Drei Kolleg:innen von 21 könnten eigentlich schon im Ruhestand sein, und zwar über alle Abteilungen hinweg: Ein Orthopädietechniker, eine Bürokauffrau und eine Fachverkäuferin. „Im nächsten Jahr kommt dann ein vierter aus unserem Rehabereich dazu“, sagt Martina Dürr. Der Kollege gehe demnächst in Rente, komme aber dann mit reduzierter Arbeitszeit zurück.
Das gilt für alle Senioren bei Barkhofen – keiner arbeitet mehr Vollzeit. Aus unterschiedlichen Gründen. „Ich bin einfach kein Morgenmensch“, sagt etwa Orthopädietechniker Paul Lauterbach schmunzelnd. Der Altgeselle ist 71 Jahre alt und seit 1966 in der Branche zu Hause. Kurz vor seinem 15. Geburtstag ging er in Ausbildung, 1984 begann er für Martina Dürrs Vater zu arbeiten, und als sie 1998 das Geschäft übernahm, ist er gerne geblieben. Beruflich hat sich viel verändert in den fast 60 Jahren seiner Tätigkeit. „Ich habe mich immer für aktuelle Fertigungstechniken und Materialien interessiert.“ Zwar gebe es noch immer Kunden, die bestimmte alte Techniken nachfragten, aber man müsse auch mit der Zeit gehen, findet Paul Lauterbach.
Die durch die Jahrzehnte erworbenen handwerklichen Fertigkeiten schätzt seine Chefin, aber nicht nur die. „Nach 30 Jahren hast du eine vertrauensvolle, erprobte Zusammenarbeit. Und die Kollegen bauen im Laufe ihres Berufslebens auch Beziehungen auf zu Ärzten, zu Therapeuten, zu Patienten. Das ist wertvoll. Wenn jemand mit 80 Jahren ins Geschäft kommt und sieht ein vertrautes Gesicht, und der Kollege kann ihm zum Beispiel seine Prothese noch so warten, wie der Kunde das seit jeher gewohnt ist, dann ist das doch was.“ Deshalb gebe es auch Kunden, die gezielt nach bestimmten Mitarbeitern frage. Paul Lauterbach berichtet von einem kriegsversehrten Patienten, der 98 Jahre alt ist und ein Greissinger-Knie läuft. „Sowas gibt’s heute gar nicht mehr, aber wir können ihm das noch reparieren.“
Martina Dürr weiß um den Wert dieses Wissens. „Wenn so ein qualifizierter Mitarbeiter in Rente geht, nimmt er einen unglaublichen Erfahrungsschatz mit.“ Diesen müsse man beizeiten wertschätzen und an die nächste Generation weitergeben. Das tut derzeit Bürokauffrau Regina Sommerer: Sie freut sich, dass sie wieder eine Auszubildende an ihrer Seite hat. Die 65-Jährige ist sozusagen Spätberufene im Sanitätshaus. „Ich habe schon in verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem als Zahnarzthelferin“, erinnert sie sich. Mit 42 Jahren wagte sie dann die Umschulung zur Kauffrau für Bürokommunikation. „Ich bin ein Zahlenmensch, da bin ich also im richtigen Beruf gelandet.“ Mit 64 Jahren ging Regina Sommerer in Rente; oder vielmehr in den sprichwörtlichen Unruhestand. „Ich mache meinen Beruf wirklich gerne. Also habe ich bei der Geschäftsleitung gefragt, ob ich nicht noch ein paar Stunden ins Büro kommen könnte.“ Genauso hat es auch ihre Kollegin Margit Schneider aus dem Verkauf gemacht: Die 68-Jährige ist offiziell 2017 in Rente gegangen, hat aber auch nach 20 Jahren Berufsleben im Sanitätshaus nicht abrupt Schluss machen wollen. „Ich bin dann auf Frau Dürr zugegangen und habe gefragt, ob ich nicht noch stundenweise weiterarbeiten könnte.“
Die Angebote der Frauen waren willkommen; inzwischen arbeitet Margit Schneider etwa 45 Stunden pro Monat, je nach Bedarf. Regina Sommerer kommt zwölf Stunden pro Woche an zwei Tagen, „ein Midi-Job also“. Für die Bürokauffrau ist das die beste Lösung: „So bleibe ich im Beruf und habe trotzdem Zeit für meine Familie.“ Zum Beispiel für die Nachmittage mit dem Enkelkind. Margit Schneider sieht es ähnlich: „Im Laden bist du unter Leuten, hast Spaß und bist nicht am Abstellgleis.“
Mit etwas weniger Arbeitszeit führt Paul Lauterbach sein Berufsleben fort: „Ich komme immer dienstags und donnerstags am Nachmittag für vier Stunden. Mir hat der Beruf immer gut gefallen, deshalb war ich nach dem Renteneintritt auch nur einen Monat zu Hause.“ Nicht einmal eine überstandene Krebserkrankung hat den Orthopädietechniker von der Werkbank fernhalten können – aber gezeigt, dass Kürzertreten eine gute Option sein kann.
„Lage und Länge der Arbeitszeit kann man gut mit den Kollegen absprechen“, findet Chefin Martina Dürr. „Und sie müssen dann mit der Rentenkasse abstimmen, wie es für sie in Ordnung ist.“ Margit Schneider zum Beispiel berichtet, dass sie entscheiden musste, ob sie von den 450 Euro noch etwas in die Rentenkasse einzahlen wollte. „Das lohnte sich bei mir aber nicht.“ Für die Chefin selbst bedeutete die Weiterbeschäftigung der Rentner lediglich die Rücksprache mit der Lohnbuchhaltung. „Ein besonders hoher bürokratischer Aufwand ist das nicht“, lautet Martina Dürrs Fazit. „Zumal der Gesetzgeber kürzlich die Zuverdienstgrenzen für Rentner ausgeweitet hat, ein Minijob ist jetzt gar kein Problem mehr.“
Besondere Vorkehrungen am Arbeitsplatz musste das Sanitätshaus Barkhofen nicht treffen. Dabei gibt es zahlreiche Handreichungen dafür; unter anderem hat die IHK München Tipps für seniorengerechte Arbeitsplätze erarbeitet – mehr Licht zum Beispiel, oder das Vermeiden von Zugluft. Paul Lauterbach braucht nichts davon: „Naja, an der Schleifmaschine merke ich schon, dass ich nicht mehr ganz jung bin.“ Aber sonst falle ihm nichts ein, was ihm wegen seines Alters beruflich im Wege stehen könnte. Weshalb er im Prinzip immer noch die gleichen Arbeiten verrichte wie früher – mit wenigen Ausnahmen. „Bei bestimmten Sachen sage ich jetzt auch mal nein.“
Dass es kein „Ich muss“ mehr gebe, sondern nur noch ein „Ich kann“ findet auch Regina Sommerer großartig. „Da fällt ganz viel Druck ab.“ Ihre Arbeit hat sich verändert: Früher habe sie alles gemacht, was in der Verwaltung eines Sanitätshauses anfällt: Rechnungs- und Mahnwesen, Kostenvoranschläge erstellen, Vorarbeiten für Buchhaltung und Steuerbüro, Rezeptabrechnungen. „Das alles schafft man in zwölf Stunden pro Woche aber gar nicht.“ Sie erledigt nun vornehmlich die Rezeptabrechnungen; ansonsten macht sie weiter wie gehabt. Dazu gehört auch das Lernen: „Man muss sich auf dem Laufenden halten. Was bei der einen Krankenkasse so geregelt ist, ist bei der nächsten anders und in einem halben Jahr wieder ganz anders.“ Deshalb sei es so wichtig, am Ball zu bleiben. Das sieht Margit Schneider genauso: „Das Fachwissen im Verkauf ist auf jeden Fall da, aber wenn ich mit der neuen Software an der Kasse arbeite, muss ich mich schon konzentrieren.“ Die Bereitschaft, neues Wissen zu erwerben, ist auch Paul Lauterbach wichtig. Und auch Martina Dürr: „Warum sollen sich die Älteren nicht auch weiterbilden?“ Dass diese Kollegen sich gegen Neuerungen sperrten oder öfter krank seien oder weniger belastbar – das könne sie so nicht bestätigen. „Gut, Reha-Betten sollen unsere Älteren jetzt nicht ausliefern müssen. Aber mental sind die oft belastbarer als die Jungen, weil sie sich nach 40 Berufsjahren nicht mehr so leicht ins Bockshorn jagen lassen. Die bleiben auch in schwierigen Situationen gelassen, und das schauen sich die Jungen ab.“ Ein großes Plus der älteren Generation seien auch die große Disziplin und die hohe Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, während junge Mitarbeiter mehr Wert auf eine gute Work-Life-Balance legten. Dafür seien diese oft energiegeladener, innovativer und spontaner. „Deshalb denke ich, dass eine gute Mischung zwischen jungen und älteren Mitarbeitern ideal ist.“
Paul Lauterbach macht sich viele Gedanken darüber, wie schwer es ist, junge Kolleg:innen für den Beruf zu begeistern. „Es ist so ein schöner Beruf. Du kannst Menschen wirklich helfen.“ Die Ursache für den aktuellen Fachkräftemangel sieht er in der Vergangenheit: „Viele haben nach der Ausbildung aufgehört, weil sie im Betrieb nicht ordentlich behandelt worden sind.“ Auch die mäßige Bezahlung könnte ein Grund sein. „Hätte man die Lehrlinge damals besser bezahlt, gäbe es heute mehr Gesellen.“ Sei der Ruf erst ruiniert, sei es sehr schwer, Menschen davon zu überzeugen, dass die Branche sich gewandelt habe.
Auch Martina Dürr bemüht sich schon länger um neue Mitarbeiter; aber trotz fairer Angebote sei es extrem schwierig, Kolleg:innen zu finden. „Ich bin auf jeden Mitarbeiter angewiesen“, sagt sie. Schon deshalb sind die alten Hasen für das Sanitätshaus Barkhofen ein Gewinn. Für die Mitarbeiter ist es die freiere Arbeit. Paul Lauterbach formuliert es so: „Am Stammtisch sagen sie oft zu mir, dass ich blöd sei, noch zu arbeiten. Nö – ich wäre blöd, wenn ich noch Vollzeit ginge. Aber so gehe ich doch gerne!“ Margit Schneider macht andere Erfahrungen: „In meinem Bekanntenkreis gibt es sehr viele, die noch über den Renteneintritt hinaus arbeiten. Viele möchten auf den Zuverdienst nicht verzichten. Und mein Mann hat auch bis zu seinem 70. Lebensjahr gearbeitet. Wenn man fit ist, warum auch nicht?“ Das findet auch Regina Sommerer: „Wenn die Arbeit keine Last ist, wenn das kollegiale Umfeld passt, wenn man noch Freude daran hat, auf dem neuesten Stand zu bleiben – warum sollte man dann aufhören?“
Und wann ist der Punkt zum Aufhören gekommen? Für Paul Lauterbach steht fest: „Solange es Spaß macht, zieh ich durch.“ Regina Sommerer sagt lachend: „Man soll gehen, solange die Leute noch ‚Schade‘ sagen, und nicht ‚Gottseidank‘. Aber im Ernst: Man muss auch irgendwann Platz machen, damit sich der Nachwuchs entfalten kann.“ Solange die Gesundheit mitmacht, will sie bleiben. Einen Plan für den wirklichen Ruhestand hat sie aber inzwischen: „Ich engagiere mich im Behinderten- und Versehrtensportverband. Da könnte ich mir vorstellen, mehr für meine Seniorengruppe zu machen.“
Tamara Pohl