Einleitung
Der Rückgang der Geburtenraten und die zugleich zunehmende Lebenserwartung führen in Deutschland zu einem immer größer werdenden Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung. Bis zum Jahre 2050 soll der Anteil der über 60-Jährigen laut Statistischem Bundesamt auf 35 % der Gesamtbevölkerung steigen. Viele der 65- bis 85-jährigen Senioren sind heute altersentsprechend aktiv, führen ein selbstständiges Leben und fühlen sich jünger, als ihr biologisches Alter angibt 1. Ebenso finden wir in dieser Altersgruppe aber auch ca. 15 % sogenannte Geriatriker 2. Als typischer geriatrischer Patient gilt in der Medizin ein Patient mit einem Alter ab 70 Jahren, einer Reihe altersassoziierter Erkrankungen und daher einer hohen Multimorbidität. Um diesen komplexen Anforderungen gerecht zu werden, reicht eine Standardversorgung der Orthopädie-Technik oft nicht aus. Rumpforthesen bzw. Mieder in der Geriatrieversorgung erfordern nicht selten abgewandelte Konstruktionen und einen höheren zeitlichen Aufwand durch mehr Erklärungsbedarf beim Patienten bzw. beim Pflegepersonal.
Typische Indikationen
Am Anfang einer Versorgung mit einem Mieder oder einer Rumpforthese steht eine ausführliche Anamnese. Dabei treten einige Indikationen, die zu einer orthopädietechnischen Versorgung führen, relativ häufig auf (Abb. 1). Als typische Indikationen lassen sich zum Beispiel degenerative Problematiken wie das LWS-Syndrom, eine Spondylarthrose oder Bandscheibenveränderungen nennen. Die altersbedingte Höhenabnahme der Bandscheibe und die damit einhergehende reduzierte Pufferkapazität führen zu unphysiologischen Bewegungen im Wirbelsegment und damit auch zur Druckproblematik sowohl an den austretenden Spinalnerven als auch im Rückenmarkskanal. Die Wirbelgelenke verändern sich ebenso arthrotisch wie das Bewegungssegment selbst, und Knochenausziehungen, sogenannte Spondylophyten, können Rückenmark und Spinalnerven komprimieren 3. Erbliche Vorbelastungen und berufsbedingte Über- bzw. Fehlbelastungen können diese Problematik noch verschärfen.
Das Ziel einer orthetischen Versorgung bei degenerativen Indikationen ist die Entlastung überbelasteter Strukturen wie der Wirbelgelenke oder des durch Bandscheibengewebe verengten Wirbelkanals. Es wird angestrebt, endgradige Bewegungsausschläge zu verhindern und die LWS-Lordose zu reduzieren.
Ebenfalls zu den typischen Indikationen zählen die Tumorerkrankungen. Bei den Tumoren stehen die Metastasen im Vordergrund, da sie im Verhältnis zu den Primärtumoren mit 60 bis 70 % wesentlich häufiger an der Wirbelsäule auftreten 3. Während Primärtumore nach einer Chemotherapie, soweit möglich, operativ entfernt werden und die Wirbelsäule mit Stäben, Schrauben und Cages stabilisiert wird, ist die Versorgung von Wirbelsäulenmetastasen oft nur palliativ möglich. Auch hier kommt die Chemotherapie zum Einsatz. Gerade bei derart therapierten Patienten erschweren die durch die Chemotherapie bedingten Volumenschwankungen und die häufige Änderung der schmerzfreien Position die Versorgung. Des Weiteren sind strahlenbelastete Hautareale während der Therapie meist nicht kontaktfähig. Tumorpatienten werden so in einer schmerzfreien Position gehalten, dass die durch die Tumore geschädigten Bereiche deutlich weniger belastet und damit weniger frakturgefährdet sind.
Noch vor etwa 20 Jahren war die Korsettversorgung nach einer Wirbelsäulenoperation üblich. Heute sind die Ergebnisse der Wirbelsäulenchirurgie in der Regel primärstabil, d. h., eine orthetische Versorgung ist nicht mehr notwendig. Patienten, deren Knochensubstanz allerdings durch altersbedingte Stoffwechselveränderungen oder pathologische Veränderungen insgesamt in einer instabilen Situation ist, werden weiterhin mit Orthesen temporär gestützt, bis die Knochensubstanz wieder in der Lage ist, Bewegungen ohne externen Halt zu tolerieren. Auch können über Orthesen und Mieder Belastung und Bewegung im Therapieverlauf gesteigert werden.
Osteoporose, eine vor allem bei weiblichen Patienten häufige Diagnose, erfordert aufgrund der speziellen Indikation einer entsprechenden Medikation eine andere Art von Orthese. Durch die Ruhigstellung des Körpers besteht die Gefahr eines zusätzlich verstärkten Knochenabbaus, da so der Bewegungsreiz auf den Knochen fehlt. Die orthetische Versorgung von Osteoporosepatientinnen sieht vor allem eine Muskelunterstützung vor, damit sie ihren Alltag wieder meistern können und somit aktiv bleiben 4.
Komorbiditäten und ihr Einfluss auf die Versorgung
Neben der eigentlichen Indikation sind aber auch die oben angesprochenen Komorbiditäten von immenser Wichtigkeit, also altersbedingte Einschränkungen oder zusätzliche Erkrankungen, die weitreichende Auswirkungen auf die Motorik und den Alltag der Betroffenen haben.
Ein erster Test für den selbstständigen Umgang mit den Orthesen und Miedern sind die Anproben, die oft durch eine kurze Stehfähigkeit bei Gleichgewichts- oder Kreislaufproblemen erschwert bzw. verlängert werden. Zudem sind Anprobetermine im Sanitätshaus für manche Patienten schlecht zu realisieren: Alleine können sie nicht kommen, ein Taxi ist nicht bezahlbar, und die nächsten Verwandten, die durchaus Fahrdienste übernehmen, müssen meist arbeiten. In solchen Fällen bietet sich ein Hausbesuch an, der allerdings vom Arzt verordnet sein muss. Auch wenn die Anprobe so nicht unter optimalen Bedingungen stattfindet, ist sie, evtl. auch mit einer zweiten Fachkraft zur Unterstützung beim Halten, die beste Lösung. Bei einem solchen Hausbesuch kann zusätzlich auf ungünstige Sitzmöbel in Bezug auf die Versorgung oder auch auf Stolperfallen wie rutschige Teppiche oder Türschwellen hingewiesen werden.
Die Patienten sollen ihre Versorgungen möglichst lange selbstständig an- und ausziehen, aber altersbedingt nehmen Kraft, Beweglichkeit und Feinmotorik im Laufe der Zeit ab. Vor allem in den Händen führt dies zu Schwierigkeiten beim Anziehen und Schließen von Orthesen und Miedern. Zusätzlich beeinträchtigen Erkrankungen wie Chronische Polyarthritis (Rheuma) die Beweglichkeit der kleinen Gelenke zuerst (Abb. 2). Hier muss bei Verschlüssen von Haken und Augen oder Senkeln abgesehen werden, breite Klettverschlüsse mit eventuell zusätzlicher Greifhilfe sind hier die erste Wahl. Dies kann schon eine Schlaufe für die Finger sein, damit der Gegenhalt für den Verschluss gegeben ist.
Alle Sinne wie Hören, Sehen und Tasten lassen im Alter teilweise erschreckend nach. Oft sehen die Betroffenen nicht, wo das Gegenstück des Klettverschlusses ist, oder die korrekte Zugrichtung der Gurte ist unmöglich einzuhalten, weil die Hände nicht so weit seitlich greifen können. Hierbei gilt: Farbige Kontraste erleichtern das Zusammenführen der Verschlüsse, und diese sollten immer möglichst ventral am Körper liegen. Gurte, die von dorsal kommen, müssen mit einer Schlaufe oder einem Überleger daran gehindert werden, dass sie beim Öffnen zu weit nach hinten fallen. Großzügiges Markieren z. B. von „rechts/links” und „oben/unten” erleichtert den Umgang mit der Versorgung und verhindert ein falsches Anziehen (Abb. 3).
Inkontinenz ist ein klassisches geriatrisches Problem und wird auch als einer der „geriatrischen Riesen” bezeichnet 3. Für die Rumpfversorgung bedeutet das, dass die Unterhosen über der Orthese oder dem Mieder getragen werden müssen. Auf diese Weise ist ein Toilettengang ohne Ausziehen des Mieders möglich. Auf Zwickel sollte hierbei verzichtet werden. Selbst Klettzwickel erfordern gewisse motorische Fähigkeiten, um sie im geöffneten Zustand beim Toilettengang nicht zu beschmutzen und sie danach wieder zu schließen. Die Benutzung von Vorlagen oder Windeln darf durch die Länge des Mieders oder der Orthese nicht erschwert werden. Eventuell muss beim Modellieren einer Kunststoffschale für den Rücken der Platz für eine Windel mit einkalkuliert werden.
Stomaöffnungen werden erst in der Anprobe in die Versorgung eingelassen und zur Fertigstellung mit abwaschbaren Materialien großzügig um die Öffnung abgedeckt. Weiterhin müssen die Mieder meist unterhalb der Beutelhalterung noch zu öffnen sein, denn so ist ein einfacherer Beutelwechsel möglich (Abb. 4).
Stoffwechselerkrankungen führen häufig zur Verordnung einer Rumpfversorgung. Die Osteoporose soll hier stellvertretend für die metabolischen Veränderungen genannt werden, die die Knochenstabilität negativ beeinflussen. Wirbeldeformierungen führen bei dieser Erkrankung zum sogenannten Witwenbuckel und weiter zur ungünstigen Schwerpunktverlagerung mit entsprechender Sturztendenz (Abb. 5). Auch führt die verstärkte Kyphose im Brustwirbelsäulenbereich dazu, dass die Patientinnen vermehrt die Bauchatmung nutzen (müssen). Eine starke abdominelle Anlage in der Versorgung ist bei dieser Patientenklientel also kontraindiziert, da sie die Atemkapazität einschränkt.
Wirbelkörperfrakturen reduzieren bei Osteoporosepatientinnen die Rumpfhöhe und bewirken, dass sich die Weichteile u. a. wie beim Tannenbaumeffekt vertikal „zusammenschieben”. Im ventralen Bereich wölbt sich parallel dazu durch die Höhenminderung des Rumpfes die Bauchdecke weiter vor. Dies alles führt zu einer Körperform, die nicht mehr den allgemeinen Konfektionsgrößen entspricht und durchaus eine Maßanfertigung erfordern kann.
Die Tatsache, dass eine dauerhaft getragene starre Orthese die Auswirkungen der Grunderkrankung noch verstärken kann, ist mittlerweile bekannt. Daher sind die konfektioniert vorgefertigten Osteoporoseorthesen aller Hersteller mittlerweile zum großen Teil elastisch. Untersuchungen auf dem Gebiet der Sensomotorik ergaben, dass die Verwendung elastischer Rückenbandagen die Muskulatur nicht in ihrer Aktivität reduziert 5. Daher ist eine „Trainingshilfe” aus elastischen Materialien in der Osteoporosetherapie das Mittel der Wahl. Bewegung wird für die Patientinnen in der Orthese oft erst möglich oder erträglich und bewirkt so eine Aktivierung mit Kreislaufstabilisierung, erlaubt eine moderate Aufrichtung und reduziert somit die Sturzgefahr. Allerdings gibt es durchaus Unterschiede in der Konstruktion der Orthesen: Materialbedingte Auflagen- und Polsterstärken können zur Ablehnung bei den Patienten führen. Ebenso sollten die Versorgungen optisch von den Betroffenen weitgehend akzeptiert werden, denn sonst ist ihre Wirksamkeit durch die nicht vorhandene Tragezeit aufgehoben.
Nicht nur die Osteoporose führt zu Abweichungen von der physiologischen „Normalform” bzw. den „Normalproportionen”. Extrem große Volumen bei Adipositas lassen keine konfektionierte Versorgung zu. Mieder mit Innenbinde erleichtern hierbei den Anziehvorgang, indem das Mieder über die elastische Innenbinde zunächst am Körper fixiert wird, bevor die eigentliche Versorgung geschlossen wird 6. Teilweise bieten Rumpfstützmieder mit BH-Teil eine passable Lösung, da sie Weichteilfalten und somit Scheuerstellen zwischen Mieder und BH verhindern.
Bei Geriatrikern findet sich aber auch häufig eine reduzierte Weichteilsituation. Das führt bei elastischen und teilelastischen Materialien leicht zum Überspannen von Konkavitäten oder Faltenbildung im Mieder (Abb. 6). Starre Materialien müssen neben einer extrem guten Profilierung auch eine Weichpolsterung enthalten, um Scheuerstellen zu verhindern.
Große Weichteildefekte, wie sie nach Unfällen oder Tumorresektionen vorkommen, lassen sich meist mit Pelotten unterfüttern. So ist die Körpersymmetrie optisch wiederhergestellt, und die Narben werden durch die Pelottenabdeckung zusätzlich geschützt. Altersskoliosen sind in der Regel ebenfalls mit deutlichen Asymmetrien verbunden und erfordern so ein individuelleres Arbeiten. Auch hierbei können Pelotten große Unterschneidungen ausgleichen; allerdings können Betroffene mit dieser Indikation nicht „korrigiert” werden, da die Fehlstellung hier manifestiert ist. Eine zwanghafte Aufrichtung führt bei dieser Patientenklientel zu Überstreckungen in benachbarten Gelenkbereichen und großen Unsicherheiten für Stand und Gang.
Zusammenfassung
Eine Versorgung „nach Schema F” ist in der Rumpforthetik oft nicht möglich, erst recht nicht im Versorgungsfeld der Geriatrie. Mangelnde Beweglichkeit, Komorbiditäten und mit einzubeziehende Pflegepersonen lassen die Versorgung oft zu einer Gratwanderung zwischen Versorgungswunsch, erhoffter Wirkung und realisierbarer Funktion werden. Allerdings wird durch diese Versorgungen auch die Kreativität der Orthopädie-Technik gefordert. Konfektionierte Modelle kommen nur bedingt oder in Kombination mit individuell hergestellten Teilen zum Einsatz, da der geriatrische Patient mit seiner Körperform oft nicht mehr den „allgemeingültigen Körperproportionen” entspricht.
Ein kommunikatives Miteinander ist notwendig: Erklärungen müssen öfter (und teilweise auch lauter) wiederholt werden, bis die Patienten alles verstanden haben und alle Pflegepersonen eine Einweisung bekommen haben. Und wie immer sollte auch hier die Versorgung so mit den Patienten besprochen werden, dass sie akzeptiert und getragen wird und nicht aus kosmetischen Gründen im Schrank liegt oder zu oft an- und ausgezogen werden muss, da sie bei längerem Sitzen stört – denn Sitzen ist die häufigste Körperhaltung im Alter.
Abbildungen 3–6 Quelle: BUFA-Archiv.
Die Autorin:
Bettina Grage-Roßmann
Bundesfachschule für
Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
b.grage-rossmann@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Grage-Roßmann B. Rumpforthetik und Miederversorgung in der Geriatrie. Orthopädie Technik, 2014; 65 (9): 46–49
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
- Knoche W. Fachbeitrag „Geriatrie“. Dortmund: 57. Jahrestagung der FOT, 2013: 11–14
- Kwetkat A. Geriatrisches Screening – Der schnelle Alters-Check. MMW-Fortschr Med, 2010; 152: 42–43
- Niethard U, Pfeil J. Orthopädie. Stuttgart: Hippokrates Verlag, 1992
- Roth A, Lehmann G, Wolf G. Osteoporose – Diagnostik und Therapie. OUP, 2013; 2 (3): 122–128
- Laube W. Sensomotorisches System. Stuttgart: Thieme Verlag, 2009
- Hohmann D, Uhlig R. Orthopädische Technik. 9. Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag, 2005