Einleitung
Neue Handsysteme, eine Vielzahl moderner Materialien und Fertigungstechniken sowie individuell einstellbare und anpassbare Steuerungssysteme ermöglichen modernste Prothesenversorgungen, die adäquat auf die Bedürfnisse der jeweiligen Patienten zugeschnitten werden können. Dennoch gelangen auch die modernsten und optimal angepassten Alltagsprothesen angesichts der hohen Anforderungen an ihre Vielseitigkeit an Grenzen. Gefragt sind dann individuelle Lösungen, die speziell auf bestimmte Aktivitäten zugeschnitten werden. Ein großes Feld in diesem Bereich bildet die Sportprothetik, die sowohl bezüglich Schaftgestaltung und Materialien als auch im Hinblick auf die Wahl der Strukturpassteile für diesen speziellen Zweck vor besondere Herausforderungen gestellt ist. Der Artikel behandelt ein nicht alltägliches Versorgungsbeispiel einer Prothese speziell fürs Fahrradfahren und geht insbesondere auf wichtige Erkenntnisse aus der Erprobung ein.
Fallbeispiel
Anamnese
Im Jahr 2016 verlor der Patient, Mitarbeiter einer pyrotechnischen Firma, durch die Explosion eines professionellen Feuerwerkskörpers seinen linken Arm. Amputation und Erstversorgung wurden unfallnah im Universitätsklinikum Köln vorgenommen; später wurde der Patient für eine heimatnahe Anbindung ins BG Klinikum Duisburg verlegt.
In der Sprechstunde zeigte sich ein ultrakurzer Oberarmstumpf bei einem verbliebenen knöchernen Humerusanteil von nur 2 cm Länge (Abb. 1a u. b). Axillar bestand ein stark ausgeprägtes, mit Mesh-Haut bedecktes Narbengewebe, das sich heute jedoch als unempfindlich darstellt. Die Bewegung des kurzen Humerus im Schultergelenk ist durch den Erhalt der muskulären Strukturen der Rotatorenmanschette normal und kann unter der Weichteildecke vom Patienten ohne Einschränkungen, wie sie häufig zum Beispiel durch Kontrakturen oder Narbengewebe entstehen, durchgeführt werden.
Alltagsversorgung
Bedingt durch die ultrakurze Oberarmlänge und die komplette Resektion von Bizeps und Trizeps musste die Alltags-Oberarmprothese wie eine Schulterexprothese mit einer Bandage gefertigt werden. Diese Prothese ermöglicht es dem Patienten, über fünf verschiedene Steuerungspotenziale den verwendeten „DynamicArm Plus“ (Ottobock, Duderstadt), einen Drehmotor sowie zwei wechselbare Handsysteme anzusteuern. Zudem lässt sich das Schultergelenk der Firma Palmer (Angelbachtal) über einen Sperrzug mechanisch ent- bzw. verriegeln. Diese prothetische Versorgung wurde unter dem Aspekt des maximalen funktionalen Mehrwerts für die alltäglichen Bedürfnisse des Patienten zusammengestellt und kann von ihm in seinem privaten wie beruflichen Alltag gut und stetig genutzt werden. Lediglich bei den Belastungen während des Radfahrens gelangte diese Versorgung an ihre Grenzen; zudem verunsicherte den Patienten die fehlende Sicherheitsauslösung bei einem eventuellen Sturz.
Planung der Sportprothese
Heute ist der Patient ein aktiver Familienvater und möchte gemeinsam mit seiner jungen Familie mit dem Fahrrad mobil sein und auch sportlich aktiv Rad fahren. Um den speziellen Anforderungen und den hohen Belastungen beim Fahrradfahren gerecht werden zu können, sollte er mit einer auf diese besondere Situation abgestimmten zusätzlichen Prothese versorgt werden. Aufgrund des für den Patienten zu erwartenden Mehrwerts und Gebrauchsvorteils sowie einer erhöhten Lebensqualität ließ sich auch der zuständige Kostenträger überzeugen und bewilligte die geplante Sportprothese.
Bei der weitergehenden Versorgungsplanung und Prothesengestaltung lag ein besonderes Augenmerk auf den folgenden drei Aspekten:
- auf der Gestaltung des Schafts und den darauf einwirkenden Kräften,
- auf den Stumpfbelastungen beim Fahren sowie
- auf den an die herrschenden Kräfteverhältnisse angepassten Strukturpassteilen.
Zudem wurde überlegt, welche weiteren Faktoren Einfluss auf die prothetische Versorgung speziell beim Fahrradfahren ausüben. So gibt es unterschiedliche Lenkerbreiten sowie verschiedene Sitzhöhen und Rahmengrößen, die Einfluss auf die Belastung im Prothesenschaft haben. In diesem Zusammenhang stellten sich folgende Fragen:
- Wie kann die prothetische Versorgung adäquat an verschiedene Situationen beim Fahrradfahren angepasst werden?
- Wie handhabt der Patient die Prothese, wenn er während der Radtour eine Pause macht? Ist es beispielsweise praktikabel und zumutbar, bei Pausen den Prothesenschaft stets auszuziehen?
- Wie kann das Verletzungsrisiko bei einem Sturz für den Patienten möglichst minimal gehalten werden? Welche Sicherheitsmechanismen sollten bei einem Sturz greifen?
- Sind weitergehenden Maßnahmen nötig, um sicher am Straßenverkehr teilnehmen zu können?
In diesem Versorgungsfall zeigte sich, dass der Prothesenträger den Wunsch hatte, jederzeit die Passteilstruktur eigenständig und einfach vom Schaftsystem trennen zu können, sodass er bei Pausen den angelegten Schaft weiterhin tragen kann und beim Fortsetzen der Radtour lediglich die Passteilstruktur ans Schaftsystem anmontieren muss. Zudem sollten Schaftpassform und ‑gestaltung sowie der Aufbau der Passteile dem Patienten eine maximale und intuitive Kontrolle des Fahrrads ermöglichen. Im Notfall muss außerdem eine schnelle Sicherheitsentriegelung der Greifkomponente vom Fahrradlenker möglich sein.
Um wieder sicher am Straßenverkehr teilnehmen zu können, bedarf es einiger zusätzlicher Umbauten am Fahrrad: Die Vorderradbremse kann über die rechte Hand am Lenker betätigt werden, während die Hinterradbremse mittels Rücktritt angesteuert wird; auch eine Kombinationsbremse wäre praktikabel. Zudem muss eine Möglichkeit geschaffen werden, Richtungswechsel mit dem Fahrrad ohne Handzeichen deutlich anzuzeigen.
Um auf verschiedene Sitzpositionen sowie individuelle Anforderungen bezüglich der Positionierung der Greifkomponente Einfluss nehmen zu können, wurde nach dem anatomischen Vorbild des Schultergelenks ein Kugelgelenk in Verlängerung des kurzen Humerus geplant. Als Ellbogen wurde das Modell „Bike-Ellbogengelenk 504B09“ der Firma Neuhof (Nürnberg) vorgesehen; hinzu kommt ein „Free-Lock“-Greifsystem der Firma Stel Orthopaedie BV (Tynaarlo, Niederlande). Das „Free-Lock“-Greifsystem erlaubt bei einer 90°-Stellung zum Lenker eine freie Beweglichkeit innerhalb von 20° zur Kontrolle des Fahrrads; außerhalb dieses Bereichs greift die Sicherheitsentriegelung. Wie bei individuellen Planungen und Anpassungen im Bereich der oberen Extremität üblich, sollten diese beiden Bauteile per Sonderanfertigung – jeweils mit voller Herstellerhaftung – erstellt und dann miteinander kombiniert werden.
Gipsabdruck
Während des Gipsabdruckes wurde die Sitz- und Belastungsposition auf dem Fahrrad simuliert. Mit Gipslongettenbahnen wurde sodann die Situation abgeformt; für die Positionierung der Passteilstruktur wurden die Lotlinien übertragen (Abb. 3).
Erste Anprobe
Im Verlauf der ersten Anprobe zeigte sich, dass die vorab simulierte Position nicht der tatsächlichen Position des Patienten auf dem Fahrrad entsprach; dennoch konnte der Diagnoseschaft genutzt werden, um einen ersten Überblick zu erlangen und notwendige Modifikationen festzulegen. Die vorbereitete Bandage wurde montiert; in Verlängerung des ultrakurzen Humerus wurde das Kugelgelenk angebracht. Daran konnte dann die Passteilstruktur aus Renkverschluss, Bike-Ellbogen und „Free-Lock“-Greifsystem montiert werden (Abb. 4a u. b).
Das Kugelgelenk ermöglichte eine schnelle und einfache Anpassung an den korrekten Abduktionswinkel der Passteilstruktur im Vergleich zur kontralateralen Seite. Hier zeigte sich, dass die Winkelstellung des Kugelgelenks großen Einfluss auf die Belastungssituation des Prothesenschafts hat: Bei der Kontrolle der Passform unter Last war zu sehen, dass der Patient seinen Humerusstumpf im Gewebe in die krafteinwirkende Richtung bewegte, was es bei der Schaftform zu berücksichtigen galt. Die Modifikationen wurden am Gipsmodell durchgeführt.
Neuer Probeschaft
Der neue Probeschaft (Abb. 5) bildete die Stumpfsituation auf dem Fahrrad deutlich besser ab als sein Vorgänger: Hals und Nacken hatten nun genügend Freiraum für einen sicheren Überblick im Straßenverkehr (Schulterblick); prominente knöcherne Strukturen waren entlastet. Position und Stellung des Kugelgelenks wurden übertragen und Befestigung und Verlauf der Bandage in den neuen Probeschaft übernommen.
Erste Erprobung
Die erste Testfahrt zeigte allerdings, dass das geplante Kugelgelenk zwar eine einfache und komfortable Einstellung ermöglichte, aber deutliche Nachteile bezüglich Stabilität und Sicherheit der Konstruktion aufwies: Die ständigen Erschütterungen während des Fahrens sowie die Krafteinwirkung des Körpers auf die Prothese führten zu immer größeren Abweichungen der Gelenkstellung während der Fahrt. Auch konnte der Patient die Sicherheitsentriegelung der Greifkomponente nicht aus einer Bewegung der Schulter heraus mit eigener Kraft auslösen – der Versuch bewirkte lediglich eine weitere Winkelveränderung des verwendeten Kugelgelenkes. Es wurde deutlich, dass die Bauteilstrukturen überdacht und angepasst werden mussten.
Modifikation
Das Kugelgelenk wurde durch ein stabiles am Schaft fixiertes Stahlblech ersetzt, an dem mittels vier Verschraubungen die weiteren Strukturpassteile anmontiert wurden. Dabei entsprach der Winkel der Stahlplatte dem in der Erprobung ermittelten optimierten Winkel des ursprünglichen Kugelgelenkes. Um die Prothese weiterhin auf verschiedene Lenkerbreiten, Sitzpositionen und Rahmengeometrien von Fahrrädern abstimmen zu können, ist eine winkelstabile Anpassung über die Verschraubung verschiedener Winkelplatten zwischen der Ansatzplatte am Schaft und dem Renkverschluss möglich. Zudem wurde eine weitere Greifkomponente, die „Bikehand Pivot“ der Firma Neuhof, erprobt (Abb. 6).
Zweite Erprobung
Im Laufe der zweiten Erprobung gewann der Patient durch die nunmehr winkelstabile Konstruktion ein immer sichereres Gefühl auf dem Fahrrad: Anfänglich vorsichtig und langsam gefahrene Kurven wurden mit zunehmender Geschwindigkeit absolviert; Slalomfahrten und sportliches Fahren im Stehen bergauf konnten umgesetzt werden; sogar einhändiges Fahren mit dem Prothesenarm gelang ohne Schwierigkeiten. Das Gefühl, die Prothese als direkte Verlängerung des Oberarms zu spüren, vermittelte dabei zusätzliche Sicherheit (Abb. 7).
Endergebnis und Gefahrenabwägung
Die nun montierte Greifkomponente „Bikehand Pivot“ ermöglicht dem Patienten, diese ohne Zuhilfenahme der kontralateralen Hand vom Lenker zu lösen; die mögliche ulnare und radiale Seitwärtsbewegung im Passteil lässt sich über eine Friktionseinstellung an die Bedürfnisse des Patienten anpassen, der somit eine optimale Lenkkontrolle über das Fahrrad erreicht. Diese Vorteile überzeugten sowohl den Patienten als auch den Techniker, diese Greifkomponente zu wählen.
Die Wahl der Funktionsteile, die für diesen Belastungsfall entwickelt wurden und vielfach erprobt sind, die zudem auf Erfahrungen aus anderen technischen Bereichen basieren (Skibindung), minimiert das Risiko für den Prothesenträger. Dennoch gilt es auch hier, immer höchste Umsicht und Vorsicht walten zu lassen und entsprechende Sicherheitsreserven zu berücksichtigen, um das Risiko so gering wie möglich zu halten.
Um gewährleisten zu können, dass im Notfall das Auslösemoment der Greifkomponente vom Griff immer gleich bleibt, wurde der Lenkergriff „HB/Grip 30“ von Stel (siehe oben) und die „Bikehand Pivot“ von Neuhof (siehe oben) aufeinander abgestimmt. Der definitive Prothesenschaft (Abb. 8) bedeckt möglichst wenig Hautoberfläche, damit die Körperwärme beim sportlichen Fahren gut entweichen kann. Trotzdem bietet der luftige Zuschnitt genügend Anlage, um Steuerungsbewegungen aus dem Stumpf in den Prothesenschaft übertragen zu können.
Damit die Last beim sportlichen Fahren gut auf die Strukturteile übertragen werden kann, musste der Rahmen in ausreichender Festigkeit gefertigt werden. Eingearbeitete HTV-Silikonpads im Bereich knöcherner Strukturen im Lastbereich wirken stoßabsorbierend und erhöhen den Tragekomfort zusätzlich. Durch das verwendete Material und die Schaftgestaltung ist die Prothese leicht, aber robust, belastbar und formstabil. Schaftgestaltung, verwendete Materialien und Passteile ermöglichen dem Patienten eine sichere und bewusste Steuerung des Fahrrades, sodass verschiedene Untergründe, Steigungen, Kurven oder auch notwendiges einhändiges Fahren zu bewältigen sind. Durch die automatische schnelle Sicherheitsentriegelung wird das Risiko bei plötzlichen Gefahrensituationen oder einem Sturz zusätzlich minimiert, und die oben genannten Umbauten am Fahrrad ermöglichen eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr (Abb. 9a–d).
Fazit
Es hat sich gezeigt, wie wichtig Diagnoseschaft und Testprothese sind, damit Schaftgestaltung, Prothesendesign und Passteile in der Erprobung adäquat an die Bedürfnisse des Patienten und die Materialanforderungen angepasst werden können. Nur durch eine optimal auf den Patienten abgestimmte Sportprothese kann dieser den sich neu eröffnenden Nutzen auch voll ausschöpfen.
Der Autor:
Ben Kentenich, OTM
Orthopädietechnik von Bültzingslöwen GmbH
Am Unkelstein 8
47059 Duisburg
kentenich@otsvb.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kentenich B. Prothesenversorgung zum Radfahren bei ultrakurzem Oberarm – ein Fallbeispiel. Orthopädie Technik, 2022; 73 (10): 24–28
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