Sta­tio­nen einer Neu­ver­sor­gung mit einer Sitz- und Rücken­bet­tung im inter­pro­fes­sio­nel­len Team des Roll­stuhl-Sitz­zen­trums im Schwei­zer Para­ple­gi­ker-Zen­trum Nottwil

G. Odermatt-Furrer
Der Patient wurde durch Dr. Inge Eriks Hoogland, Leiterin Ambulatorium am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil, für einen Rollstuhl-Sitzbefund an das Rollstuhl-Sitzzentrum (RSZ) überwiesen. Das interprofessionelle Team, bestehend aus Ergotherapeutin, Physiotherapeutin und Orthopädietechnikerin/Rehatechnikerin, evaluiert die aktuelle Sitzversorgung, formuliert Ziele für eine Anpassung der bestehenden Versorgung oder Neuversorgung und definiert das weitere Procedere. Die 2-wöchige stationäre Abgabe der Sitz- und Rückenbettung in den neuen Rollstuhl findet täglich an 2 Terminen statt. Im folgenden Artikel werden der Rollstuhl-Sitzbefund sowie die einzelnen Anpassungsschritte der Neuversorgung anhand eines Patientenbeispiels beschrieben.

Ein­lei­tung

Das Roll­stuhl-Sitz­zen­trum Nott­wil (RSZ) besteht aus einem inter­pro­fes­sio­nel­len Team: 3–4 Ergotherapeut:innen, 3–4 Physiotherapeut:innen sowie 4 Orthopädietechniker:innen/Rehatechnikerin. Es ist spe­zia­li­siert auf die Behand­lung von ambu­lan­ten und sta­tio­nä­ren Patient:innen mit einer kom­ple­xen Sitz­pro­ble­ma­tik. Die­se kann z. B. sein: wie­der­keh­ren­de Deku­bi­tus, Fehl­hal­tung im Sit­zen, Schmer­zen, Fehl­funk­ti­on inne­rer Orga­ne und ver­min­der­te Sitzstabilität.

Das Ziel der Neu­ver­sor­gung ist das Erlan­gen einer phy­sio­lo­gi­schen und an die Bedürf­nis­se der Pati­en­ten ange­pass­ten Sitz­po­si­ti­on und somit einer Ver­bes­se­rung der Lebensqualität.

Dies bedeu­tet:

  • höchst­mög­li­che Funk­tio­na­li­tät im Alltag
  • höchst­mög­li­che Sta­bi­li­tät im Sitzen
  • gerings­ter Kraft­auf­wand beim Antrei­ben des Rollstuhls
  • Prä­ven­ti­on von Kom­pli­ka­tio­nen und Langzeitschäden
  • eine der Läh­mung ent­spre­chend best­mög­li­che phy­sio­lo­gi­sche Stel­lung der Wirbelsäule
  • Ergo­no­mie sowohl im All­tag und am Arbeits­platz als auch in Bezug auf die Kör­per­struk­tu­ren, z. B. Schultergelenk

Aus dem inter­pro­fes­sio­nel­len Team sind bei die­sem Pati­en­ten­bei­spiel fol­gen­de Per­so­nen in der Behand­lung invol­viert: Gabrie­la Oder­matt, The­ra­pie­spe­zia­lis­tin RSZ und Phy­sio­the­ra­peu­tin, Ant­je Giger, Reha­tech­ni­ke­rin Ort­ho­tec Nott­wil, Ile­na Bach­mann, Ler­nen­de Ortho­pä­die­tech­nik Ort­ho­tec Nott­wil, Saskia Risch, Ergo­the­ra­peu­tin Schwei­zer Para­ple­gi­ker-Zen­trum (SPZ) Nott­wil. Für die Dar­stel­lung eines Behand­lungs­ver­laufs erteil­ten der Pati­ent und sei­ne Fami­lie die Genehmigung.

Roll­stuhl-Sitz­be­fund nach ICF (RSZ-Befund)

Dau­er 90 Minu­ten, davon 60 Minu­ten mit Ergo- und Phy­sio­the­ra­peu­tin und im Anschluss 30 Minu­ten mit der Orthopädietechnik.

Vor­be­rei­tend

  • Stu­di­um bestehen­der Infor­ma­tio­nen wie ergo- und phy­sio­the­ra­peu­ti­sche sowie ärzt­li­che Berich­te, Assess­ments, Röntgenbilder

RSZ-Befun­d/­Durch­füh­rung anhand des Cli­ni­cal Reasonings

  • Infor­ma­tio­nen zum Patienten
  • Aktu­el­le Rollstuhlversorgung
  • RSZ-spe­zi­fi­sche Anamnese
  • Phy­si­cal Examination
    — Foto­do­ku­men­ta­ti­on der aktu­el­len Sitzposition
    — Inspek­ti­on des Pati­en­ten im Rollstuhl
    — Inspek­ti­on des Roll­stuhls im Bezug zum Patienten
    — Beweg­lich­keits­tes­tung der Wir­bel­säu­le und der unte­ren Extre­mi­tä­ten (falls nötig auch der obe­ren Extremitäten)
    — Assess­ments im Bezug zur Mus­ku­la­tur (Mus­kel­sta­tus, Tonus, Mus­kel­län­gen, Atrophien …)
  • Evaluation/Diskussion aller erho­be­nen Assess­ments im inter­pro­fes­sio­nel­len Team
  • For­mu­lie­ren einer Hypo­the­se im Bezug zum Hauptproblem
  • Defi­nie­ren des wei­te­ren Procederes

Unser Pati­ent namens Joel ist im SPZ bereits bekannt und kommt in Beglei­tung sei­ner Mutter.
Die Ärz­tin Frau Dr. Inge Eriks Hoog­land hat ihn in der Jah­res­kon­trol­le gese­hen und eine Neu­be­ur­tei­lung der Sitz­po­si­ti­on ver­ord­net. Nach einer kur­zen Vor­stel­lungs­run­de über­nimmt die Mut­ter von Joel die Kom­mu­ni­ka­ti­on für ihren Sohn. Joel wird im fol­gen­den Gespräch aber immer mit­ein­be­zo­gen, denn er kann aktiv mit „Ja“ und „Nein“ kommunizieren.

Out­co­me

Aktu­el­le Rollstuhlversorgung

Pro Acti­ve Bud­dy 2014, Sitz­kis­sen Sti­mu­li­te, indi­vi­du­ell ange­pass­te Rücken­scha­le, Nacken­stüt­ze, 4‑Punk­te-Gurt, Beckengurt

Haupt­pro­ble­me des Patienten

  • Schluck­pro­ble­me auf­grund zuneh­men­der Über­stre­ckung der Halswirbelsäule
  • Ober­schen­kel links zieht Rich­tung Adduktion

Objek­ti­ve Befunde

  • Es bestehen Limi­ten in Bezug auf die Beweg­lich­keit der Wirbelsäule
  • Es bestehen kei­ne arti­ku­lä­ren Ein­schrän­kun­gen der unte­ren Extre­mi­tä­ten im Bezug zur Sitzposition
  • Es besteht ein erhöh­ter Tonus des Rumpfs und Rich­tung Exten­si­on und der unte­ren Extre­mi­tät links Rich­tung Adduktion
  • Es gibt zu wenig Auf­la­ge­flä­che für die sta­bi­le Posi­tio­nie­rung des Beckens, der Ober­schen­kel und des Rumpfs
  • Kopf­stüt­ze ist nicht indi­vi­du­ell positionierbar
  • Roll­stuhl ist abge­nutzt, die Ein­stel­lung mit ange­häng­tem Ruck­sack zu kippig

Wir stel­len die Erkennt­nis­se der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin vor. Gemein­sam wird das wei­te­re Pro­ce­de­re dis­ku­tiert und definiert.

Hypo­the­se

Wir stel­len fest, dass die aktu­el­le Sitz­ver­sor­gung – ins­be­son­de­re des Rücken­sys­tems – zu wenig Auf­la­ge­flä­che bie­tet. Spe­zi­ell die Höhe der Rücken­ver­sor­gung und die seit­li­che Kon­tur ist zu wenig aus­ge­baut. Zur­zeit benutzt Joel die Nacken­stüt­ze zum Sta­bi­li­sie­ren des Rumpfs, so kommt es zur Brü­cken­ak­ti­vi­tät zwi­schen Becken und Hin­ter­kopf. Dies führt zur Erhö­hung des Exten­si­ons­to­nus des Rumpfs, was wie­der­um die Hyper­ex­ten­si­on der Hals­wir­bel­säu­le und dar­aus resul­tie­ren­de Schluck­be­schwer­den begünstigt.

Ziel

  • Posi­tio­nie­ren und Sta­bi­li­sie­ren des Beckens und Rumpfs im Ali­gne­ment soweit möglich
  • Tonus­re­gu­la­ti­on der Rumpf­ex­ten­so­ren, Nackenextensoren
  • Ver­bes­sern der Posi­tio­nie­rung des Kopfs
  • Ver­min­dern der Schluckbeschwerden

Wei­te­res Procedere

Geplan­te Maßnahmen

Es wird beschlos­sen, dass Joel einen neu­en manu­el­len Roll­stuhl mit einer Sitz- und Rücken­bet­tung mit Becken­gurt sowie einer indi­vi­du­ell anpass­ba­ren Nacken­stüt­ze bekom­men soll. Das Ziel ist, dass Joel eine grö­ße­re Unter­stüt­zungs­flä­che über das Sitz- und Rücken­sys­tem bekommt, wel­che es ihm ermög­licht, den Tonus zu sen­ken. Die Nacken­stüt­ze wird an die neue Sitz­po­si­ti­on ange­passt. Die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin wird eine Bein­füh­rung für das lin­ke Bein über die Sitz­bet­tung erar­bei­ten. Ein Vor­spann­rad und eine zusätz­li­che Schie­be­hil­fe wer­den vom alten Roll­stuhl übernommen.

Abdruck

Für die Neu­ver­sor­gung braucht es einen neu­en Sitz­ab­druck der anzu­stre­ben­den Sitz­po­si­ti­on. Die­ser wird zusam­men mit der The­ra­pie­spe­zia­lis­tin RSZ und der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin durch­ge­führt. Der Sitz­ab­druck erfolgt mit Hil­fe eines Vaku­um­ab­druck­sys­tems, in dem die kor­ri­gier­te Sitz­po­si­ti­on simu­liert und bei Bedarf ange­passt wer­den kann. Die Form des Abdrucks wird ein­ge­scannt und das digi­ta­le Modell kann am PC wei­ter­be­ar­bei­tet wer­den. Eine Com­pu­ter­frä­se fer­tigt dar­aus die Pols­ter­roh­lin­ge, die spä­ter in den Roll­stuhl ein­ge­baut werden.

Ent­scheid über den sta­tio­nä­ren Aufenthalt

Da Joel einen Anfahrts­weg von ca. 90 Minu­ten hat, ist es nötig, dass er die Anpas­sung und Abga­be der Sitz- und Rücken­bet­tung sta­tio­när durch­füh­ren lässt. Haut­kon­trol­le, Schluck­ver­hal­ten und Tonus­si­tua­ti­on kön­nen dabei opti­mal doku­men­tiert und kon­trol­liert wer­den. Die­ser zwei­wö­chi­ge Auf­ent­halt im Schwei­zer Para­ple­gi­ker-Zen­trum muss gut geplant sein, denn Joel ist in vie­len All­tags­ak­ti­vi­tä­ten auf Unter­stüt­zung angewiesen.

Roll­stuhl­ab­klä­rung

Die Neu­ab­klä­rung des manu­el­len Roll­stuhls wird bei der Fir­ma Ort­ho­tec in Zusam­men­ar­beit mit dem Pati­en­ten, einem Roll­stuhl­be­ra­ter und der Ergo­the­ra­peu­tin eva­lu­iert und ausgewählt.

Kos­ten­gut­spra­chen

Die Offer­ten für den Roll­stuhl Pro Activ Bud­dy 4all und die Sitz- und Rücken­bet­tung sowie der Antrag auf Kos­ten­über­nah­me des sta­tio­nä­ren Auf­ent­halts wer­den dem zustän­di­gen Kos­ten­trä­ger zuge­stellt. Nach Ein­gang der Kos­ten­gut­spra­chen wird der zwei­wö­chi­ge sta­tio­nä­re Auf­ent­halt durch das Team geplant.

Durch­füh­rung der Anpas­sung ca. 6 Mona­te nach dem RSZ-Befund.

Anpas­sung und Abgabe

Vor­wo­che des stationärenEintritts/Einbau der Sitz­ver­sor­gung in den neu­en Roll­stuhl Pro Activ Bud­dy 4all

Der neue Roll­stuhl wird in der Roll­stuhl­me­cha­nik der Fir­ma Ort­ho­tec von einem Roll­stuhl­me­cha­ni­ker zusam­men­ge­baut und ein­ge­stellt. Danach wird der Roll­stuhl den Ortho­pä­die­tech­ni­kern zum Ein­bau der Sitz- und Rücken­bet­tung über­ge­ben. Die ler­nen­de Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin berei­tet eine Ein­bau­plat­te aus Holz für die Rücken­bet­tung vor und baut die­se ein. Die Sitz- und Rücken­bet­tung, die sich in der Roh­fas­sung befin­det, wird in den Roll­stuhl ein­ge­passt und mit Vel­cro pro­vi­so­risch auf den Ein­bau­plat­ten befestigt.

Woche 1, Tag 1, 1. und 2. Sitzprobe

10 Uhr, 1. Sitz­pro­be: Das anwe­sen­de Team bestehend aus The­ra­pie­spe­zia­lis­tin RSZ und Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin bespricht die wich­tigs­ten Assess­ments des RSZ-Befunds und die Zie­le der Versorgung.

Joel und sei­ne Mut­ter tref­fen ein; es erfolgt eine Kurz­ana­mne­se, mög­li­che aktu­el­le The­men und der Fahr­plan der nächs­ten 2 Wochen wer­den kurz durch­ge­gan­gen. Danach fin­det die ers­te Sitz­pro­be im neu­en Roll­stuhl Pro Activ Bud­dy 4 all statt. Den Trans­fer macht die The­ra­pie­spe­zia­lis­tin mit dem Pati­en­ten über den Stand.

Die Dimen­si­on des Roh­lings ist noch viel zu groß und daher bedarf es eini­ge Zeit, bis Joel an der rich­ti­gen Posi­ti­on sitzt. In einem ers­ten Schritt über­prüft das Team die Posi­ti­on der Sitz- und Rücken­bet­tung. Nach­dem die­se ein­ge­stellt ist, kann eini­ges an Mate­ri­al abge­schnit­ten und gekürzt wer­den. Die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin defi­niert dazu gemein­sam mit der The­ra­pie­spe­zia­lis­tin die Stel­len, die spä­ter in der Werk­statt abge­schnit­ten wer­den kön­nen und mar­kiert die­se mit einem Stift (Abb. 1).

Um den Pro­zess lang­sam in Gang zu brin­gen, schnei­det die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin in einer ers­ten Pha­se eher zurück­hal­tend ab. Nach der 60-minü­ti­gen Anpro­be trans­fe­riert Joel wie­der in sei­nen alten Rollstuhl.

Am Nach­mit­tag trifft sich die Grup­pe zur 2. Sitz­pro­be in den den­sel­ben Räum­lich­kei­ten. Joels Mut­ter hat ihren Sohn beglei­tet und berich­tet uns ihre Beob­ach­tun­gen und gibt uns hilf­rei­che Hin­wei­se zu Joels All­tag. Die Sitz- und Rücken­bet­tung ist jetzt schon mas­siv zurück­ge­schnit­ten und so gelingt das Plat­zie­ren im Roll­stuhl deut­lich bes­ser. Nach­dem jetzt die Posi­ti­on des Beckens bes­ser pal­pier­bar ist, wer­den noch­mals Ände­run­gen ein­ge­zeich­net (Abb. 2).

Woche 1, Tag 2, 3. und 4. Sitzprobe

Die Sitz- und die Rücken­bet­tung sind schon recht gut zurück­ge­schnit­ten und an die Ana­to­mie von Joel ange­passt. Jetzt dre­hen sich die Beob­ach­tun­gen um die Bein­füh­rung des lin­ken Ober­schen­kels. Wie soll der Abduk­ti­ons­block für das lin­ke Bein ange­fer­tigt wer­den? Macht es Sinn, einen extra Abduk­ti­ons­block anzu­brin­gen, den man run­ter­klap­pen oder her­aus­zie­hen kann? Nach der Dis­kus­si­on im inter­pro­fes­sio­nel­len Team und mit der Mut­ter von Joel ent­schei­den wir uns, die Abduk­ti­ons­füh­rung direkt in die Sitz­bet­tung ein­zu­bau­en. Dies ist, falls es funk­tio­niert, im All­tag bes­ser zu hand­ha­ben, da die­se Bein­füh­rung nicht ein- und aus­ge­klappt wer­den muss.

Wir haben im RSZ-Befund fest­ge­stellt, dass Joel sich nicht genü­gend am Rücken­sys­tem anleh­nen kann, weil er sich mit dem Hin­ter­kopf an der Kopf­stüt­ze abdrückt und sich dadurch in eine Hyper­ex­ten­si­on der Hals­wir­bel­säu­le mobi­li­siert. Aktu­ell ist Joel immer noch im glei­chen Mus­ter. Wir pla­nen des­halb fol­gen­de Maß­nah­me: Erhö­hen der Sitz­nei­gung um eine Posi­ti­on durch die Roll­stuhl­me­cha­nik, damit Joel einen leich­ten Anlehn­druck am Rücken erlebt. Zudem tes­ten wir einen Brust­gurt. Der Wie­der­be­fund zeigt, dass Joel den Kopf bes­ser ein­ord­nen und sta­bi­li­sie­ren kann. Die noch pro­vi­so­ri­sche Nacken­stüt­ze wird ange­passt und ten­den­zi­ell wei­ter vor­ne plat­ziert. Wir dis­ku­tie­ren, wie man Joel dazu ani­mie­ren könn­te, den Blick mehr nach unten zu rich­ten und nicht wie im alten Mus­ter nach oben. Das bereits bestehen­de I‑Pad ist dafür ein guter Sti­mu­lus. Wir lei­ten den Auf­trag an die sta­tio­när behan­deln­de Phy­sio­the­ra­peu­tin wei­ter, um so Joels Ver­hal­tens­mus­ter zu ver­bes­sern, weg von Exten­si­on der HWS hin zur Flexion.

Eine wei­te­re Beob­ach­tung führt uns zu einer wich­ti­gen Schlüs­sel­er­kennt­nis hin­sicht­lich Joels Ver­hal­tens­mus­ter. Joel hält sei­ne Ell­bo­gen sehr häu­fig in flek­tier­ter Stel­lung und die Hän­de in der Luft. Dies fällt erst jetzt auf, nach­dem wir ihn über eine län­ge­re Zeit an ver­schie­de­nen Tagen beob­ach­ten konn­ten. Die Posi­ti­on der Arme zieht den Schul­ter­gür­tel und Rumpf nach vor­ne, weg vom Rücken­sys­tem. Zudem bedeu­tet dies, dass sich die Nacken­mus­ku­la­tur sowie der Mus­kel des M. Bizeps im Dau­er­stress befin­den. Die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin schlägt eine indi­vi­du­el­le Lösung in Form eines extra ange­fer­tig­ten Tischs vor. Das von ihr zu Tes­tung aus dem Fun­dus der Werk­statt her­vor­ge­hol­te Demo­mo­dell passt nur bedingt, erfüllt aber sei­nen Zweck: Der Wie­der­be­fund zeigt, dass die Gewichts­über­nah­me der Arme auf dem Tisch eine Tonus­re­duk­ti­on bewirkt. Das Team ent­schei­det, dass die­ser Tisch zusätz­lich neu ange­fer­tigt wer­den muss. Die Befes­ti­gung des Tischs muss indi­vi­du­ell gelöst werden.

Woche 1, Tag 3, 5. und 6. Sitzprobe

Wäh­rend den jeweils 60-minü­ti­gen Sitz­pro­ben wird davor und danach eine Beur­tei­lung der Haut am Gesäß und am Rücken durch das Behand­lungs­team vor­ge­nom­men. So kön­nen gefähr­de­te Zonen für Druck­stel­len schnell erkannt und Maß­nah­men ergrif­fen wer­den. Bis­her haben sich klei­ne­re Rötun­gen am Sitz­bein links und am seit­li­chen Rumpf gezeigt. Die­se Stel­len wer­den von den Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen ein­ge­zeich­net und bis zum nächs­ten Mor­gen angepasst.

Woche 1, Tag 4, 7. und 8. Sitzprobe

Nach­dem am 3. Tag die Ein­stel­lung des Roll­stuhls eine Erhö­hung der Sitz­nei­gung durch die Roll­stuhl­me­cha­nik um eine Posi­ti­on mit sich gebracht hat, eva­lu­ie­ren wir erneut die Tonus­si­tua­ti­on des Rumpfs und das Hyper­ex­ten­si­ons­mus­ter der Hals­wir­bel­säu­le. Erfreu­li­cher­wei­se stel­len wir fest, dass der Tonus der Rücken­ex­ten­so­ren durch die grö­ße­re Auf­la­ge­flä­che und Druck­über­nah­me abge­nom­men hat. Der Hin­ter­kopf berührt die Nacken­stüt­ze nur noch leicht, Joel kann den Kopf auf Auf­trag weg von der Nacken­stüt­ze neh­men und der Rumpf bleibt stabil.

Wir haben den Brust­gurt in einer ers­ten Pha­se mit einem ver­stär­ken­den Druck­punkt auf das Ster­num ver­se­hen. Die Haut­kon­trol­le hat jedoch gezeigt, dass Joel davon nach kur­zer Zeit Druck­stel­len, resp. Rötun­gen bekommt. Dar­aus schlie­ßen wir, dass wir die Auf­nah­me­flä­che ver­grö­ßern und so den Druck bes­ser ver­tei­len müssen.

Der Tisch bekommt lang­sam sei­ne Form. Der Roh­ling wird nach und nach den Bedürf­nis­sen und der Ana­to­mie von Joel ange­passt. Die Pal­pa­ti­on zeigt, dass der Tisch auf den Becken­gurt drückt. Die The­ra­pie­spe­zia­lis­tin RSZ pal­piert die Kon­takt­stel­len und die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin zeich­net lau­fend ein und passt an (Abb. 3).

Nach der 8. Sitz­pro­be am Nach­mit­tag kann Joel den Roll­stuhl und die Sitz­ver­sor­gung das ers­te Mal bis zum nächs­ten Mor­gen um 10 Uhr mit auf die Sta­ti­on neh­men. Es steht eine län­ge­re Test­pha­se an. Die Pfle­ge wird instru­iert, die Haut an Gesäß, Ober­schen­keln und Rücken spä­tes­tens nach 60 Minu­ten Sitz­zeit zu kon­trol­lie­ren und die Ergeb­nis­se dem RSZ-Team am nächs­ten Mor­gen mit­zu­tei­len. Der bestehen­de Roll­stuhl bleibt im Zim­mer und kann, falls es zu uner­war­te­ten Rötun­gen kom­men soll­te, wie­der ein­ge­setzt werden.

Woche 1, Tag 5, 9. und 10. Sitzprobe

Erfreu­li­cher­wei­se berich­tet die Pfle­ge von kei­nen Druck­stel­len, weder am Gesäß noch am Rumpf oder Brust­bein, und wir kön­nen die Zeit der Sitz­pro­be nut­zen, um Joel in der neu­en Sitz­po­si­ti­on auf einem klei­nen Rund­gang im Haus zu fol­gen­den Fra­ge­stel­lun­gen zu beobachten:

  • Tonus­si­tua­ti­on des Rumpfs, der Arme und Schul­ter­gür­tel im Bezug zu den Ein­stel­lun­gen am Roll­stuhl, dem indi­vi­du­ell ange­pass­ten Tisch sowie dem Sitz- und Rücken­sys­tem mit Brustgurt
  • Posi­tio­nie­rung des Pati­en­ten in der Sitz­ver­sor­gung über eine län­ge­re Zeit
  • Kopf­kon­trol­le

Die bis­her getrof­fe­nen Maß­nah­men tra­gen wesent­lich zur Deto­ni­sie­rung und Ver­bes­se­rung einer sta­bi­len Sitz­po­si­ti­on bei. Das Kon­trol­lie­ren der Kopf­po­si­ti­on ist für Joel noch unge­wohnt. Ein neu­es Bewe­gungs­mus­ter, wel­ches ihm ermög­licht, den Kopf ohne Abstüt­zen an der Nacken­stüt­ze zu bewe­gen, muss noch wei­ter ange­bahnt werden.

Die Sitz- und Rücken­bet­tung mit dem indi­vi­du­ell ange­pass­ten Tisch und der Nacken­stüt­ze ist zwar noch nicht fer­tig, aber zum Tes­ten für das Wochen­en­de gepols­tert und pro­vi­so­risch mit Stoff über­zo­gen. Das Wich­tigs­te hier­bei ist wie­der die regel­mä­ßi­ge Haut­kon­trol­le und das geziel­te Feed­back zu den neu gemach­ten Erfah­run­gen (Abb. 4 und 5).

Woche 2, Tag 6, 11. und 12. Sitzprobe

Die 11. Sitz­pro­be in der 2. Woche beginnt mit einem Erleb­nis­be­richt der Mut­ter vom ver­gan­ge­nen Wochen­en­de. Joel habe Besuch von sei­nen Brü­dern gehabt und man habe Salz­stan­gen geges­sen. Es sei­en kei­ne Schluck­be­schwer­den auf­ge­tre­ten. Der Anschlag, den wir zur leich­ten Füh­rung des Ell­bo­gens rechts auf dem Tisch ange­fer­tigt haben, schrän­ke jedoch die nöti­ge Bewe­gungs­frei­heit ein. Die Sitz­zeit in der Neu­ver­sor­gung war eben­falls lan­ge. Joel habe nur im neu­en Roll­stuhl geses­sen und abends dann doch eine leich­te weg­drück­ba­re Rötung unter dem Gesäß links gehabt.

Die anschlie­ßen­de Haut­kon­trol­le des Gesä­ßes durch die The­ra­pie­spe­zia­lis­tin auf der The­ra­pie­bank zeigt die Loka­li­sa­ti­on der Rötung des vor­an­ge­gan­ge­nen Abends. Um die Ursa­che dafür zu eva­lu­ie­ren, trans­fe­riert Joel zurück in den neu­en Roll­stuhl, wo die The­ra­pie­spe­zia­lis­tin eine Pal­pa­ti­on der Sitz­bein­hö­cker auf der Sitz­bet­tung vor­nimmt. Die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin passt die Sitz­bet­tung an der besag­ten Stel­le erneut an (Abb. 6).

Eine sehr posi­ti­ve Rück­mel­dung lei­tet der Vater von Joel an uns wei­ter. Er ist erfreut, wie gut der Roll­stuhl über die win­kel­ver­stell­ba­ren Schie­be­griff an sei­ne Kör­per­grö­ße ange­passt wer­den kann. An die Sitz­pro­be vom Nach­mit­tag bringt die Mut­ter Salz­stan­gen mit und nach einer kur­zen Vor­füh­rung ent­schei­den wir uns, dass der Anschlag auf dem Tisch abge­schnit­ten wer­den muss. Die Anpas­sun­gen wer­den am Nach­mit­tag in der 12. Sitz­pro­be erneut getes­tet und für gut befunden.

Der ICF-Ein­trag für die Visi­te des kom­men­den Tags infor­miert den behan­deln­den Arzt und das Pfle­ge­team über den Stand der Anpassung.

Woche 2, Tag 7, 13. und 14. Sitzprobe

Bespre­chung des wei­te­ren Vor­ge­hens der kom­men­den 4 Tage:

  • 2 Tage Anpassung/Austesten des neu­en Roll­stuhls mit Sitz- und Rücken­bet­tung, Brust­gurt, Nacken­stüt­ze und Tisch
    —  Sitz­bet­tung: Die Bein­füh­rung in der Sitz­bet­tung führt den lin­ken Ober­schen­kel gut, es bestehen kei­ne Druck­stel­len, Joel kann gut und ein­fach posi­tio­niert werden.
    —  Rücken­bet­tung: Die Rücken­bet­tung ist gut an den Rücken ange­formt und gibt eine leich­te seit­li­che Füh­rung. Zudem ist sie höher als die alte Rücken­leh­ne und bie­tet mehr Auf­la­ge­flä­che. Die Regi­on der Schul­ter­blät­ter ist leicht aus­ge­schlif­fen. Es besteht kein Hyper­to­nus der Rückenextensoren.
    —  Brust­gurt: Der Brust­gurt ist pas­send, es gibt kei­ne Rötun­gen mehr; der Gurt muss noch fer­tig­ge­stellt werden.
    —  Tisch: Joel kann die Arme immer bes­ser able­gen und der Tonus in Schul­ter­gür­tel und Nacken wird weni­ger. Es besteht kein Berüh­rungs­punkt mehr zwi­schen Tisch und Becken­gurt oder Ober­schen­kel. Wir haben eine Lösung für die Befes­ti­gung des Tisches gefunden.
    —  Kopf­stüt­ze: Die idea­le Posi­ti­on der Nacken­stüt­ze wird noch leicht angepasst.
  • 1 Tag vor Aus­tritt: Bezie­hen der Sitz- und Rücken­bet­tung sowie des Tisches durch die Bandagie
  • Anpas­sen des bestehen­den Vor­spann­rads durch die Rollstuhlmechanik
  • Anpas­sen der bestehen­den Schie­be­hil­fe durch die Rollstuhlmechanik
  • Abrei­se­tag (Ende des sta­tio­nä­ren Aufenthalts):
    —  Abga­be und Instruk­ti­on der neu­en Roll­stuhl-Sitz­ver­sor­gung durch die Ortho­pä­die­tech­nik und Rollstuhlmechanik
    —  Doku­men­ta­ti­on der Sitzposition/Rollstuhlversorgung mit Fotos durch die Therapiespezialistin
    —  Ver­ein­ba­ren einer 3‑Mo­nats-Kon­trol­le und Ein­ho­len der dafür not­wen­di­gen Verordnung

Wei­te­rer Verlauf

Auf­grund der inten­si­ven und zeit­na­hen Anpas­sun­gen der 1. Woche, dem Feed­back der Mut­ter zum Wochen­en­de, der regel­mä­ßi­gen Kon­trol­le der Haut und der inter­pro­fes­sio­nel­len Zusam­men­ar­beit sind in der 15./16. Anpro­be nur noch klei­ne Anpas­sun­gen nötig, da das Ziel, eine pas­sen­de Sitz­po­si­ti­on für Joel zu fin­den, erreicht ist. Die Anpas­sung der Roll­stuhl-Sitz­ver­sor­gung ist damit abgeschlossen.

Joel darf noch das Bezugs­ma­te­ri­al und die Far­be für die Sitz- und Rücken­bet­tung auswählen.

Die The­ra­pie­spe­zia­lis­tin schreibt einen Bericht zur sta­tio­nä­ren Anpas­sung Sitz- und Rücken­ver­sor­gung in den neu­en Rollstuhl.

Die Ortho­ä­die­tech­ni­ke­rin­nen haben den indi­vi­du­ell ange­pass­ten Tisch mit Leder bezo­gen und zur Befes­ti­gung am Rad­schutz mit Vel­cro ver­se­hen. Der Brust­gurt sowie der Becken­gurt sind rich­tig plat­ziert und ein­satz­be­reit. Die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin ver­fasst eine schrift­li­che Anlei­tung zur Posi­tio­nie­rung von Joel in der neu­en Sitz­ver­sor­gung, die den Betreu­ungs­per­so­nen bei der Abrei­se mit­ge­ge­ben wird.

Woche 2, Abrei­se­tag (Ende des sta­tio­nä­ren Aufenthalts)

Nach­dem die bestehen­de Schie­be­hil­fe und das Vor­spann­rad an den neu­en Roll­stuhl ange­passt und die Sitz- und Rücken­bet­tung am Vor­tag von den Ban­da­gis­tin­nen bezo­gen wur­den, fin­det heu­te der Abschluss­ter­min für die Neu­ver­sor­gung statt. Die Erhe­bung der Foto­do­ku­men­ta­ti­on ist ein wich­ti­ges Ver­laufs­do­ku­ment. Nach 3 Mona­ten soll es eine Sitz­kon­trol­le geben. Die Bewe­gungs­fä­hig­kei­ten und ‑fer­tig­kei­ten des Pati­en­ten konn­ten wir nur im Kli­nik­all­tag und bei ange­pass­ter Umge­bung beob­ach­ten. Die kom­men­den Mona­te wer­den zei­gen, ob und wie sich die Sitz­po­si­ti­on im All­tag bewährt. Die 3‑Mo­nats-Kon­trol­le dient der Eva­lua­ti­on mit All­tags­er­fah­rung und, falls nötig, wei­te­ren Anpas­sun­gen (Abb. 7).

Fazit

Nach dem 2‑wöchigen sta­tio­nä­ren Auf­ent­halt zur Anpas­sung und Abga­be der neu­en Sitz- und Rücken­bet­tung für den neu­en Roll­stuhl konn­ten die gesetz­ten Zie­le erreicht wer­den. Die Sitz­ver­sor­gung wur­de in einem inten­si­ven Pro­zess täg­lich eva­lu­iert und an die Bedürf­nis­se des jun­gen Kli­en­ten ange­passt. Die effi­zi­en­tes­te und best­mög­li­che Anpas­sung und Ver­sor­gung ist dank der enga­gier­ten inter­pro­fes­sio­nel­len Zusam­men­ar­beit zwi­schen Therapeut*innen und Orthopädietechniker*innen und unter Ein­be­zug von wei­te­ren Berufs­grup­pen wie der Pfle­ge und den Roll­stuhl­me­cha­ni­kern sowie den Ban­da­gis­tin­nen möglich.

Der sta­tio­nä­re Auf­ent­halt, und somit die Mög­lich­keit, den Pati­en­ten vor Ort inten­siv behan­deln zu kön­nen, hat neue Befun­de her­vor­ge­bracht (Schlüs­sel­er­kennt­nis Arm­la­ge­rung). Die­se Erkennt­nis hat wesent­lich zur Ver­bes­se­rung von Joels Sitz­po­si­ti­on beigetragen.

Fol­gen­de Rück­mel­dung gibt Joels Mut­ter zwei Mona­te nach Abrei­se per E‑Mail: „Die neue Sitz­bet­tung bewirkt nicht nur eine deut­lich ent­spann­te­re Kör­per­hal­tung, son­dern führ­te zu einer signi­fi­kan­ten Ver­bes­se­rung der Schluck­funk­ti­on von Joel. Das im alten Roll­stuhl ver­stärkt auf­ge­tre­te­ne Sich-Ver­schlu­cken tritt selbst nach meh­re­ren Mona­ten nur noch sel­ten auf. Zurück­ge­führt wird dies auf die auf­rech­te Kopf­hal­tung. Eine Über­stre­ckung wird durch den Brust­gurt ver­hin­dert. Die ange­pass­te Kopf­stüt­ze hält den Kopf in Posi­ti­on, ohne des­sen Beweg­lich­keit für seit­li­ches Dre­hen ein­zu­schrän­ken. Die Mög­lich­keit, die Unter­ar­me auf dem Tisch auf­zu­le­gen, trägt eben­falls zur ent­spann­ten Sitz­hal­tung bei.“

 

Die Autorin:
Gabrie­la Odermatt-Furrer
The­ra­pie­spe­zia­lis­tin
Roll­stuhl-Sitz­zen­trum
Schwei­zer Para­ple­gi­ker-Zen­trum Nottwil
Gui­do A. Zäch Stras­se 1
6207 Nott­wil
Schweiz
therapien.spz@paraplegie.ch

 

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Oder­matt-Fur­rer G. Sta­tio­nen einer Neu­ver­sor­gung mit einer Sitz- und Rücken­bet­tung im inter­pro­fes­sio­nel­len Team des Roll­stuhl-Sitz­zen­trums im Schwei­zer Para­ple­gi­ker-Zen­trum Nott­wil. Ortho­pä­die Tech­nik, 2023; 74 (9): 50–55
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