Doch nicht nur sie benötigen einen Rollstuhl. Auch Patienten mit anderen neurologischen oder auch orthopädischen Erkrankungen können zeitweilig oder dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Ein Rollstuhl schränkt den Bewegungsradius ein. Daher entwickelte das 1996 gegründeten Unternehmen Automobile Sodermanns Reha-Mobilitätszentrum-NRW ein Trainingsgerät, mit dessen Hilfe Patienten bereits in der Reha-Klinik den Transfer vom Rollstuhl in ein Auto üben können.
„Egal welche Diagnose vorliegt – die Betroffenen sind zu Anfang oft überzeugt, dass sie nicht mehr allein in ein Auto einsteigen und damit über ihren Mobilitätsradius nicht mehr selbstständig entscheiden können“, erläutert Jochen Rieß, Berater für Sonderumbauten und Reha-Produkte bei Automobile Sodermanns Reha-Mobilitätszentrum-NRW, eines Anbieters für behindertengerechte Fahrzeugumbauten aus Wassenberg in der Nähe von Mönchengladbach, im Gespräch mit der OT-Redaktion.
„Das Trauma des Unfalls, der Erkrankung und ihrer Folgen sitzt so tief, dass diese Patienten große Angst haben, bei einem Transfer vom Rollstuhl ins Auto – ob auf den Fahrer- oder Beifahrersitz – herauszufallen.“ Der Transfer ins Auto und wieder zurück in den Rollstuhl sei insbesondere deshalb so anspruchsvoll, weil die Betroffenen unterschiedliche Sitzhöhen meistern und die Einstiegskante sowie die Dachkante berücksichtigen müssten. Außerdem sei eine Steuerung des Autos über die Pedale nicht mehr möglich, sodass die Benutzung von Hilfsmitteln wie Handgeräten für Gas und Bremse erst erlernt werden müsse. „Nach meiner Erfahrung steigt der Angstpegel der Betroffenen mit der Höhe der Läsion“, so Jochen Rieß. Insbesondere für die mentale Entwicklung der Betroffenen sei es aber wichtig, ihnen diese Angst frühzeitig zu nehmen. „Das selbstständige Autofahren, ohne Angehörige, Partner oder Freunde um Hilfe bitten zu müssen, ermöglicht oft erst die Ausübung eines Berufes und ist das Tor zu einem selbstbestimmten Leben“, betont der Berater.
Alltagsgerechtes Training
Um Betroffenen frühzeitig Perspektiven in ein selbstbestimmtes Leben aufzuzeigen, habe sich seine Firma Gedanken gemacht, wie man Rollstuhlfahrern bereits in der Reha-Klinik die Angst vorm Transfer nehmen könne. Bisher seien die Kliniken diesbezüglich auf zwei Methoden angewiesen gewesen: Entweder sie stellten in einem Therapieraum zwei normale Stühle nebeneinander, um den Transfer auf einen Autositz zu üben oder sie nutzten Mietfahrzeuge als Übungsgeräte.
„Im ersten Fall ist das Training fern von den realen Bedingungen, im zweiten Fall findet es bei Wind und Wetter statt. Das sind keine idealen Bedingungen, zumal aus Kosten- und Zeitgründen nicht selten ganz auf das Training verzichtet wird“, erläutert Rieß. „So entstand in unserem Unternehmen die Idee, ein Trainingsgerät zu entwickeln, das dem Patienten bereits in der Klinik sicher und wetterunabhängig das Üben des Ein- und Aussteigens erlaubt. Wir haben uns bezüglich der Maße des Gerätes an einem klassischen Mittelklassewagen orientiert, um alltagstaugliche Bedingungen bieten zu können, da die meisten Rollstuhlfahrer ein Fahrzeug dieser Kategorie nutzen.“
Innerhalb eines Jahres entstand das mobile einsitzige Trainingsgerät „Reha-Slide“, das mit 135 cm Länge, 79 cm Breite und 148 cm Höhe vergleichsweise kompakte Maße aufweist. Der Öffnungswinkel der Türen und die Rahmenhöhe entsprechen einem Mittelklassewagen. Zu beiden Seiten des Gerätes können schwenkbare Rutschbretter je nach Bedarf ein- oder ausgeklappt werden, sodass der Transfer auf den Beifahrersitz oder Fahrersitz gleichermaßen geübt werden kann. Das Lenkrad ist auf den Patienten einstellbar. Zu den weiteren Ausstattungsoptionen zählen unter anderem Pedalabdeckungen, orthopädische Autositze, ein Handbediengerät für Gas und Bremse sowie ein Lenkraddrehknauf.
Trainingsgerät im Praxistext
Seit Anfang 2019 ist ein Prototyp unter anderem in der BDH-Klinik Vallendar in Rheinland-Pfalz in Betrieb. Der Bundesverband für Rehabilitation (BDH) ist Träger und Alleingesellschafter von sieben über ganz Deutschland verteilten Einrichtungen und eines ambulanten Therapiezentrums für neurologische Rehabilitation. An der BDH-Klinik Vallendar betreuen durchschnittlich 270 Mitarbeiter jährlich rund 2.400 Patienten. Axel Kröll, Leitender Physiotherapeut der Klinik, bestätigt, dass das Ein- und Aussteigen in ein Fahrzeug in der Tat eine große Herausforderung für die Patienten sei.
„Im ersten Schritt müssen sie die Handlung planen, also entscheiden, wie sie an das Fahrzeug heranfahren und wo genau sie den Rollstuhl positionieren müssen. Sodann geht es um die Bewegungsabläufe: Hebe ich beispielsweise zuerst die Beine oder das Gesäß in das Fahrzeug? Diese Punkte werden gemeinsam mit dem Therapeuten, abhängig vom individuellen Funktionspotenzial und gegebenenfalls unter Einbeziehung einer Hilfsperson, erarbeitet und trainiert“, sagt Axel Kröll. Allerdings sollte jedes Training in der Therapie so alltagsrelevant wie möglich sein, um einen größtmöglichen Effekt zu erzielen.
Guido Pinter, Leitender Ergotherapeut der BDH-Klinik Vallendar, ergänzt: „Wenn ich das Ein- und Aussteigen in ein Auto üben will, benutze ich ein Auto oder ein Trainingsgerät, das diesem in Hinblick auf Ausmaße und Funktionalität sehr nahekommt. Genau das ist beim mobilen Trainingsgerät „Reha-Slide“ gegeben. Für Patienten und Therapeuten bietet es nicht nur ein alltagstaugliches, sicheres und schnelles Training, sondern wir können erstmals wetterunabhängig mit den Patienten üben, und zwar in allen Ergo- oder Physiotherapieräumen, da das Trainingsgerät so klein und flexibel ist, dass es in jeden unserer Aufzüge passt.“ Die Spanne der Übungszeit sei je nach dem Schweregrad der Erkrankung in Bezug auf Funktion und Kognition sehr unterschiedlich. Bei einigen Patienten reiche ein ein- bis zweimaliges Training, andere müssten den Transfer mühsam und langfristig erlernen, so Guido Pinter.
Nach Aussage der beiden Klinikvertreter reagieren die Patienten durchweg positiv auf das Trainingsgerät. Das gilt auch für Werner Horn: Er ist seit einem Schlaganfall linksseitig gelähmt und muss das sichere Ein- und Aussteigen üben. Zur Rehabilitation ist er in der BDH-Klinik Vallendar und nutzt dazu unter Anleitung den „Reha-Slide“ in einem der Therapieräume. „Das Training ist sehr angenehm und praktisch, und ich fühle mich sicher dabei. Ich bin froh, dass es so etwas gibt, damit ich schnell wieder mobil werde“, erklärt der 54-jährige Patient.
Noch im Laufe dieses Jahres soll der „Reha-Slide“ in Serie gehen: „Die zahlreichen positiven Rückmeldungen auch aus unseren weiteren Partnerkliniken haben uns darin bestätigt, dass wir mit unserer Entwicklung eine wichtige Lücke für die Betroffenen schließen können“, meint Jochen Rieß abschließend. ■
Das Unternehmen Automobile Sodermanns Reha-Mobilitätszentrum-NRW wurde 1996 von Frank Sodermanns gegründet. Zunächst ein klassisches Autohaus, wurde der Betrieb nach einem Unfall des Geschäftsführers, der ihn für mehrere Monate an den Rollstuhl fesselte, in kürzester Zeit auf den Umbau von Pkw umgestellt durch seinen eigenen Schicksalsschlag erkannte Frank Sodermanns den Bedarf an Fahrzeugen für Menschen mit Handicap. Heute arbeiten über 40 medizinisch und technisch geschulte Mitarbeiter an individuellen Umbaukonzepten für Fahrzeuge aller Art für Selbstfahrer, Beifahrer und Familien mit behinderten Kindern.
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