Am 24. September 2020 ging der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik als Mitglied der ARGE in das Schiedsverfahren mit der IKK Classic. Zuvor hatte die EGROH, die zuletzt Verhandlungsführerin war, die Vertragsverhandlungen aufgrund mangelnder Verhandlungsbereitschaft der IKK Classic für gescheitert erklärt und über das BAS ein Schiedsverfahren eingeleitet.
OT: Nach neun Monaten liegt nun seit dem 24. Juni 2021 ein Schiedsspruch zum IKK Classic Reha-Vertrag vor. Hat sich der lange Weg gelohnt?
Nico Stephan: Auf jeden Fall! Der 24. Juni war ein guter Tag für alle Patient:innen, die im Rahmen einer gesetzlichen Versicherung auf eine Hilfsmittelversorgung angewiesen sind. Der Schiedspruch stellt klar, dass das in den Verhandlungen aufgestellte Dogma der IKK Classic „Hauptsache günstiger“ in Deutschland nicht durchgeht. Dementsprechend ist eine verantwortungsvolle Versorgung mit Rehabilitationshilfsmitteln keine reine Logistik, sondern eine individuelle Versorgung am Patienten. Das geltende Wirtschaftlichkeitsprinzip ist keine Einbahnstraße. Vergütung und Versorgungsleistungen bedingen sich wechselseitig. Während der langen Zeit des Schiedsverfahrens wurden seitens der IKK Classic ausschließlich und rigoros die Konditionen und Vertragsinhalte von Einzelverträgen der Firmen Sanimed und Tingelhoff umgesetzt – und wir haben da bereits Lücken und Qualitätsverluste in der Versorgung sehen können. Das insbesondere für Ältere und Menschen mit Behinderung wichtige Vor-Ort-Prinzip muss auch weiterhin zwingend gewährleistet bleiben.
Enormer Druck
OT: Das Schiedsverfahren war zwischenzeitlich umstritten. Rund 250 Unternehmen hatten den Sanimed-Vertrag bereits gezeichnet, sich auf die Vertragsbedingungen und Preise eingelassen – nicht zuletzt im Angesicht der Marktmacht einer IKK Classic mit immerhin rund drei Millionen Versicherten, die man nicht unversorgt lassen wollte. Wie sind Sie mit dem Druck umgegangen?
Stephan: Für die Unternehmen war das ganz sicher keine leichte Zeit. Der Druck auf die Leistungsgemeinschaften war enorm. Es musste eine Balance zwischen wirtschaftlich sinnvollem Handeln und dem manchmal zwingenden Versorgungsalltag gefunden werden. Die durch die ARGE vertretenen Unternehmen wollen in der Regel keinen Versicherten im Regen stehen lassen. Dennoch war es gerade im Sinne einer qualitätsgesicherten Versorgung und damit der Versicherten der richtige Schritt, die seitens der IKK Classic aufgestellten Vertragsinhalte und Versorgungskonditionen infrage zu stellen und keine vorschnellen Tatsachen zu schaffen. Wir haben im November 2020 eine Befragung der BIV-OT-Mitglieder durchgeführt – und 80 Prozent der Mitgliedsunternehmen sprachen sich dabei gegen eine offizielle Unterzeichnung des Vertrages seitens der Verbände aus. Die Gründe dafür waren mangelhafte Wirtschaftlichkeit und qualitätssenkende Bedingungen. Bis zum Schluss gab uns übrigens selbst die Mehrheit jener Unternehmen, die sich aus verschiedenen Gründen zu einem Vertragsbeitritt genötigt sahen, deutlich zu verstehen, dass der Verband diesem Vertrag auf keinen Fall die Anerkennung aussprechen dürfe. Schlussendlich hatten bis Anfang diesen Jahres lediglich zehn Prozent der in Deutschland tätigen Versorger den Vertrag geschlossen.
Mehraufwand vergütet, Bürokratie verringert
OT: Das Schiedsverfahren fand mitten in der Corona-Krise statt, die leider immer noch nicht überwunden ist. Hat dies die Verhandlungen beeinflusst?
Stephan: Im Grundsatz sicher nicht, denn es geht hierbei um einen Vertrag, der jenseits der speziellen Umstände einer Pandemie die Versorgung von Menschen mit Behinderungen und Mobilitätseinschränkungen sicherstellen muss. Allerdings hat diese Situation gewiss den Blick dafür geschärft, dass man bei Rahmenbedingungen nicht immer an „es darf Nichts kosten“ denken sollte. Der Schiedsspruch gewährt daher punktuell und zeitlich begrenzt einen finanziellen Ausgleich für erhöhte pandemiebedingte Frachtkosten – aber er setzt auch ein deutliches Zeichen bezüglich der Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV).
OT: Inwiefern?
Stephan: Der BIV-OT setzt sich gemeinsam mit dem AOK Bundesverband und dem GKV Spitzenverband auf der politischen Ebene stark dafür ein, dass die aktuell geltende MPBetreibV wieder auf ein gesundes und praktikables Maß zurückgeführt wird. Da die vorhandenen Neuregelungen die Patientensicherheit nicht erhöhen sowie für Leistungserbringer und Kassen ein kaum überschaubarer Mehraufwand entsteht. Wenn man – wie im IKK Classic Reha-Vertrag vorgesehen – als Leistungserbringer vertraglich die Aufgaben eines Betreibers von der Kasse übernimmt, weiß man aufgrund inhomogener Herstellervorgaben in den seltensten Fällen, was das bedeuten kann. Sowohl hinsichtlich der Kosten als auch des Aufwands. Wie gesagt, das alles ohne wirkliche Auswirkung auf die Patientensicherheit. Hier gibt der Schiedsspruch jetzt zumindest den Weg vor: Wenn die Kasse ihre derzeit noch gesetzlich festgeschriebenen Aufgaben eines Betreibers auf die Leistungserbringer übertragen möchte, dann muss sie den damit verbundenen Aufwand bezahlen.
OT: Welche Position vertritt der Schiedsspruch in Bezug auf Rahmen- bzw. Leitverträge?
Stephan: Was die Struktur von Rahmenverträgen anbelangt, konnte uns die Schiedsperson klar in der Argumentation folgen. Der Gesetzgeber spricht sich deutlich für Verwaltungsvereinfachungen aus. Das sehen wir genauso. Daher haben wir uns von Beginn an gegen das Ansinnen der IKK Classic gewandt, für jede Produktgruppe einen separaten Rahmenvertrag zu schließen. Im Gegensatz dazu haben wir uns für ein einheitliches Rahmenvertragskonzept mit zugeordneten Anlagen je Produktgruppe ausgesprochen. Die Schiedsperson musste die Vor- und Nachteile beider Vertragsstrukturen abwägen und entschied sich im Ergebnis eindeutig für unseren Vorschlag.
Qualität vor Versand
OT: Die ARGE hat sich von Beginn an gegen die im Reha-Vertrag der IKK Classic enthaltene Versandoption ausgesprochen, weil damit die Qualität der Versorgung nachhaltig und erheblich leiden würde. Die Logistik des Hilfsmittels sollte nicht von der Beratung, Anpassung und wohnortnahen Versorgung abgekoppelt werden. Können sich Patient:innen denn nun sicher sein, dass die Qualität der Versorgung künftig gut geregelt ist?
Stephan: Auf jeden Fall. Es gibt für uns als Vertreter der Leistungserbringer rote Linien, die mit dem IKK Classic-Vertrag überschritten waren und weswegen das Schiedsgericht angerufen wurde. Denn der Gesetzgeber hat zu Recht Ausschreibungen für die Versorgungen mit Hilfsmitteln gesetzlich verboten, weil dabei zu sehr auf Logistik gesetzt wurde. Als Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung gesetzlich noch möglich waren, haben gesetzlich Versicherte ihre Hilfsmittel teilweise aus dem Laster heraus geliefert bekommen. Es gingen wirklich schlimme Bilder durch die Presse. Der Gesetzgeber hat deshalb darauf bestanden, dass ein Hilfsmittel nur in Kombination mit fachkundiger Einweisung, Einstellung und Beratung sowie in Kenntnis der individuellen Alltagsumstände, in denen es genutzt werden soll, seinen Sinn erfüllt. Entsprechend wurden die Passagen im neuen IKK Classic Reha-Vertrag so angepasst, dass der Versand die absolute Ausnahme bleiben muss, die nur unter strengen Maßgaben erfolgen darf.
Anhebung der Vertragspreise
OT: Hat der Schiedsspruch außerdem im Hinblick auf Preissteigerungen in den Produktgruppen positive Ergebnisse im Sinne der Leistungserbringer erzielt?
Stephan: Ja. Die Schiedsperson konnte unserer Argumentation folgen, dass der Preis grundsätzlich anhand der Rahmenparameter Kalkulation sowie marktübliche Preise zu ermitteln ist. Welche Preise marktüblich sind – dazu waren die Vorstellungen im Schiedsverfahren konträr. Die IKK Classic vertrat die Meinung, die durch Einzelunternehmen wie Sanimed und Tingelhoff gezeichneten Vertragspreise seien der alleinige Maßstab für die Versorgung. Wir hingegen haben immer wieder betont, dass die Preise anderer Kassen von vergleichbarer Größe und Struktur, darunter regionaler AOKen, Teil des Marktes sind und nicht ignoriert werden können. Die Schiedsperson ist unserer Auffassung gefolgt und hat einen Vertragspreisvergleich zahlreicher relevanter Verträge durchgeführt. Davor ziehe ich den Hut. Das Resultat ist die Anhebung der Vertragspreise. Verglichen mit den abgeschlossenen Einzelverträgen können wir nun in 273 Vergütungspositionen eine spürbare Steigerung der Vertragspreise verzeichnen. Zudem hat die künftig anfallende Vergütung bei Übernahme der Aufgaben eines Betreibers einen nicht zu unterschätzenden monetären Wert.
OT: Was ist dabei besonders hervorzuheben?
Stephan: Ganz besonders wichtig finde ich, dass im Schiedsspruch unterstrichen wird, dass durch Einzelunternehmen abgeschlossene Verträge gerade nicht die Vertragsinhalte und das Vergütungsniveau für eine ganze Branche bestimmen können. Maßgebend für die Festlegung von Vertragsinhalten und Vergütungen können nur objektive Kriterien sein – kein Individualvertrag mit subjektivem Einschlag.
OT: Es war das erste Schiedsverfahren im Bereich Reha, das der BIV-OT zusammen mit der ARGE eingeleitet hat. Was nehmen Sie an Erfahrungen aus diesen Verhandlungen mit?
Stephan: Zunächst ist festzuhalten, dass bei verhärteten Fronten und einseitigen Vertragsdiktaten das Schiedsverfahren ein passables Instrument sein kann, um Konflikte aufzulösen. Allerdings trübt der zeitliche Umfang eines solchen Verfahrens ein wenig den Praxis-Check. Gute Vorbereitung und Professionalität sind da alles. Und dann heißt es: Konsequent dranbleiben und den eigenen Argumenten vertrauen. Wenn diese gut sind – warum sollten sie einer neutralen Schiedsperson nicht einleuchten? Aber es war verdammt viel Arbeit. Doch die hat sich gelohnt!
Die Fragen stellte Michael Blatt.
Die Rolle der ARGE im Schiedsverfahren
Zur Arbeitsgemeinschaft der Leistungserbringerorganisationen (ARGE) haben sich sechs maßgebliche Vereinigungen zusammengeschlossen: Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), die Leistungserbringergemeinschaften Cura-San, Rehavital, RSR Reha-Service-Ring, Sanitätshaus Aktuell und die EGROH. Letztere führte im Namen der ARGE die Verhandlungen mit der IKK Classic und übernahm die Funktion des Sprechers im Schiedsverfahren. Nachdem die Verhandlungen zum Reha-Vertrag mit der IKK Classic aufgrund mangelnder Verhandlungsbereitschaft der Krankenkasse gescheitert waren, leitete die ARGE ein Schiedsverfahren nach § 127 Abs. 1a Sozialgesetzbuch (SGB) V beim BAS ein, dem unter anderem die Rechtsaufsicht über die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt. Am 24.6.2021, um 23:27 Uhr, lag der Schiedsspruch zum IKK Classic Reha-Vertrag. Schiedsperson war Patrick Leimig. Der durch den Schiedsspruch definierte Vertrag tritt zum 01. September 2021 in Kraft, bis dahin gibt es Übergangsregelungen.