Viele Mitarbeitende im Sanitätshaus haben schon die Erfahrung gemacht, dass sowohl Versorger:innen als auch Kund:innen aus einem Gespräch gekommen sind und vor allem eins gefühlt haben: Frust. Darüber, nicht verstanden worden zu sein, dass man aneinander vorbeigeredet hat oder dass die Zeit nicht sinnvoll für die Versorgung genutzt wurde. Alles Erfahrungen, die nicht vollständig verhindert, aber mit den richtigen Werkzeugen für eine erfolgreiche Gesprächsführung in vielen Fällen doch vermieden werden können.
OT: Herr Gischnewski, schön, dass Sie heute Zeit für uns haben. Würden Sie sich bitte kurz vorstellen?
Michael Gischnewski: Michael Gischnewski, 58 Jahre alt, gebürtiger Schwabe und seit zwölf Jahren wohnhaft in Kassel. Ich bin ausgebildeter Personal- und Business-Coach, Hypno-Master-Coach und psychologischer Berater; außerdem bin ich ehrenamtlich im Team der Krisenintervention im Rettungsdienst tätig. Ich habe über 25 Jahre Erfahrung im Vertrieb und Verkauf, davon 22 Jahre als Trainer und Coach. Seit über neun Jahren bin ich nun als Sales Coach und Kommunikationstrainer bei Topro Mobility und biete Kommunikations- und Verkaufstrainings im gesamten DACH-Raum für Mitarbeiter:innen ausschließlich im Sanitätsfachhandel für den Innen- und Außendienst sowie im Verkauf. Über 7.500 erfolgreiche Teilnehmer:innen haben bereits von meinen Trainings und Coachings profitiert.
OT: Sie sind also seit fast einem Jahrzehnt Personal- und Business-Coach und einer von wenigen, vielleicht sogar der Einzige, der sich mit den besonderen Situationen im Umgang mit eher schwierigen Kund:innen speziell im Sanitätshaus auseinandersetzt. Nehmen Sie uns mal mit: Was macht Ihren Job aus und wieso ist aus Ihrer Sicht ein Coaching für Mitarbeitende im Sanitätshaus besonders wertvoll?
Gischnewski: Es ist eine große Herausforderung – und deshalb auch eine sehr schöne Aufgabe –, mit den vielfältigen Anforderungen des Sanitätsfachhandels umzugehen. Dies gilt für die umfangreichen Aufgaben des Personals gleichermaßen wie für den professionellen Umgang mit den nicht immer einfachen Kunden. Ich habe mir am Anfang als Laie auch überlegt: Sanitätshaus, da gibt es Windeln, da gibt es komische Strümpfe, alles Sachen, die nicht so toll sind und da muss man mit Rezept hin – was soll ich denn da als Trainer machen? Und dann habe ich relativ schnell festgestellt: Es ist ein riesiger Bedarf da. Weil das Personal nicht nur fachlich fit sein muss, sondern auch Fähigkeiten benötigt, mit den unterschiedlichsten Situationen professionell umgehen zu können. Das fängt bei der Begrüßung an, geht über empathisches Verhalten sowie die eigene Kritikfähigkeit, über eine lösungsorientierte Beratung bis hin zum erfolgreichen Verkaufsabschluss und der gewinnbringenden Verabschiedung. Und genau aufgrund dieser vielfältigen Anforderungen ist ein motivierendes Coaching gepaart mit spezifischen Trainings und einem erarbeiteten Gesprächsleitfaden aus der Praxis für die Praxis so wichtig und wertvoll.
OT: Wir wollen uns heute besonders auf den Umgang mit den eher „schwierigen“ Kund:innen konzentrieren. Die Fachberater:innen im Sanitätshaus treffen ja oft auf das sprichwörtliche Ende des Geduldsfadens. Sind Kund:innen im Sanitätshaus Ihrer Meinung nach generell weniger geduldig? Oder beobachten Sie allgemein einen Rückgang der Geduld?
Gischnewski: Es ist ja so, dass uns Kund:innen im Sanitätshaus in den meisten Fällen aufgrund einer Diagnose und daraus resultierend mit einem entsprechenden Rezept für ein Hilfsmittel aufsuchen. Das heißt, sie sind in den seltensten Fällen freiwillig da, sondern wurden „geschickt“. Mangelhafte Informationen und auch die fehlende ausführliche Aufklärung der Patienten bzgl. der Diagnose tun oft ihr Übriges dazu. Und das löst immer Unsicherheit und Unwohlsein beim Kunden aus. Dazu kommt dann noch die Ungeduld, weil die meisten Menschen das Sanitätshaus eher schnell wieder verlassen wollen. Hier treffen also gleich mehrere ungünstige Faktoren zusammen. Ich beobachte allerdings darüber hinaus tatsächlich seit der Coronapandemie einen allgemein merklichen Rückgang der Geduld. Diese Zeit hat sehr viele Menschen verändert.
OT: Was sollten Fachberater:innen grundsätzlich mitbringen, um dieser – manchmal sicherlich auch verständlichen – Ungeduld zu begegnen?
Gischnewski: Ein gesundes Selbstbewusstsein wie auch Selbstsicherheit sind wichtige Standbeine, um ungeduldigen Kunden freundlich begegnen zu können. Von großer Bedeutung ist auch das eigene Grundverständnis für die Situation sowie für das Verhalten des Kunden, die Empathie eben. Und eine intrinsische Motivation. Das heißt, aus echter Neugierde und der Bereitschaft, neue Herausforderungen anzunehmen, zu handeln und mit dem Willen, Menschen gerade in schwierigen Lebenslagen hilfreich zur Seite stehen zu wollen.
OT: Spannend. Das heißt, wenn ich meinem Gegenüber von Anfang an mit dieser Haltung begegne, kann ich ihn/sie schon abholen, bevor es zum Riss des Geduldsfadens kommt? Wieso funktioniert das?
Gischnewski: Eine empathische Grundeinstellung, Freundlichkeit, Kritikfähigkeit, Ehrlichkeit und lösungsorientiertes Handeln sind ganz elementare Faktoren für eine deeskalierende Handlung. Wenn man den Menschen auf dieser Ebene begegnet und den Sachverhalt erklärt, dann verstehen es die meisten auch. Auf eine Kommunikation „auf Augenhöhe“ zu achten, das ist wertschätzend und verständnisvoll zugleich.
OT: Und ist das etwas, das man hat oder eben nicht? Oder kann das jede:r lernen?
Gischnewski: Der eine hat’s – mehr oder weniger –, der andere nicht. Allerdings können diese Fähigkeiten durch gezieltes Coaching und definierte Trainings gut erlernt und ausgebaut werden. Wer die Werkzeuge professioneller Kommunikation kennt und diese auch situativ anzuwenden weiß, der wird auch selbstbewusster in herausfordernden Situationen und gewinnt hierdurch automatisch mehr Selbstsicherheit.
OT: Man hat als Mensch so eine Art Radar – auch schon beim ersten Kontakt. Ein Gefühl dafür, wie denn der oder die andere gerade gestimmt ist. Kann ich ihm oder ihr vielleicht erst einmal mit einem Scherz begegnen, oder sind schon Alarm und Habachtstellung von vornherein angebracht? Wie kann ich in einem Gespräch Klippen umschiffen und tatsächlich deeskalieren, bevor es eskaliert, wenn ich den Eindruck habe, dass mir hier jemand mit kurzer Zündschnur gegenübersteht?
Gischnewski: Ja, das ist eine große Herausforderung. Man muss sich halt immer mal in die Situation des Gegenübers hineinversetzen und sich überlegen: Wie würde es mir denn jetzt gehen? Ich habe Schwierigkeiten, ich habe Schmerzen, ich muss zum Arzt. Das ist grundsätzlich keine angenehme Situation. Und dann bekommen Sie – überspitzt gesagt – irgendeine Diagnose um die Ohren gehauen, ein paar Rezepte in die Hand gedrückt und das war es. In dem Moment fühlen sich diese Menschen oft sehr allein gelassen mit einer Diagnose, die sie vielleicht gar nicht verstehen. Da kommt dann der psychologische Aspekt ins Spiel, der unheimlich wichtig ist: Was mache ich jetzt daraus? Was bedeutet das für mein künftiges Leben? Was bedeutet das für mein Umfeld, für meine Familie? Alles, was eben auf einen einstürzt. Und dann habe ich maximal 28 Tage Zeit, dass irgendwie auch nur annähernd zu verarbeiten und anzunehmen. Anschließend stehe ich bei Ihnen im Geschäft und wir schauen uns an. Ich mit meinem Rezept in der Hand und im ersten Kontakt bereits auf 180. Was ich den Leuten immer versuche beizubringen, ist: Schau, der, der dich da anbrüllt, ist nicht nur wütend und ungeduldig, sondern auch in höchstem Maße verunsichert. Und jeder Mensch zeigt seine Verunsicherung auf eine andere Art und Weise. Der eine wird halt leise, der andere wird laut, wieder ein anderer fängt vielleicht an zu weinen. Es ist sehr individuell, wie die Menschen in einer belastenden Situation reagieren. Aber ich finde auch, das ist ein bisschen das Salz in der Suppe. Wenn ich meinen Job richtig verstehe und erkenne: Ich habe eine sehr große Verantwortung diesem Menschen gegenüber und ich habe jetzt 10, 20 vielleicht 30 Minuten Zeit, mich intensiv um genau diesen Menschen zu kümmern. Mit all meinem Fachwissen, mit all meinem sozialen Tun.
OT: Gibt es vielleicht eine Art Strategie oder einen Kniff, um der Ungeduld direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen? Angenommen, ich stehe hinter dem Tresen, mir wird ein Rezept gereicht und ich weiß direkt: Das muss ich erst bestellen. Oder (noch schlimmer), das Rezept ist so nicht richtig ausgestellt. Dann weiß ich als Fachberater:in schon im ersten Augenblick, diesem Kunden oder dieser Kundin kann ich nicht sofort helfen. Wie kann ich das von vornherein deeskalierend transportieren?
Gischnewski: Die eigene innere Einstellung muss passen. Wenn eine Situation so ist, wie sie ist, und ich es partout nicht ändern kann, dann muss ich das erstmal selbst genauso akzeptieren. Und jetzt ist eine ungezwungene, offene Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber sehr wichtig. Wenn ich hier unsicher agiere, biete ich dem aufgebrachten, ungeduldigen Kunden nur eine unnötige Angriffsfläche. Selbstbewusst die Fakten nennen und – wenn möglich – Lösungsvorschläge anbieten, dabei freundlich und ehrlich lächeln, Punkt. Es ist nämlich ein Phänomen, das ich in den gesamten neun Jahren meiner Tätigkeit in der Sanitätshaus-Branche beobachten darf, dass die Kunden ihrer Verärgerung und Ungeduld oft freien Lauf lassen. Überall werden mittlerweile lange Wartezeiten akzeptiert, wie z. B. beim Arzt oder beim Handwerkertermin zu Hause. Nur im Sanitätshaus, da darf es keine Wartezeiten geben. Dieses Verhalten vieler Kunden hat vielfältige Gründe, die es eben zu verstehen und professionell damit umzugehen gilt. Ja, ich möchte sogar behaupten, dass wir hier unsere Kunden auch ein wenig erziehen müssen. Das ist erlern- und trainierbar und funktioniert tatsächlich auch.
OT: Und wie lernt man das?
Gischnewski: Bei mir sind das immer modular aufgebaute Ganztagsschulungen. Es gibt zunächst ein Basistraining, da lernen die Teilnehmer:innen wirklich von der Begrüßung bis zur Verabschiedung anhand eines Verkaufsleitfadens, den ich über die Jahre erarbeitet habe, die verschiedenen Phasen direkt mit dem Kunden gemeinsam durchzugehen. Bis hin zur Bedarfsermittlung, um festzustellen, wie sieht denn der Alltag meines Kunden aus? Was wünscht er oder sie sich denn? Wo gibt es Bedenken, was fällt im Moment schwer? Damit der Kunde überhaupt erstmal bereit ist, sich einem fremden Menschen gegenüber zu öffnen. Dafür bedarf es hochkomplexer Prozesse. Da muss ich Empathie entwickeln und brauche die innere Motivation: „Ja. Mein Job ist wichtig und ich möchte den Menschen helfen, und es geht nicht darum, den Leuten das teuerste Produkt zu verkaufen, sondern wirklich um bedarfsgerechte Beratung.“ Dann findet auch automatisch ein Verkauf statt.
OT: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass man als Prellbock für Ungeduld und Ärger auch selbst in eine emotionale und defensive Haltung gerät. Was kann mir in diesem Fall helfen, selbst auf der sachlichen Ebene zu bleiben?
Gischnewski: Um auf der sachlichen Ebene zu bleiben, weil man vielleicht gerade selbst sehr gereizt oder gestresst ist, kann es sehr hilfreich sein, sich mal eben selbst zu reflektieren. Da kann ein kleiner Trick sehr hilfreich sein: einfach ganz kurz die Helikopter-Position einnehmen. Das bedeutet, sich vorzustellen, man schwebt in einem Helikopter über der Situation und schaut von oben auf sich und den Kunden. Das sorgt für einen wertvollen Perspektivwechsel. Währenddessen ein‑, zweimal ganz tief in den Bauch atmen und lange ausatmen, das sorgt für (Sauerstoff-)Power im Gehirn, dauert übrigens nur wenige Sekunden und wird vom Kunden nicht wirklich bemerkt.
OT: Mal angenommen, das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Der Frust bricht sich Bahn und das Gespräch wechselt von der sachlichen auf die emotionale Ebene – wie sollte ich mich jetzt verhalten? Welche Tipps geben Sie Ihren Trainees dazu?
Gischnewski: Es hört sich jetzt vielleicht etwas seltsam an, aber wenn ich es verstehe, mich gekonnt auf der emotionalen Ebene zu bewegen, dann habe ich wesentlich größere Chancen, den Kunden abzuholen und gegenseitiges Verständnis aufzubauen, als wenn ich mich ausschließlich auf der sachlichen Ebene bewege. Schließlich verlaufen rund 80 Prozent der zwischenmenschlichen Kommunikation auf der emotionalen Ebene. Mein Tipp in einer solchen Situation ist, mit „guten“ Fragen zu arbeiten. Also offene Fragen, sogenannte „W“-Fragen stellen, sowie aktiv zuhören und so das Gespräch gekonnt steuern. Eine wertvolle Regel: Reagiere auf eine Äußerung nicht mit ebenso einer Äußerung, also im Stile Argument – Gegenargument, sondern reagiere mit einer gut gestellten „W“-Frage. Das will gut gelernt sein und muss permanent trainiert werden.
OT: Okay. Und gibt es eine Art „Notfallplan“, falls ich merke, dass ich trotz allem gerade ebenfalls die Geduld verliere? Das kann uns allen ja passieren, je nachdem, welche Knöpfe man bei uns drückt. Ist es in Ordnung, eine Diskussion dann auch zu verlassen oder an eine vielleicht gerade weniger involvierte Person zu übergeben?
Gischnewski: Ein Gespräch kann durchaus auch mal scheitern und zum Abbruch führen. Ein solcher Gesprächsabbruch sollte aber niemals das Ende der Kundenbeziehung sein. Wenn es tatsächlich nicht anders zu lösen sein sollte, dann ist die Übergabe des Gesprächs an eine Kollegin oder einen Kollegen denkbar. Es sollte allerdings das allerletzte Mittel sein, quasi der Notausgang.
OT: Sollte man sich dazu im Team abstimmen? Also vielleicht eine Art Zeichen vereinbaren, an dem die Kolleg:innen merken, okay, bei dem Tanz ist jetzt ein Partnerwechsel angesagt?
Gischnewski: Eine verabredete Geste kann die Übergabe erleichtern, muss allerdings sicher kommuniziert und verlässlich umsetzbar sein. Schließlich soll der Kunde auf keinen Fall das Gefühl bekommen, „weitergeschoben“ zu werden.
OT: Abschließende Frage – gibt es eine Art Faustformel, an der man sich in schwierigen Situationen orientieren kann?
Gischnewski: Erstens: Gut und aktiv zuhören. Dem Kunden deutlich signalisieren, dass man echtes Interesse an seinem Anliegen hat. Zweitens: Mit dem Kunden mitfühlen und Verständnis zeigen. Drittens: Immer davon ausgehen, dass man beobachtet wird. Andere Kunden im Sanitätshaus hören sich Konfliktgespräche sehr gerne mit an. Immer auch an die Außenwirkung denken. Viertens: Langsam und mit leicht gesenkter Stimme reden. Fünftens: Nur Versprechungen machen, die man auch tatsächlich einhalten kann. Das ist Ehrlichkeit. Sechstens: Beschwerden niemals persönlich nehmen. Siebtens: Schwierige Kunden als potenzielle Gelegenheiten betrachten. Achtens: Das Gespräch immer positiv beenden. So kann man neben dem eigenen Ausdruck für das Verständnis der Verärgerung des Kunden auch anbieten, in Zukunft persönlich für den Kunden da zu sein. Neuntens: Wissen, wann es genug ist. Grenzen ziehen und wenn nötig, diese dem Kunden auch aufzeigen. Achtung: das eigene Ego beiseite lassen.
OT: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch und Ihre Zeit.
Die Fragen stellte Alexandra Klein.
- Die Paralympischen Spiele: Mehr als nur Sport? — 11. Oktober 2024
- Grafik des Monats: Ambulante Hilfsmittelverordnungen — 11. Oktober 2024
- FOT-Jahreskongress: Nerv der Zeit getroffen — 10. Oktober 2024