Triple‑M („Mer­bold-Mess-Metho­de“) — Eine alter­na­ti­ve Mög­lich­keit zur Bestim­mung des Ramuswinkels

D. Merbold
Anatomisch ramusumgreifende Schaftformen benötigen als Basis unter anderem eine genaue Bestimmung des Ramuswinkels. Nur so lassen sich moderne Schaftsysteme in tragbare Alltagsprothesen umsetzen. Da das Messen des Ramuswinkels aufgrund verschiedener Aspekte schwierig sein kann, befasst sich dieser Artikel mit einer alternativen Messmethode zur Ermittlung des Ramuswinkels.

Ein­lei­tung

Mit Ein­füh­rung der tuber- und ramus­um­grei­fen­den Schaft­tech­ni­ken wur­de zuneh­mend auf die ana­to­mi­schen Gege­ben­hei­ten bei der Her­stel­lung trans­fe­mo­ra­ler Pro­the­sen­schäf­te geach­tet. Nicht nur funk­tio­na­le Aspek­te wie Bewe­gungs­frei­heit, Kraft­über­tra­gung und Füh­rungs­ei­gen­schaf­ten, son­dern auch Vek­to­ren­ma­ße und mus­ku­lä­re Ver­span­nung sind wich­ti­ge Kri­te­ri­en für eine moder­ne Schaft­ge­stal­tung. Der Pro­the­sen­schaft muss sowohl in der Schwun­gals auch in der Stand­pha­se wich­ti­ge Kri­te­ri­en erfül­len, um ein beschwer­de­frei­es Gehen und Ste­hen zu gewähr­leis­ten. Aber auch Aspek­te wie Sit­zen und Rad­fah­ren sind nicht zu unter­schät­zen. Doch wel­ches Schaft­sys­tem gewährt in allen Situa­tio­nen die rich­ti­ge Unter­stüt­zung, und was sind unab­ding­ba­re Kri­te­ri­en dafür? Sicher­lich sind die­se Fra­gen in der Ver­gan­gen­heit auch Denk­an­stö­ße zur Ent­wick­lung von Pro­the­sen­schaft­for­men gewesen.

Anzei­ge

Bestim­mung des Ramuswinkels

Der Ramus dient in moder­nen Schäf­ten pri­mär der Füh­rung oder bei schwa­cher Mus­ku­la­tur der Sta­bi­li­sie­rung im Pro­the­sen­schaft. Eine Last­auf­nah­me von distal am Tuber ist vor dem Hin­ter­grund phy­sio­lo­gi­sche­rer Schaft­form­kon­zep­te zuneh­mend weni­ger gewünscht und zweck­mä­ßig. Trotz­dem muss und wird dem Ramus­win­kel gro­ße Bedeu­tung bei­gemes­sen. Das gilt für alle tuber- und ramus­um­grei­fen­den Schaft­sys­te­me. Jedoch sind nur weni­ge Betrie­be in der Lage, auf bild­ge­ben­de Dia­gnos­tik zurück­zu­grei­fen, die eine nahe­zu ein­deu­ti­ge Mes­sung ermög­licht. Der Groß­teil aller ortho­pä­die­tech­ni­schen Werk­stät­ten und somit der aus­füh­ren­den Berufs­grup­pe der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker ist somit auf den Ein­satz manu­el­ler Mess­werk­zeu­ge ange­wie­sen. Sei­en es selbst­ge­bau­te oder durch die Indus­trie ange­bo­te­ne Werk­zeu­ge – es obliegt dem Tech­ni­ker, den Ramus­win­kel nach bes­tem Gewis­sen zu bestim­men. Doch genau dort liegt aus Sicht des Ver­fas­sers die Schwie­rig­keit: Der rich­ti­ge Umgang mit den Mess­werk­zeu­gen und die damit ver­bun­de­ne Anwen­dung am Men­schen stel­len vie­le Tech­ni­ker vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen. Geprägt ist die­ser Ein­druck durch jah­re­lan­ge Semi­nar­tä­tig­keit des Ver­fas­sers im Bereich der Schafttechnologien.

Doch wor­in genau besteht die Schwie­rig­keit? Die Werk­zeu­ge mes­sen nur so gut wie die Men­schen, die sie bedie­nen. Schaut man sich den Bereich um den Ramus genau­er an, liegt dort viel Mus­ku­la­tur, die das Mes­sen erschwert (Abb. 1). Mus­keln wie der M. trans­ver­sus peri­nei super­fi­ci­a­lis bzw. pro­fun­dus, der M. adduc­tor magnus, der M. semi­mem­bra­no­sus, der Biceps femo­ris sowie der M. glu­teus maxi­mus kön­nen das Ergeb­nis beein­flus­sen. Hin­zu kommt die pols­tern­de Fett­schicht, die bei dem einen Men­schen etwas dicker und bei dem ande­ren etwas dün­ner ausfällt.

An die­ser Stel­le sei gesagt, dass es ver­ständ­lich ist, dass die Bestim­mung des Ramus­win­kels oft eine Her­aus­for­de­rung dar­stellt. Nichts­des­to­trotz ist der Ramus­win­kel eine unab­ding­bar wich­ti­ge Grö­ße für die Her­stel­lung eines ramus­um­grei­fen­den Pro­the­sen­schaf­tes. Basie­rend auf eige­nen Ent­wick­lun­gen und per­sön­li­chen Erfah­run­gen im Bereich der Schaft­tech­no­lo­gien stellt sich somit fol­gen­de Fra­ge: Gibt es alter­na­ti­ve Mög­lich­kei­ten zur Bestim­mung des Ramus­win­kels, ohne den­sel­ben mes­sen zu müs­sen? Damit wäre man unab­hän­gi­ger von der Erfah­rung und den Mess­feh­lern bei der Winkelbestimmung.

Rech­ne­ri­sche Ermitt­lung des Ramuswinkels

Nach ein­ge­hen­der Betrach­tung ver­schie­de­ner ramus­um­grei­fen­der Schaft­tech­ni­ken stell­te sich für den Autor eine wie­der­keh­ren­de Ver­hält­nis­mä­ßig­keit dar, die zu fol­gen­der Annah­me führ­te: Der Ramus­win­kel und die Flä­che des Scar­pa-Drei­ecks ste­hen in einem Win­kel von 100° zuein­an­der. Um die­sen Sach­ver­halt zu bestä­ti­gen, wur­den 30 ramus­um­grei­fen­de Schäf­te (M.A.S., Bufa Ana­to­mic­al Socket und TFSM) durch­ge­mes­sen, was den Ein­druck unter­strich und somit die Behaup­tung einer wie­der­keh­ren­den Ver­hält­nis­mä­ßig­keit stütz­te, unab­hän­gig vom Tech­ni­ker und der Schaftart.

Auf der Basis die­ser Erkennt­nis lässt sich fol­gen­de Hypo­the­se auf­stel­len: Der Ramus­win­kel ist rech­ne­risch zu ermit­teln, ohne ihn direkt zu mes­sen. Zur Unter­su­chung der Hypo­the­se wur­den ein Mess­pro­to­koll und ein Fra­ge­bo­gen (Abb. 2) ent­wi­ckelt, die rele­van­te Fra­gen und Mess­ergeb­nis­se umfass­ten. Das Mess­pro­to­koll leg­te fest, wo und wie gemes­sen wer­den sollte.

Die unter­such­ten Pro­the­sen­an­wen­der wur­den alle sit­zend ver­mes­sen. Das Gesäß muss­te auf einer fes­ten Ober­flä­che Halt fin­den; Ober­schen­kel und Stumpf durf­ten nicht mehr auf­lie­gen. Der Win­kel in Hüft- und Knie­ge­lenk soll­te nahe­zu 90° betra­gen. Fer­ner soll­te kei­ne Außen- oder Innen­ro­ta­ti­on im Hüft­ge­lenk vor­lie­gen. Gemes­sen wur­de die Flä­che des Scar­pa-Drei­ecks in Bezug zur Waa­ge­rech­ten mit einem han­dels­üb­li­chen Gonio­me­ter (Abb. 3). Anhalts­punk­te hier­bei waren die Adduk­to­ren­seh­ne und der höchs­te Punkt des M. rec­tus femo­ris bzw. des M. sar­to­ri­us. Die dazwi­schen befind­li­che fla­che Auf­la­ge­flä­che ist der zu bestim­men­de Tri­ple-M-Win­kel (Abb. 4). Die rech­ne­ri­sche Ermitt­lung des dar­aus resul­tie­ren­den Ramus­win­kels erfolg­te über klas­si­sche Geo­me­trie (Drei­ecks­be­rech­nung) (Abb. 5a u. b).

Gemes­sen wur­den ober­schen­kel­am­pu­tier­te Men­schen, die eine Pro­the­se nut­zen, unab­hän­gig von der Art des Schaft­sys­tems. Es wur­den 66 aus­wert­ba­re Fra­ge­bö­gen erfasst. Davon waren 18 Pro­ban­den weib­lich und 48 männ­lich. Nach Richt­li­nie des Fra­ge­bo­gens und des Mess­pro­to­kolls wur­den die Pro­the­sen­an­wen­der stan­dar­di­siert von sie­ben ver­schie­de­nen Ortho­pä­die-Tech­ni­kern ver­mes­sen. Jeder der Tech­ni­ker wur­de im Vor­feld mit dem Ablauf ver­traut gemacht. Hin­ter­grund des­sen war, dass die Ergeb­nis­se mög­lichst unge­färbt und rea­lis­tisch zustan­de kom­men soll­ten. Fol­gen­de Ergeb­nis­se wur­den erfasst (Tab. 1): Bei 21 Pro­ban­den bestä­tig­te die Mes­sung des Tri­ple-M-Win­kels rech­ne­risch den Ramus­win­kel zu 100 %. Bei 30 Pro­ban­den kam es zu Abwei­chun­gen von bis zu 5 %, bei 11 Pro­ban­den von bis zu 9 %, und bei 4 Pro­ban­den erga­ben die Mes­sun­gen eine Abwei­chung grö­ßer 10 % zum tat­säch­lich ermit­tel­ten Ramuswinkel.

90 % aller Pro­ban­den tra­gen in ihrer der­zei­ti­gen pro­the­ti­schen Ver­sor­gung ein ana­to­mi­sches Schaft­sys­tem (M.A.S., Bufa Ana­to­mic­al Socket, TFSM, sons­ti­ge ana­to­mi­sche Form). Trotz­dem liegt die Ver­mu­tung nahe, dass die getra­ge­nen bzw. vor­he­ri­gen Pro­the­sen­schaft­sys­te­me eine Aus­wir­kung auf das Mess­ergeb­nis haben. Pro­the­sen­an­wen­der mit Lang­zeit­er­fah­run­gen mit que­r­ova­len Schäf­ten wie­sen im Ver­hält­nis zu denen, die solch einen Schaft nicht oder nur kurz getra­gen haben, einen deut­lich fla­che­ren Tri­ple-M-Win­kel auf. Eben­so waren häu­fi­ge­re Defor­mi­tä­ten am Ramus erkenn­bar, wenn lan­ge tuber­un­ter­stüt­zen­de Sys­te­me getra­gen wur­den. Die­se haben auch Ein­fluss auf die Stel­lung des Beckens im Raum: Durch die Ampu­ta­ti­on ent­steht ein Mus­kel­un­gleich­ge­wicht, das unter­stützt durch eine tuber­un­ter­stüt­zen­de Pro­the­sen­ver­sor­gung zur Ver­kip­pung und Ver­wrin­gung des Beckens füh­ren kann. Die­se Tat­sa­che führt im Umkehr­schluss zu einer ver­än­der­ten Dar­stel­lung des Ramus­win­kels und erschwert das Mes­sen. Becken­ver­wrin­gun­gen wer­den oft nicht erkannt und durch Län­gen­an­pas­sun­gen der Pro­the­se zu kom­pen­sie­ren ver­sucht, da ledig­lich auf die Becken­käm­me geach­tet wird, nicht aber genü­gend auf die übri­gen ana­to­mi­schen Gege­ben­hei­ten am und rund um das Becken. Bei den Pro­ban­den, bei denen eine Becken­ver­wrin­gung vor­lag, kann ein­deu­tig fest­ge­stellt wer­den, dass der neu gemes­se­ne Win­kel nie den Ramus­win­kel wider­spie­geln konn­te, genau­so wie bei den Ampu­tier­ten mit Beckendeformitäten.

Fazit

Die Mes­sung des Tri­ple-M-Win­kels ist eine alter­na­ti­ve Mög­lich­keit zur Bestim­mung des Ramus­win­kels. Hier­bei müs­sen, so wie auch bei allen ande­ren Mess­me­tho­den, die ein­fluss­neh­men­den Rah­men­be­din­gun­gen, wie die Vor­ver­sor­gung, knö­cher­ne Ver­for­mun­gen des Ramus­as­tes und auch Becken­ver­wrin­gun­gen, beach­tet wer­den. Inner­halb der Stich­pro­be von 66 Pro­ban­den konn­te bei 32 % der Ramus­win­kel rech­ne­risch bestä­tigt wer­den; bei 45,5 % ergab die Mes­sung eine Abwei­chung von bis zu 5 % vom tat­säch­li­chen Ramus­win­kel. Zur Ver­deut­li­chung: Bei einem ange­nom­me­nen Ramus­win­kel von 30° und einer Abwei­chung von 5 % ergibt sich eine Win­kel­ab­wei­chung von 1,5°. Bei 16 % der Mess­grup­pe ergab sich eine Abwei­chung um bis zu 9 % vom tat­säch­li­chen Ramus­win­kel, und bei 6 % der Grup­pe war die Abwei­chung grö­ßer als 10 %. Bei zukünf­ti­gen Mes­sun­gen muss daher genau­er auf das Ver­hält­nis zwi­schen Vor­ver­sor­gun­gen, Zeit­punkt und Ursa­che der Ampu­ta­ti­on, Ramus­de­for­mi­tä­ten, Becken­ver­wrin­gun­gen und mög­li­cher­wei­se auch Tra­ge­dau­er tuber­un­ter­stüt­zen­der Schaft­sys­te­me geach­tet wer­den. Aber alle die­se Aspek­te sind im Nor­mal­fall im Fokus des ver­sor­gen­den Ortho­pä­die-Tech­ni­kers bei der Anfer­ti­gung eines neu­en Schaft­sys­tems und stel­len somit die Basis der durch­zu­füh­ren­den Ana­mne­se dar.

Nun obliegt es jedem Tech­ni­ker, selbst die­se Mess­me­tho­de zu bewer­ten, aus­zu­pro­bie­ren und evtl. in sein Maß­sche­ma mit zu über­neh­men. Doch die Ergeb­nis­se bestä­ti­gen die anfangs auf­ge­stell­te Hypo­the­se und ermu­ti­gen den Ver­fas­ser, wei­ter in die­se Rich­tung zu forschen.

Kri­ti­sche Anmer­kung: Jede von Hand gemes­se­ne Bestim­mung von Win­keln, Maßen oder Ver­hält­nis­mä­ßig­kei­ten birgt in sich mög­li­che mensch­li­che und/oder tech­ni­sche Feh­ler­quel­len. Eine unter­stüt­zen­de bild­ge­ben­de Dia­gnos­tik zur Bestim­mung des tat­säch­li­chen Ramus­win­kels wäre für die Erhe­bung wün­schens­wert gewe­sen, war aber nicht umsetzbar.

Dank­sa­gung

Allei­ne wäre eine sol­che Band­brei­te an Ergeb­nis­sen und auch eine objek­ti­ve Mes­sung gar nicht mög­lich gewe­sen. Des­halb bedankt sich der Ver­fas­ser an die­ser Stel­le bei allen teil­neh­men­den Ortho­pä­die­tech­ni­ker-Meis­tern, die ihre Zeit und ihr Enga­ge­ment für die Unter­su­chung auf­ge­bracht haben: Chris­ti­an Alex­an­d­row, Robert Hel­bing, Hans-Magnus Holz­fuß, Chris­ti­an Mül­ler, Jörg Schna­bel und Bernd Sibbel.

Der Autor:
Dani­el Merbold
D Med Tech Consulting
Waid­manns­pro­me­na­de 10
14548 Schwie­low­see
info@dmedtech.consulting

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Mer­bold D. Triple‑M („Mer­bold-Mess-Metho­de“) — Eine alter­na­ti­ve Mög­lich­keit zur Bestim­mung des Ramus­win­kels. Ortho­pä­die Tech­nik, 2016; 67 (10): 42–44
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