der Lequesne-Index diente zur Erfassung der Veränderungen in den Bereichen Schmerz, Gehleistung und körperliche Funktionen als sinnvolle Ergänzung der klinischen Befunde. Er ermöglicht die Messung des individuellen Gesundheitszustandes der Patienten sowie die Reflexion der Ergebnisse aus Sicht des Patienten 14.
- Schmerzen bei Belastung wurden nach einem dreißigminütigen Spaziergang auf der Numerischen Rating-Skala (NRS) gemessen.
- Schmerzen in Ruhe wurden ebenfalls anhand der NRS erfasst.
- Der Analgetikagebrauch wurde am Ende des Studienzeitraumes in einen Bezug zur Ausgangsmenge bei Studienbeginn gesetzt. Ein Absetzen der Analgetika entsprach einer Reduktion um 100 %. Die Medikation selbst wurde nicht verändert. Patienten, die zu Studienbeginn keine Analgetika einnahmen, konnten nicht zur Reduktion beitragen.
- Die subjektive Beweglichkeit wurde qualitativ erfasst, indem Patienten sie als „deutlich verbessert“, „verbessert“, „unverändert“, „verschlechtert“ oder „deutlich verschlechtert“ bewerteten.
- Die objektive Besserung der Beweglichkeit wurde in Grad gemessen.
- Druckgefühl und unangenehmes Schwitzen in der Orthese wurden ebenfalls qualitativ über die Angabe der Patienten erfasst. Hierzu wurde angegeben, ob das Tragen der Orthese als Belastung und das Druck gefühl als „störend“, „unangenehm“, „schmerzhaft“ oder „tolerierbar“ empfunden wurde, zudem, ob bleibende Druckstellen und ein unangenehmes Schwitzen auftraten.
- Die Handhabung der Orthese wurde qualitativ gemessen, indem sowohl die Patienten als auch das medizinische Fachpersonal zur problemlosen Anwendung (Anpassung, Einstellung, Nachpassung) und Pflege sowie zur Verständlichkeit der Gebrauchsinformationen befragt wurden. Ebenso wurde der Tragekomfort über die qualitative Befragung zu folgenden Aspekten ausgewertet: Anwesenheit von Druckstellen, individuelle Einstellbarkeit, Einschnürungen, Hautirritationen, unangenehmes Schwitzen und Wärmestau.
Statistik
Bei einer statistischen Power von 80 % wurde für die Studie ein Stichprobenumfang von 16 Patienten pro Gruppe als notwendig berechnet, um in einem Zweistichproben-t-Test eine Veränderung in der Gehstrecke von 1,0 (± 0,8) zu 0,3 (± 0,4) auf dem 5-%-Signifikanzniveau nachweisen zu können. Bei der Berechnung der Fallzahl wurde eine Dropout-Rate von 5 % berücksichtigt. Die Randomisierungsliste wurde mit dem Programm „randomizR“ erstellt. Zur Deskription der Daten wurden Mittelwerte und Standardabweichungen, absolute Häufigkeiten und prozentuale Angaben verwendet. Zur Berechnung der Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich „Schmerzen in Ruhe“ und „objektive Beweglichkeit“ wurden t‑Tests durchgeführt. Die Gruppen unterschiede im Analgetikaverbrauch wurden mit F‑Tests, die subjektive Beweglichkeit anhand von Cochran- Armitage-Tests untersucht. Den Daten zur Veränderung des Lequesne-Index, der Gehstrecke und der Schmerzen bei Belastung wurde ein Linear-Mixed- Effect-Modell mit der Einflussvaria blen „Behandlung“ und der Kovariablen „Vorwert“ angepasst. Die statistischen Auswertungen wurden mit dem Programm „SAS 9.4“ (SAS Institute Inc., Cary, NC, USA; Windows 10, 64 Bit) durchgeführt.
Ergebnisse
Der Beobachtungszeitraum erstreckte sich über zwei Monate zwischen dem 12. Dezember 2016 und dem 28. Februar 2017. Dazu wurden insgesamt 32 geeignete Patienten auf die beiden Gruppen randomisiert: 15 Patienten wurden der Kontroll- und 17 der Orthesengruppe zugeteilt (siehe das Flowchart in Abb. 2). Es konnten alle 32 Patienten am Ende des Studienzeitraums nachuntersucht werden.
Insgesamt lagen zu Studienbeginn keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Charakteristika zwischen den beiden Gruppen vor (Tab. 1). Eine Gonarthrose dritten Grades wiesen 9 Patienten der Orthesen- (52,9 %) und 9 Patienten der Vergleichsgruppe (60 %) auf. Bei 47,1 % (8 Patienten) der Orthesen- und 40,0 % (6 Patienten) der Kontrollgruppe lag eine Gonarthrose zweiten Grades vor. Die freie Geh strecke bis zur Schmerzverstärkung lag zu Studienbeginn in der Orthesengruppe bei 2,71 (± 1,39) km und in der Kontrollgruppe bei 2,87 (± 1,55) km. Die durchschnittliche Schmerzstärke am Ende eines 30-minütigen Spaziergangs wurde in der Orthesengruppe zu Beginn der Studie mit 4,71 (± 0,99) auf der NRS angegeben; in der Kontrollgruppe lag dieser Wert bei 4,20 (± 0,56). Zu Studienbeginn wurde der durchschnittliche Lequesne-Index in der Orthesengruppe mit 7,62 (± 3,24) und in der Vergleichsgruppe mit 8,43 (± 3,58) angegeben. 13 Patienten der Orthesengruppe nahmen zu Beginn der Studie Analgetika ein; in der Kontrollgruppe waren es 11 Patienten. Die objektive Beweglichkeit lag zwischen 104 Grad in der Kontroll- und 105 Grad in der Orthesengruppe.
Tabelle 2 enthält die primären und sekundären Ergebnisse der Studie. Die Veränderung der freien Gehstrecke bis zur Schmerzverstärkung war in der Orthesengruppe gegenüber der Kontrollgruppe signifikant erhöht (F = 20,23, ndf 1, ddf 29, p = 0,0001). Lag dieser Gewinn an Gehstrecke in der Orthesengruppe nach der Behandlung bei 1,29 km, konnte in der Kontrollgruppe kaum ein Unterschied verzeichnet werden. Abbildung 3 zeigt die Veränderung der freien Gehstrecke im Verlauf über die zwei Monate der Behandlung.
Die durchschnittliche Schmerzstärke am Ende eines maximal 30-minütigen Spazierganges verringerte sich in der Orthesengruppe um 1,06 (± 0,66) Punkte auf der Numerischen Rating-Skala; in der Kontrollgruppe veränderte sich dieser Wert im Studienverlauf kaum (-0,1 ± 0,35). Die Veränderung der Schmerzen bei Belastung war in der Orthesengruppe gegenüber der Kontrollgruppe signifikant erhöht (F = 22,13, ndf 1, ddf 29, p < 0,0001). Abbildung 4 zeigt diese Veränderung in den Gruppen über den Zeitraum von zwei Monaten.
Hinsichtlich des Ruheschmerzes wurden keine Veränderungen über den Studienverlauf hinweg beobachtet. Lediglich ein Studienteilnehmer berichtete nach zwei Monaten über einen um eine Einheit geringeren Wert auf der NRS. Der Ruheschmerz war lediglich in der Orthesengruppe von 1,59 (± 1,00) auf 1,53 (± 0,94) gesunken und veränderte sich in der Kontrollgruppe nicht. Die Gruppen unterschieden sich am Ende der zweimonatigen Behandlungsdauer demnach nicht in den durchschnittlichen Werten des Ruheschmerzes voneinander (t = 1,42, df 29,64, p = 0,1654).
Der Lequesne-Index fiel in der Kontrollgruppe um durchschnittliche 0,17 (± 0,36) auf 8,27 (± 3,48), wohingegen er sich in der Orthesengruppe um einen Wert von 0,68 (± 0,71) auf 6,94 (± 2,86) verringerte. Die Veränderung des Lequesne-Index war in der Orthesengruppe gegenüber der Kontrollgruppe signifikant erhöht (F = 10,08, ndf 1, ddf 29, p = 0,0035). Abbildung 5 zeigt diese Veränderung über den Studienzeitraum von zwei Monaten.
In der Orthesengruppe wurde eine Reduktion des Analgetikaverbrauchs um 17,3 % beobachtet, während er sich in der Vergleichsgruppe um 3,1 % verringerte. Dieser Unterschied war jedoch nicht statistisch signifikant (F = 3,40, ndf 1, ddf 22, p = 0,0785).
Trotz Tragens der Orthese beurteilten 35 % der Patienten der Orthesengruppe die Beweglichkeit als „verbessert“ und 65 % der Patienten als „unverändert“. In der Vergleichsgruppe bewerteten zwei Patienten die Beweglichkeit als „verbessert“, die restlichen Patienten als „unverändert“. Die Änderung der subjektiven Beweglichkeit unterschied sich nicht signifikant zwischen den Behandlungsgruppen (Cochran- Armitage-Test, p = 0,1522).
Die objektive Beweglichkeit verbesserte sich in der Orthesengruppe um 2,35 (± 4,37) Grad und in der Vergleichsgruppe um 0,67 (± 2,58) Grad. Dabei gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen (F = 1,61, ndf 1, ddf 21, p = 0,2142).
Die Patienten mit Orthesenversorgung gaben an, dass sie das Tragen der Orthese als Belastung wahrgenommen hatten: Der Druck der Korrektur gurte wurde als „störend“ und „unangenehm“ empfunden, nicht jedoch als „schmerzhaft“ oder „nicht tolerierbar“. Anhaltende Druckstellen traten nie auf, ein unangenehmes Schwitzen ebenfalls nicht. Fünf Patienten wurden außerhalb der geplanten Kontroll termine zur Nachjustierung der Orthese kurzfristig vorstellig.
Während der gesamten Anwendungs- und Beobachtungszeit traten keine unerwünschten Wirkungen auf, die möglicherweise mit der Orthesennutzung in Verbindung gestanden hätten. Bei fünf Patienten wurde die Metallschiene der Orthese wegen nicht ausreichender Entlastung des arthrotischen Kompartimentes nachgepasst. Alle mit der Orthese ausgestatteten Patienten kamen mit dem Gebrauch und der Pflege des Produktes zurecht.
Diskussion
In dieser prospektiven randomisierten vergleichenden Studie traten bei Patienten mit Gonarthrose durch das Tragen der Orthese „Genu OA“ signifikante Verlängerungen der freien Gehstrecke bis zur Schmerzverstärkung auf; ebenso waren die Beschwerden bei Belastung gegenüber der Standardbehandlung deutlich verringert. Die signifikante Reduktion des Lequesne-Index bestätigte den positiven Effekt auf Schmerz, Gehleistung und körperliche Funktionen in der Orthesengruppe auch aus Patientensicht. Die Handhabung erwies sich als einfach und der Tragekomfort als gut. Die Orthese entspricht damit den technischen und medizinischen Anforderungen an die Produktart „Knieorthesen zur Entlastung und Führung“ und eignet sich nach den Ergebnissen dieser Studie für die Anwendung bei Gon arthrose sowohl in der ambulanten Versorgung als auch zu Hause.
Die vorliegende Studie trägt zum Bedarf an klinischen Studien mit einem randomisierten vergleichenden Design für den Wirksamkeitsnachweis bei 15. Die Power der Studie war angemessen, um Unterschiede zwischen den Gruppen aufzudecken. Es konnten alle eingeschlossenen Patienten am Studienende nachuntersucht und ihre Ergebnisse analysiert werden. Zudem basierten die Selektionskriterien auf röntgenologischen Kriterien zur Klassifikation der Gonarthrose, wie sie in der klinischen Praxis Verwendung finden 16, was eine Übertragung der Studienergebnisse in die Praxis zulässt. Die Relevanz der Ergebnisse für die Versorgungspraxis wird durch die Erhebung der Patientensicht verstärkt. Hinsichtlich der Akzeptanz der Orthese und damit des Therapieerfolgs spielt sie eine wichtige Rolle. Insgesamt konnte keine Veränderung des Ruheschmerzes beobachtet werden, was durch die eher kurze Behandlungsperiode von zwei Monaten bedingt sein könnte. Die Ergebnisse geben Anlass für weitere qualitativ hochwertige klinische Studien zum längerfristigen Nutzen valgisierender/varisierender Orthesen.
Obwohl in der Kontrollgruppe keine Änderung des Therapieregiments stattfand, zeigte sich eine Besserung der Gehstrecke. Möglicherweise ist dafür ein sogenannter Response Bias verantwortlich. Verzerrungen dieser Art können auf die Studienteilnehmer, auf ein verändertes (Antwort-)Verhalten in einer Studiensituation, auf die Konstruktion der Fragen oder die Gestaltung des Fragebogens sowie auf den Interviewer („Interviewereffekt“) zurückgehen.
Anhand des Lequesne-Index konnte auch aus Patientensicht durch das Tragen der Orthese ein größerer positiver Effekt auf die Aspekte Schmerz, Gehleistung und körperliche Funktionen gegenüber der Standardbehandlung gezeigt werden. Der Lequesne-Index ermöglicht die Erfassung des individuellen Gesundheitszustandes und auch die Sicht des Patienten auf die Behandlungsergebnisse 17. Dieser Index ist international weit verbreitet und wird zur Ergebnismessung bei Kniegelenkserkrankungen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen 18. Da der Lequesne-Index zwar die Schmerzdauer, nicht jedoch die Schmerzstärke berücksichtigt und Gehstrecken nur bis zu einem Kilometer erfasst, wurde die Schmerzerfassung in dieser Studie mit dem Einsatz der Numerischen Rating-Skala ergänzt und die Messung der Gehstrecke separat vorgenommen.
Obwohl die Verbesserung der Beweglichkeit kein primäres Ziel der Orthesenversorgung war, schien die Zunahme der Mobilität zumindest subjektiv auch die Beweglichkeit zu verbessern. Durch die stufenweise Steigerung der Entlastung des arthrotischen Kompartimentes im Rahmen der Nachkontrollen lernten die Patienten den Zusammenhang zwischen Schmerzlinderung, der freien Gehstrecke bis zur Schmerzverstärkung und den Korrekturdrücken der Zuggurte einzuschätzen. Eine sorgfältige Aufklärung des Patienten und Nachjustierung diente als Grundvoraussetzung für eine gute Akzeptanz der Orthese.
Die Ergebnisse zur Handhabung ergaben, dass eine einfache, sinngemäße und sichere Anwendung der Orthese gewährleistet ist. Es trat bei keinem der Patienten ein unverträglicher Druck durch die Metallschiene auf, der nicht eigenständig sofort hätte korrigiert werden können. Es gab keine Einschnürungen in der Kniekehle oder Hautirritationen bei Kontakt der Orthese mit der Haut der Patienten.
Fazit
Das Tragen der Orthese „Genu OA“ hatte einen der Standardbehandlung signifikant überlegenen Effekt auf Schmerzen, Gehleistung und körperliche Funktionen und damit auf Aspekte, die sich letztlich positiv auf die Lebensqualität und Selbstständigkeit der Patienten auswirken. Bei guter Korrekturwirkung weist die Orthese einen hohen Tragekomfort auf, gewährleistet eine einfache Handhabung, ein schnelles Anziehen und kann unter der Kleidung sowie beim Sport getragen werden. Darüber hinaus ist eine schnelle individuelle Anpassung möglich. Die Orthese ist demnach zur eigenständigen Anwendung im häuslichen Bereich durch den vorgesehenen Anwenderkreis geeignet.
Die vorliegende randomisierte vergleichende Studie gibt Anlass für weitere qualitativ hochwertige klinische Studien über einen größeren Beobachtungszeitraum zum Nachweis des längerfristigen Nutzens valgisierender/varisierender Orthesen.
Für die Autoren:
Dr. med. Michael Benning
Friedrich-Wilhelm-Platz 5/6
52062 Aachen
m.benning@exinmo.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Benning M, Schneider-Nieskens R. Überlegenheit einer Knieentlastungsorthese in der Gonarthrose-Therapie — Eine prospektive randomisierte vergleichende Studie. Orthopädie Technik, 2017; 68 (8): 24–29
Merkmal | Orthesengruppe | Kontrollgruppe |
---|---|---|
Geschlecht weiblich (%) | 12 (70,6) | 10 (66,7) |
Alter, Mittelwert (±) | 69,53 (9,91) | 70,07 (12,26) |
BMI, Mittelwert (±) | 26,82 (1,83) | 26,48 (2,01) |
linkes Knie betroffen (%) | 7 (41,25) | 9 (66,0) |
lat. Gonarthrose III links (%) | 2 (11,8) | 0 |
lat. Gonarthrose III rechts (%) | 0 | 1 (6,7) |
lat. Gonarthrose II links (%) | 0 | 1 (6,7) |
lat. Gonarthrose II rechts (%) | 2 (11,8) | 2 (13,3) |
med. Gonarthrose III links (%) | 3 (17,6) | 7 (46,7) |
med. Gonarthrose III rechts (%) | 4 (23,5) | 1 (6,7) |
med. Gonarthrose II links (%) | 2 (11,8) | 1 (6,7) |
med. Gonarthrose II rechts (%) | 4 (23,5) | 2 (13,3) |
freie Gehstrecke bis zur Schmerz- verstärkung, Mittelwert (±) | 2,71 (1,39) | 2,87 (1,55) |
Schmerzen bei Belastung (30 min. Spaziergang, NRS), Mittelwert (±) | 4,71 (0,99) | 4,20 (0,56) |
Schmerzen in Ruhe (NRS), Mittelwert (±) | 1,59 (1,0) | 2,0 (0,93) |
Lequesne-Index, Mittelwert (±) | 7,62 (3,24) | 8,43 (3,58) |
Analgetikagebrauch, N (%) | 13 (76,47) | 11 (73,34) |
objektive Beweglichkeit, Grad (±) | 105,29 (11,25) | 104,0 (11,83) |
Ergebnis | Orthesengruppe | Kontrollgruppe |
---|---|---|
Veränderung der freien Gehstrecke bis zur Schmerzverstärkung, Mittelwert (±) | 1,29 (0,90)* | 0,20 (0,37) |
Veränderung der Schmerzen bei Belastung (30 min. Spaziergang, NRS), Mittelwert (±) | -1,06 (0,66)* | -0,13 (0,35) |
Veränderung der Schmerzen in Ruhe (NRS), Mittelwert (±) | -0,06 (0,24) | 0 (0) |
Veränderung des Lequesne-Index, Mittelwert (±) | -0,68 (0,71)* | -0,17 (0,36) |
Veränderung des Analgetika gebrauchs, Mittelwert (±) | -17,31 (23,68) | -3,09 (10,25) |
Verbesserung der subjektiven Beweglichkeit, N (%) | 6 (35,3) | 2 (13,3) |
Veränderung der objektiven Beweglichkeit, Grad (%) | 2,35 (4,37) | 0,67 (2,58) |
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