Teil­hand­am­pu­ta­ti­on: Ver­gleich der Versorgungsmöglichkeiten

R. Münch
Im Jahr 2020 wurden laut Statistischem Bundesamt 5.449 Amputationen im Bereich der Hand in Deutschland durchgeführt [Quelle: Statistisches Bundesamt. Gesundheit. Fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik). Operationen und Prozeduren der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern (4-Steller). https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Krankenhaeuser/ Publikationen/Downloads-Krankenhaeuser/operationen-prozeduren- 5231401207014.pdf?__blob=publicationFile. [Wiesbaden:] Destatis, 2020 (Zugriff am 10.11.2022)]. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Amputationen einzelner Finger bzw. Teilfinger. Die prothetische Versorgung nach Amputationen im Finger- und Handbereich wird häufig auf eine ausschließlich kosmetische Funktion reduziert. Selbst heute noch erscheinen auf ärztlichen Verordnungen begrifflich fragwürdige Bezeichnungen wie „Schmuckfinger“ oder „Schmuckhand“. Dabei hat der Ersatz einer amputierten Gliedmaße definitiv nichts mit dem Schmücken des Körpers zu tun [Quelle: Schäfer M, Dreher D, Muders F, Kunz S. Prothetische Versorgung nach Amputationen im Finger- und Handbereich – Stand der Technik nach dem „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität“. Orthopädie Technik, 2014; 65 (8): 22–30]. Durch den steten Fortschritt der Technik gibt es mittlerweile mehrere Möglichkeiten, auch solche Amputationsniveaus mit aktiven Prothesen zu versorgen.

Ein­lei­tung

Eine Ampu­ta­ti­on und der damit ein­her­ge­hen­de Ver­lust eines Kör­per­teils ist für die Betrof­fe­nen ein tief­grei­fen­der Ein­schnitt ins Leben. Die Rekon­struk­ti­on stellt sowohl Chir­ur­g­in­nen und Chir­ur­gen als auch ver­sor­gen­de Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker vor eine gro­ße Her­aus­for­de­rung 1. Die­se legt jedoch den Grund­stein für die Auf­recht­erhal­tung der Akti­vi­tä­ten des täg­li­chen Lebens sowie der sozia­len Teil­ha­be der Betroffenen.

Der Fort­schritt in den Berei­chen Tech­nik, Medi­zin- sowie Ortho­pä­die­tech­nik ist auch an den pro­the­ti­schen Ver­sor­gun­gen der obe­ren Extre­mi­tät nicht vor­über­ge­gan­gen. Die Ver­sor­gun­gen sind mitt­ler­wei­le erheb­lich kom­ple­xer und tech­nisch anspruchs­vol­ler als noch vor 20 Jah­ren und bie­ten den Anwen­dern einen deut­li­chen Funktionszugewinn.

Ein wesent­li­cher Aspekt der Ver­sor­gung von Men­schen mit Ampu­ta­ti­on im Bereich der obe­ren Ex­tremität ist das The­ma Akzep­tanz. Die Vor­stel­lun­gen der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten und die Mög­lich­kei­ten einer pro­the­ti­schen Ver­sor­gung lie­gen oft weit aus­ein­an­der. Vor jeder pro­the­ti­schen Ver­sor­gung muss man daher mit den Anwen­dern bespre­chen, was genau sie von der Pro­the­se erwar­ten, wie ihre Zie­le lau­ten und wie hoch ihre Moti­va­ti­on ist, die­se zu errei­chen, um dann gemein­sam zur best­mög­li­chen Lösung für die Anwen­der zu gelan­gen. Denn nicht immer ist die moderns­te und teu­ers­te auch die bes­te oder auch nur geeig­nets­te Lösung. Hier ist es hilf­reich, sich an den Leit­li­ni­en des Qua­li­täts­stan­dards für die Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tät zu ori­en­tie­ren. Auch wenn das The­ma Teil­hand­pro­the­tik dort noch nicht kom­plett abge­han­delt wird, ist der gro­be Ablauf in etwa der­sel­be wie bei pro­the­ti­schen Ver­sor­gun­gen im Bereich der Unter­arm­am­pu­ta­ti­on 2.

Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten

Pas­si­ve Teilhandprothetik

Sili­kon­ver­sor­gun­gen im Bereich der Arm­pro­the­tik sind seit Jah­ren Stan­dard. Durch eine indi­vi­du­el­le Sili­kon­pro­the­se las­sen sich fast alle Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus der obe­ren Extre­mi­tät optisch kaum erkenn­bar ver­sor­gen. Sol­che Pro­the­sen wer­den durch­aus auch zur Unter­stüt­zung der kon­tra­la­te­ra­len Sei­te genutzt: Durch die Ein­ar­bei­tung eines Drahts kön­nen ein­zel­ne Fin­ger in eine gewünsch­te Form (Hand­hal­tung) gebo­gen wer­den, um so die erhal­te­ne Sei­te best­mög­lich zu ent­las­ten. Acryl- oder Sili­kon­fin­ger­nä­gel, Behaa­rung, Fal­ten, Pig­ment­fle­cken, Adern etc. – all dies kann in eine sol­che Ver­sor­gung ein­ge­ar­bei­tet wer­den, sodass die Sili­kon­pro­the­se täu­schend echt wirkt.

In frü­he­ren Jah­ren ver­hielt es sich so, dass für robus­te­re Vari­an­ten im Bereich Teil­hand­pro­the­tik – zum Bei­spiel Arbeits­hän­de – in ers­ter Linie das Geschick und die Ideen der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker ent­schei­dend waren. So wur­den aus unter­schied­li­chen Mate­ria­li­en Lang­fin­ger und Dau­men geschaf­fen, um den Pati­en­ten den größt­mög­li­chen Nut­zen einer Pro­the­se zu ver­mit­teln. Mitt­ler­wei­le gibt es ver­schie­de­ne Her­stel­ler, die ein­zel­ne Pro­the­sen­fin­ger anbie­ten. Die­se Fin­ger eig­nen sich aller­dings nur beim Ver­lust eines gesam­ten Fin­gers – ist noch ein Rest­stumpf vor­han­den, kommt es schnell zu einer Über­län­ge, die optisch und funk­tio­nell meist nicht hin­nehm­bar ist. In die­sem Zusam­men­hang kön­nen die pas­si­ven Fin­ger der fol­gen­den Her­stel­ler genannt werden:

  • „Point Digit“ (Ortho-Reha Neu­hof, Abb. 1a);
  • „Three­dee flex“ (Sta­mos und Braun, Abb. 1b);
  • „VIN­CENT­par­ti­al pas­si­ve“ (Vin­cent Sys­tems, Abb. 1c);
  • „Gri­pLock Fin­ger“ (Naked Pro­sthe­tics, Abb. 1d).

Die­se Pro­the­sen­fin­ger las­sen sich alle mit der kon­tra­la­te­ra­len Hand beu­gen und stre­cken. Jedoch ist fest­zu­hal­ten, dass die­se Lösun­gen zwar funk­tio­nell sehr wert­voll sind, jedoch kos­me­tisch kaum den erhal­te­nen Fin­gern ähneln.

Akti­ve Teil­hand­pro­the­sen – Fremd­kraft vs. Eigenkraft

Durch den Fort­schritt der Tech­nik und die erhöh­te Akzep­tanz myo­elek­tri­scher Pro­the­sen ist es heu­te mög­lich, Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten einen tech­nisch hoch­wer­ti­gen Teil­hand­er­satz zu bie­ten. Wie her­kömm­li­che myo­elek­tri­sche Arm­pro­the­sen kön­nen die Teil­hand­lö­sun­gen von Vin­cent Sys­tems oder Össur („Touch Bio­nic“) mit zwei Elek­tro­den oder Druck­sen­so­ren gesteu­ert wer­den (Abb. 2). In bei­den Fäl­len kön­nen Ein­zel­fin­ger (oder Dau­men) bis hin zu einem kom­plet­ten Fünf­fin­ger­sys­tem ver­sorgt wer­den. Zu beach­ten ist auch hier, dass es sich um kom­plet­te Lang­fin­ger­lö­sun­gen han­delt – auch hier kommt es dem­nach zu Über­län­gen, wenn Rest­stümp­fe vor­han­den sind.

Um bei die­sen Ver­sor­gun­gen zwi­schen den ver­schie­de­nen Griff­mus­tern hin und her schal­ten zu kön­nen, bie­ten die bei­den Her­stel­ler unter­schied­li­che Lösun­gen an:

  • Ges­ten­steue­rung (dabei wird die Hand waa­ge­recht gehal­ten; nach einem Öff­nen-Signal „zuckt“ der Zei­ge­fin­ger; sodann kann die Hand nach vor­ne, hin­ten, rechts oder links bewegt wer­den, um so in einen defi­nier­ten Griff zu gelangen);
  • Grip-Chips (klei­ne Blue­tooth-Chips, auf denen ein bestimm­ter Griff gespei­chert ist; hält man die Pro­the­se über die­sen Chip, so gelangt man zum ein­ge­spei­cher­ten Griff);
  • Umschalt­be­we­gun­gen (z. B. lan­ges Öff­nen, Ko-Kon­trak­ti­on oder Ähnliches).

Die­se Ver­fah­ren las­sen die Pro­the­sen sehr prä­zi­se grei­fen, ohne die erhal­te­ne Sei­te in die Greif­be­we­gung ein­be­zie­hen zu müs­sen. Ein Pro­the­sen­trai­ning mit Tech­ni­ker und Phy­sio- oder Ergo­the­ra­peut ist hier­bei zwin­gend erfor­der­lich und dem­nach auch vor­ge­schrie­ben 2. Den Anwen­dern muss aller­dings klar sein, dass es sich bei sol­chen Lösun­gen um eine akti­ve Pro­the­sen­ver­sor­gung han­delt, die kos­me­tisch nicht der erhal­te­nen Sei­te bzw. den erhal­te­nen Fin­gern glei­chen kann.

Auch beim Akku-Manage­ment unter­schei­den sich die bei­den Her­stel­ler: Wäh­rend die fle­xi­blen Akkus der Fir­ma Vin­cent in den Schaft der Pro­the­se inte­griert wer­den kön­nen (der Akku hält den gan­zen Tag), bringt die Fir­ma Össur die Akkus an einer Hand­man­schet­te unter, was den Vor­teil hat, dass der Anwen­der bei Bedarf die Akkus wech­seln kann. Die­ser Vor­teil geht aller­dings auf Kos­ten der Kos­me­tik – die Hand­man­schet­te mit den wech­sel­ba­ren Akkus trägt deut­lich stär­ker auf und ver­län­gert das gan­ze Pro­the­sen­sys­tem, sogar gelen­küber­grei­fend. Hier soll­te wie bei allen pro­the­ti­schen Ver­sor­gun­gen mit den Anwen­dern genau bespro­chen wer­den, was jeweils die bes­te Lösung für sie ist: Möch­te der Anwen­der oder die Anwen­de­rin bei Bedarf die Akkus wech­seln kön­nen, oder genügt es, wenn die Pro­the­se zum Bei­spiel abends per Kabel gela­den wer­den kann?

Bei den bis­her vor­ge­stell­ten pro­the­ti­schen Teil­hand­ver­sor­gun­gen galt die Vor­ga­be, dass für eine gute Funk­ti­on kein Rest­stumpf bestehen durf­te (Pro­blem der Über­län­ge). Seit 2018 sind die Teil­fin­ger­lö­sun­gen der Fir­ma Naked Pro­sthe­tics (Abb. 3) auch auf dem deut­schen Markt erhält­lich, ver­trie­ben seit Herbst 2022 durch Össur. Bei den Model­len „PIP­Dri­ver“, „MCP­Dri­ver” und „ThumbDri­ver“ han­delt es sich um Teil­fin­ger­pro­the­sen, die mit­tels über den ver­blie­be­nen Fin­ger- bzw. Dau­men­stumpf gezo­ge­ner Rin­ge gesteu­ert wer­den und so ein phy­sio­lo­gi­sches Grei­fen in Echt­zeit ermög­li­chen – die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten spre­chen sogar von einem „Greif­ge­fühl in der Pro­the­se“. Die jewei­li­ge Funk­tio­na­li­tät der drei genann­ten Model­le wird im Fol­gen­den kurz erläutert:

  • „PIP­Dri­ver“ (Abb. 4): Damit wird eine Ampu­ta­ti­on in der Mit­te des End­glieds der Fin­ger D2–5 ver­sorgt. Der „PIP­Dri­ver“ ersetzt ein feh­len­des dista­les Inter­phal­an­ge­al­ge­lenk (DIP-Gelenk) und schützt emp­find­li­che Residuen.
  • „MCP­Dri­ver“ (Abb. 5): Die­ses Modell wur­de für Ampu­ta­tio­nen durch die pro­xi­ma­le Pha­lanx kon­zi­piert. Der „MCP­Dri­ver“ stellt die mitt­le­ren und dista­len Phal­an­gen wie­der her. Die Pro­the­sen­fin­ger wer­den von einem intak­ten Meta­car­po­phal­an­ge­al­ge­lenk (MCP-Gelenk) mit genü­gend Rest­stumpf distal zum Gelenk ange­trie­ben; der Rest­stumpf greift jeweils in den ent­spre­chen­den Ring der Pro­the­se. Die ein­zel­nen Pro­the­sen­fin­ger wer­den auf der dor­sa­len Ober­flä­che der Hand an einer Hand­plat­te ver­an­kert. Die Funk­ti­ons­kraft an der Fin­ger­kup­pe ist abhän­gig von der Ein­gangs­kraft des Pati­en­ten. Ein durch­schnitt­li­cher Mann kann an jeder Fin­ger­spit­ze eine Kraft von 35 bis 45 New­ton errei­chen 3. Der „MCP­Dri­ver“ ermög­licht es Pati­en­ten, Gegen­stän­de mit erheb­li­chem Gewicht zu heben, da die Last effi­zi­ent auf die Auf­hän­gung um das Hand­ge­lenk her­um über­tra­gen wird.
  • „ThumbDri­ver“: Die­ses Modell dient zur Ver­sor­gung einer Teil­fin­ger­am­pu­ta­ti­on am Dau­men. Sei­ne Aus­le­gung ermög­licht die natür­li­che Bewe­gung des Dau­men­sat­tel­ge­lenks (Car­po­me­ta­car­pal­ge­lenk, CMC-Gelenk) und behält den­noch eine star­re Struk­tur, um auf die star­ken Kräf­te zu reagie­ren (Griff­kraft oder Hebel des zu grei­fen­den Objek­tes). So ist es mög­lich, eine Viel­zahl von Oppo­si­ti­ons­grif­fen aus­zu­füh­ren, indem eine IP-Gelenk­fle­xi­on (Dau­men­end­ge­lenk­beu­gung) und eine Ver­fol­gung der kom­ple­xen mul­tiaxia­len Bewe­gung des Dau­mens ermög­licht wird. So wird der „ThumbDri­ver“ pri­mär vom CMC- und sekun­där vom MCP-Gelenk im Dau­men ange­trie­ben. Das MCP-Gelenk sorgt für die Arti­ku­la­ti­on (das Beu­gen) der Ein­heit; die meis­ten Funk­tio­nen zur Posi­tio­nie­rung des Dau­mens resul­tie­ren jedoch aus der gegen­über­lie­gen­den CMC-Verfolgung.

Die Naked-Pro­the­sen­fin­ger wer­den indi­vi­du­ell für den Anwen­der ange­fer­tigt und ermög­li­chen so ein mil­li­me­ter­ge­nau­es Grei­fen. Da die Fin­ger direkt über die ver­blie­be­nen Stümp­fe ange­steu­ert wer­den, lässt sich jeder Fin­ger ein­zeln und unab­hän­gig von den ande­ren Fin­gern bewe­gen. Über eine Hand­plat­te, die über den Hand­rü­cken ver­läuft, las­sen sich bei einer Mehr­fin­ger­lö­sung die ver­schie­de­nen Fin­ger ver­bin­den. Seit dem Jahr 2022 besteht auf die­se Wei­se auch die Mög­lich­keit, einen kom­plet­ten Fin­ger (der aktiv nicht ange­steu­ert wer­den kann) in die­ses Sys­tem ein­zu­be­zie­hen (sie­he den Abschnitt zur pas­si­ven Teilhandprothetik).

Doch auch die hier vor­ge­stell­ten Sys­te­me gelan­gen in bestimm­ten Fäl­len an ihre Gren­zen. Ent­schei­dend für eine adäqua­te Ver­sor­gung sind Stumpf­län­ge und Beweg­lich­keit. Ist der Stumpf distal zu kurz, hält der Ring eines „MCP­Dri­ver“ nicht mehr am Stumpf – somit kann die­ses Sys­tem nicht genutzt wer­den, da bei Bewe­gung der Stumpf aus dem Ring rut­schen wür­de, was eine geziel­te Steue­rung der Pro­the­se nicht erlaubt. Soll­te der Stumpf zu lang für einen „MCP­Dri­ver“, jedoch zu kurz für einen „PIP­Dri­ver“ sein, tre­ten zwei Pro­ble­me auf:

  • Der „PIP­Dri­ver“ lässt sich durch einen zu kur­zen Stumpf nicht steu­ern, da der Rest­stumpf über zu wenig Fle­xi­ons­be­we­gung verfügt.
  • Der „MCP­Dri­ver“ dage­gen kann sein Bewe­gungs­aus­maß nicht voll­um­fäng­lich aus­nut­zen, da der „zu lan­ge“ Stumpf gegen die Schie­nen stößt und so blockiert.

Wür­de man län­ge­re Schie­nen wäh­len, um eine bes­se­re Beweg­lich­keit zu ermög­li­chen, so wür­de auch hier eine Über­län­ge erzeugt wer­den, die sowohl funk­tio­nell als auch kos­me­tisch nicht sinn­voll ist. Wie bei fast allen Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten der obe­ren Extre­mi­tät ist auch bei den Lösun­gen von Naked Pro­sthe­tics in jedem Fall eine vor­he­ri­ge Aus­tes­tung angezeigt.

Fall­bei­spie­le: Teil­hand­pro­the­sen unter funk­tio­nel­len und ästhe­ti­schen Aspekten

Sili­kon-Teil­fin­ger- bzw. ‑Teil­hand­ver­sor­gun­gen machen im Unter­neh­men des Autors den größ­ten Anteil aus, wenn­gleich erkenn­bar ist, dass immer mehr Anwen­de­rin­nen und Anwen­der Funk­ti­on gegen­über Ästhe­tik prä­fe­rie­ren. In den bei­den fol­gen­den Fall­bei­spie­len wird auf die­sen Ziel­kon­flikt genau­er eingegangen.

Fall­bei­spiel 1: Pati­en­tin mit dop­pel­sei­ti­ger Teilhandamputation

Bei der Anwen­de­rin (gebo­ren 1964, beid­sei­ti­ge Ampu­ta­ti­on 2017, Ver­sor­gung beid­seits mit myo­elek­tri­scher Teil­hand­pro­the­se „i‑Digits“ der Fir­ma Össur) besteht auf­grund einer Sep­sis eine dop­pel­sei­ti­ge Teil­hand- und Teil­fuß­am­pu­ta­ti­on. Die Pati­en­tin ist Haus­frau und hat den gro­ßen Wunsch, ihren Haus­halt (zu dem ihr Ehe­mann und drei erwach­se­ne Kin­der gehö­ren) wie­der wei­test­ge­hend eigen­stän­dig bewäl­ti­gen zu können.

Für die­se Anwen­de­rin sind die Aspek­te Ästhe­tik und Kos­me­tik beson­ders wich­tig. Bei Kon­tak­ten ver­steck­te sie ihre Hand­stümp­fe häu­fig zunächst in den Jacken­ta­schen. Inso­fern wur­de zunächst eine Sili­kon­lö­sung ins Auge gefasst. Wie aus der Pati­en­ten­ana­mne­se her­vor­geht, ent­schied man sich dann jedoch für eine dop­pel­sei­ti­ge Test­ver­sor­gung mit einer „i‑Digits“-Teilhandprothese, da die Pati­en­tin im Zusam­men­hang mit ihrem häus­li­chen Umfeld von zahl­rei­chen Akti­vi­tä­ten berich­te­te und ent­spre­chen­de Wün­sche äußer­te, die mit einer rein habi­tu­el­len Ver­sor­gung nicht hät­ten umge­setzt wer­den können.

Wäh­rend des ADL-Trai­nings (ADL = Acti­vi­ties of Dai­ly Living, Akti­vi­tä­ten des täg­li­chen Lebens) mit der Test­ver­sor­gung wur­den schnell deren Vor­tei­le erkenn­bar. In die­sem Zusam­men­hang berich­te­te die Anwen­de­rin davon, dass die Pro­the­sen im Haus­halt ihr Leben deut­lich erleich­tern: Ins­be­son­de­re beim Bügeln, beim Waschen und Zusam­men­le­gen der Wäsche sowie beim Kochen und Backen bie­ten sie sehr gute Unter­stüt­zung. Abends vor dem Fern­se­her freut sich die Pati­en­tin, mit Hil­fe der Teil­hand­pro­the­sen selbst­stän­dig etwas naschen zu kön­nen, was ohne die Pro­the­sen nicht mög­lich wäre. Somit wur­de beschlos­sen, die Test­ver­sor­gung in eine defi­ni­ti­ve Ver­sor­gung zu überführen.

In der Öffent­lich­keit aller­dings trägt die Pati­en­tin ihre myo­elek­tri­schen Pro­the­sen nie – ent­we­der ver­steckt sie ihre fin­ger­lo­sen Hän­de wei­ter­hin in der Jacken­ta­sche, oder sie trägt beid­seits ihre Sili­kon­wech­sel­ver­sor­gun­gen. Die­se unter­stüt­zen sie zwar kaum, jedoch fühlt sie sich optisch wesent­lich woh­ler damit.

Fall­bei­spie­le 2 und 3: Pati­en­ten mit Fingeramputation

Im Fol­gen­den wer­den die Fin­ger­ver­sor­gun­gen zwei­er Anwen­der unter funk­tio­nel­len und ästhe­ti­schen Aspek­ten mit­ein­an­der ver­gli­chen. Grund­le­gen­de Anga­ben über die Pati­en­ten sind Tabel­le 1 zu entnehmen.

Anwen­der 1 (Ampu­ta­ti­on 2016; er übt eine hand­werk­li­che Tätig­keit aus) ent­schied sich nach fünf Jah­ren ohne Ver­sor­gung für eine Unter­stüt­zung des ver­blie­be­nen Rest­stump­fes D1. Der Dau­men der kon­tra­la­te­ra­len Sei­te (links) muss­te über die Jah­re vie­le Bewe­gun­gen und Grif­fe über­neh­men oder zumin­dest kom­pen­sie­ren; dadurch kam es lang­sam zu einer Arthro­se im lin­ken Dau­men­sat­tel­ge­lenk. In der Bera­tung wur­de schnell deut­lich, dass der Pati­ent eine funk­tio­nel­le, kei­ne kos­me­ti­sche Lösung benö­tigt – eine Sili­kon­ver­sor­gung kam daher nicht in Fra­ge. Laut eige­nem Bekun­den des Anwen­ders wür­de eine rei­ne Ver­län­ge­rung des Stump­fes ihm bereits wei­ter­hel­fen; eine Ver­län­ge­rung mit Bewe­gungs­mög­lich­keit hin­ge­gen wäre ein gro­ßer Wunsch. So ent­schied man sich zur Aus­tes­tung des „ThumbDri­ver“ von Naked Pro­sthe­tics. Der Anwen­der war von die­ser Ver­sor­gung unmit­tel­bar begeis­tert, und so wur­de die fina­le Ver­sor­gung in die Wege gelei­tet. In der Fol­ge redu­zier­ten sich die Schmer­zen im lin­ken Dau­men unmit­tel­bar, da die rech­te Hand durch die Pro­the­se nun wesent­lich mehr Grif­fe über­neh­men kann als bis­her. Aller­dings ist bereits nach drei Mona­ten ein deut­li­cher Ver­schleiß der Pro­the­se erkenn­bar, da sie täg­lich in der Werk­statt voll genutzt wird.

Ein sol­cher Ver­schleiß ist bei der Pro­the­se von Anwen­der 2 (Ampu­ta­ti­on 2019; er übt eine Büro­tä­tig­keit aus) nicht zu erwar­ten. Da er Büro­kauf­mann ist, rich­te­te sich die ers­te Über­le­gung auf eine Sili­kon­lö­sung. So könn­te er den Stumpf bei Kun­den­kon­takt idea­ler­wei­se „ver­ste­cken“ und sich vor even­tu­el­len unan­ge­neh­men Fra­gen schüt­zen. Auch die Bedie­nung einer Tas­ta­tur wäre mög­lich. Es stell­te sich jedoch her­aus, dass der opti­sche Aspekt für den Anwen­der nicht so ent­schei­dend war wie erwar­tet; viel­mehr ging es ihm dar­um, Hef­te durch­blät­tern und klei­ne­re Gegen­stän­de grei­fen zu kön­nen. Ins­be­son­de­re der Zei­ge­fin­ger ist zum Grei­fen im Pin­zet­ten­griff wich­tig. Ange­sichts des Wun­sches nach Akti­vi­tät und des Ver­zichts auf eine habi­tu­el­le Lösung wur­de der „MCP­Dri­ver“ getes­tet und für gut befun­den. Alle Anfor­de­run­gen des Anwen­ders kön­nen mit die­ser Pro­the­sen­lö­sung pro­blem­los erfüllt werden.

Dis­kus­si­on

Ins­be­son­de­re Pati­en­ten, die mit Pro­the­sen­fin­gern von Naked Pro­sthe­tics ver­sorgt sind, sind von deren Funk­tio­na­li­tät über­zeugt, teils sogar gera­de­zu begeis­tert. Die Pro­the­sen wer­den beim Arbei­ten (in der Kfz-Werk­statt, der Schlos­se­rei, der Schrei­ne­rei) aufs Äußers­te belas­tet und erwei­sen sich dabei als robus­te Unterstützung.

Jedoch sind auch Anwen­der, die Büro­tä­tig­kei­ten nach­ge­hen, vom fei­nen und prä­zi­sen Grei­fen der Pro­the­sen begeis­tert. In die­sen Fäl­len besteht meist nicht der Wunsch nach einer Kos­me­tik, da der hohe Nut­zen der akti­ven Fin­ger erkannt und geschätzt wird. Eher ist zu beob­ach­ten, dass der Wunsch nach einer zwei­ten akti­ven Pro­the­se geäu­ßert wird, falls an der getra­ge­nen Ver­sor­gung ein Defekt auf­tre­ten sollte.

Fazit

Im hier erör­ter­ten Spe­zi­al­be­reich der Teil­hand­pro­the­tik kann es kei­ne Stan­dard­lö­sun­gen geben – jeder Anwen­der bzw. jede Anwen­de­rin ist indi­vi­du­ell; dem­nach müs­sen auch die Ver­sor­gun­gen indi­vi­du­ell sein. Heut­zu­ta­ge besteht jedoch eine gro­ße Aus­wahl an tech­nisch und ästhe­tisch hoch­wer­ti­gen Lösun­gen im Bereich Teil­hand­pro­the­tik, wie gezeigt wur­de. Dabei müs­sen jedoch mög­li­che Gren­zen klar defi­niert wer­den: Fili­gran und robust ist eine schwie­ri­ge Kom­bi­na­ti­on; Ästhe­tik und Funk­ti­on las­sen sich in einer Ver­sor­gung nicht immer gleich­wer­tig berück­sich­ti­gen. Jedoch gilt auch hier wie sonst in der Ortho­pä­die­tech­nik: Die bes­te Ver­sor­gung ist nicht die, die am bes­ten aus­sieht, oder die, die mit den moderns­ten Metho­den gefer­tigt wur­de – es ist stets die, mit der die Anwen­de­rin­nen und Anwen­der zufrie­den sind.

Der Autor:
Ralf-Tho­mas Münch, M. Sc., OTM
Münch + Hahn GmbH & Co. KG
August-Bebel-Platz 18
47169 Duis­burg
rtm@muench-ot.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Münch R. Teil­hand­am­pu­ta­ti­on: Ver­gleich der Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten. Ortho­pä­die Tech­nik, 2022; 73 (12): 34–39

 

  1. Bra­atz F, Ernst J, And­res E, Fel­me­rer G. Was gibt es Neu­es in der (myo­elek­tri­schen) Pro­the­tik? In: Jäh­ne J, Königs­rai­ner A, Schrö­der W, Süd­kamp NP. Was gibt es Neu­es in der Chir­ur­gie? Berich­te zur chir­ur­gi­schen Wei­ter- und Fort­bil­dung, Jah­res­band 2015. Hei­del­berg: eco­med Ver­lags­ge­sell­schaft, 2015: 285–290
  2. Ver­ein zur Qua­li­täts­si­che­rung in der Arm­pro­the­tik e. V. (Hrsg.). Kom­pen­di­um Qua­li­täts­stan­dard im Bereich Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tät. Dort­mund: Ver­lag Ortho­pä­die-Tech­nik, 2014
  3. Naked Pro­sthe­tics. Our Pro­ducts. https://www.npdevices.com/product/ (Zugriff am 29.09.2022)
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