Sowohl in die Wohnzimmer von Patient:innen als auch in Therapiepraxen und Kliniken hat der als Medizinprodukt Klasse I zertifizierte Reha-Handschuh mittlerweile Einzug gehalten. In diesem Jahr – so der Plan – soll die Nutzung durch die Aufnahme ins Verzeichnis für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) dann auch per Verordnung möglich sein.
Den Anstoß für die Entwicklung gab ein Freund, der im Alter von 15 Jahren einen Schlaganfall erlitt und infolgedessen seine Handfunktionen trainieren musste. Mit den monotonen und langweiligen Übungen während der Rehabilitation hatte er jedoch zu kämpfen. „Kann man das nicht motivierender gestalten?“, fragten sich die Cynteract-Gründer und tüftelten zusammen an einer Alternative zum klassischen Bälledrücken: Der Grundstein für den Reha-Handschuh war gelegt.
Direktes Feedback für Patient:innen und Therapeut:innen
Über den Bildschirm flimmert ein Computerspiel. Doch gesteuert wird dieses nicht über die Maus oder die Tastatur, sondern über die Arm‑, Hand- und Fingerbewegungen, die der Patient oder die Patientin macht. Heißt: Wer beispielsweise eine Rakete steuern muss, um möglichst viele Sterne in der Umgebung zu sammeln, hebt die Finger, damit sich auch die Rakete hebt. Werden die Finger wieder mehr geschlossen, senkt sich die Rakete. Dahinter steht folgende Technologie: Der Handschuh ist mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, die auf der Handoberfläche befestigt sind. So kann der Handschuh die Bewegungen wie hoch und runter, beugen, strecken und spreizen messen und anschließend über USB an den Computer übertragen. Grundsätzlich ist das nicht neu. „Es wird in der Branche an verschiedenen Stellen versucht, Patient:innen durch Spiele zum Training zu animieren“, sagt Gernot Sümmermann. „Uns ist aufgefallen, dass viele Spiele jedoch sehr kindisch konzipiert sind.“ Das will Cynteract ändern und mit den eigens entwickelten Formaten auch Jugendliche und ältere Menschen ansprechen. Egal ob Schnelligkeit, Rätselspaß oder im Retrodesign: Alle Nutzer:innen sollen auf ihre Kosten kommen. „Wenn jemand Spaß hat zu trainieren, dann sind auch die Erfolge besser“, ist Sümmermann überzeugt. Dafür passen sich die Spiele selbstständig dem Patientenlevel an. „Wenn der Avatar oft scheitert, vereinfacht sich das Spiel“, erläutert Sümmermann. Daten wie diese gehen in die individuelle Statistik der Betroffenen ein, die den Therapeut:innen Auskunft über den Fortschritt gibt und als Grundlage für die weitere Rehabilitation dient. Kein seltenes Feedback: „Die Patient:innen trainieren zu lange“, berichtet Sümmermann. Für den Geschäftsführer ein Grund zur Freude und gleichzeitig zur Anpassung der Software. „Das bestätigt uns, dass die Patient:innen gerne trainieren“, sagt er. Um diese aber ein Stück weit zu bremsen und z. B. mögliche Sehnenüberlastungen zu verhindern, hat Cynteract ein Limit nachgerüstet – Spaß auf Zeit. Um die Technologie und die Patientenzufriedenheit umfassend beurteilen zu können, laufen seit 2020 Studien in Zusammenarbeit mit dem BG Klinikum Duisburg und dem Uniklinikum Aachen. Eine wichtige Grundlage für die angestrebte Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis – und auch für die ins Hilfsmittelverzeichnis (HMV). „Sollte der DiGA-Antrag nicht durchgehen, wäre das HMV ebenfalls eine Möglichkeit, uns am Markt zu platzieren“, so Sümmermann.
„Wir wollen die konventionelle Therapie nicht ersetzen, sondern unterstützen“
Zum Einsatz kann der Handschuh sowohl in der Therapie von chirurgischen Verletzungen wie Sehnenrissen kommen als auch in der von neurologischen Erkrankungen wie Parkinson oder Schlaganfall. „Wir wollen die konventionelle Therapie nicht ersetzen, sondern unterstützen“, betont Sümmermann und verweist auf weitere Vorteile, die der Handschuh mit sich bringt. Gefertigt aus Nylon mit hohem Elasthananteil ist er dünn und dehnbar und passt sich der Handform an. Mit einem Gewicht von 60 Gramm ist er leicht und portabel und kann so zu Hause, in der Klinik oder auch im Urlaub genutzt werden. Voraussetzungen für die Anwendung sind lediglich ein Computer mit USB-Anschluss, Windows als Betriebssystem und – im Bestfall eine Internetverbindung, um die Fortschritte speichern und mit den Therapeut:innen teilen zu können. Künftig soll das Programm auch auf dem Smartphone nutzbar sein. Spaß und Erfolg für die Patient:innen, Kontrolle für die Therapeut:innen und durch die verkürzte Reha-Zeit eine Kostenersparnis für Krankenkassen – „Wir sagen dazu immer Win-win-win-Situation, weil alle Seiten profitieren können“, so Sümmermann. Anfangs noch mit 5.000 Euro kalkuliert, gibt es den Handschuh derzeit für rund 800 Euro im Online-Shop. In Einzelfällen sei er schon von Krankenkassen genehmigt worden. Cynteract hofft, die Kosten für die Anwender:innen durch die Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis künftig weiter senken zu können. Der Antrag ist laut Sümmermann bereits gestellt.
„Was uns nach wie vor motiviert, ist die Freude in den Gesichtern der Patient:innen“, betont der Geschäftsführer. „Wir sehen, wir können mit dem Produkt etwas bewegen.“ Aus diesem Grund arbeitet das Duo an weiteren Produkten, darunter eine Version, die die Finger aktiv unterstützt, beugt und streckt. Aufgrund der Nachfrage mehrerer Therapeut:innen versucht Cynteract die Technik des Reha-Handschuhs zudem auf den gesamten Körper auszuweiten. „So können wir eine Plattform bieten, die die Rehabilitation ins Digitale bringt und dem Patienten das Gerät vorschlagen, das er benötigt.“
Pia Engelbrecht
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