Als Sohn des gelernten Landwirtes und Werkzeugmachers Hans Botta konnte Pierre von Kindesbeinen an die Entwicklung des Familienunternehmens „Botta & Fils“, das heute von seinen beiden Söhnen Remy und Michel in der dritten Generation fortgeführt wird, begleiten. Beflügelt durch das Engagement und den Tüftlergeist seines Vaters wurde Pierre in eine innovative orthopädietechnische Welt eingeführt und konnte gemeinsam mit seinem Bruder Bertrand das Lebenswerk des Vaters fortsetzen.
Für Pierre stand stets seine Familie im Mittelpunkt seines Lebens. Dort tankte er auf und schöpfte die vielen Kraftreserven, die sein Beruf von ihm forderten. Er durfte auf ein erfülltes Familienleben mit seiner bereits vor Jahren verstorbenen und innig geliebten Frau Trudi zurückblicken und konnte sich stolz und dankbar bis zuletzt an seinen fünf Kindern mit Enkeln und Urenkeln erfreuen.
Pierre war bereits früh in caritative Arbeiten und Engagements in Ärztemissionen des Roten Kreuzes und der Entwicklungshilfe eingebunden und durfte hierbei erfahren, wie es durch entsprechendes Fachwissen und Einfallsreichtum auch mit wenigen Mitteln gelingen kann, gute Versorgungsergebnisse für die bedürftigen Patienten zu erreichen. Letztendlich eine bewundernswerte, prägende Eigenschaft, die sein Schaffen über die vielen folgenden Berufsjahre geprägt hat.
An der Seite seines langjährigen Schweizer Weggefährten und Mediziners Prof. René Baumgartner konnte er über viele Jahrzehnte wertvolles Fachwissen sammeln, neues schaffen und auch entsprechend an die Fachwelt weitergeben, wofür die ersten drei Bände ihres gemeinsamen Standardwerkes „Amputation und Prothesenversorgung“ aus den Verlagen Enke (später Thieme) ein höchst beeindruckendes Zeugnis ablegen. Gemeinsam zählten Baumgartner und Botta auch zu den Gründungsmitgliedern der „Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Prothesen und Orthesen“, kurz A.P.O. genannt, der Pierre von der ersten Stunde an als Vizepräsident zur Verfügung stand.
Viele Neu- und Weiterentwicklungen ins Leben gerufen
Das Zusammenwirken beider Disziplinen, der Amputationschirurgie und der Technischen Orthopädie, konnten sich beide zunutze machen und viele Neu- und Weiterentwicklungen zum Wohle der ihnen anvertrauten Patienten gemeinsam ins Leben rufen.
So ist es nicht verwunderlich, dass Pierres Verdienste auch in der Medizin nicht unbeachtet blieben. Zu Recht wurde ihm daher 1999 seitens der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (DGOT), der heutigen DGOOC, die Hohmann-Plakette für sein Gesamtwerk verliehen, im Jahre 2004 von der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie die Ehrenmitgliedschaft. Pierre war zudem Ehrenmitglied der ISPO-Österreich und der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Prothesen und Orthesen (APO).
Wer Pierre und sein Arbeitsumfeld gekannt hat, weiß jedoch auch, dass sein Schaffensdrang nicht ausschließlich auf seiner handwerklichen Leistung beruhte. Für Pierre stand stets der ganze Mensch im Fokus. Seine besondere Stärke lag in einer ausgeprägten Empathie für seine Patienten und deren Lebenssituationen, welche er nicht zuletzt auch aus seinem tiefgründigen christlichen Glauben speiste. Gepaart mit einem herausragenden technischen Geschick konnte er diese zur Technik mindestens genauso wichtige und versorgungsrelevante Fähigkeit in seiner Arbeit geradezu perfektionieren.
„Botta-Versorgungen“ wurden zum Markenzeichen
Viele innovative orthopädietechnische Lösungen zeichnen Pierres beruflichen Weg. Sein besonderes Augenmerk galt den funktionalen Schaftgestaltungsvarianten in allen Versorgungsebenen der Beinprothetik. Dabei stand das Prinzip des Vollkontaktschaftes immer an erster Stelle. Weitere Errungenschaften waren der kosmetische Zehenersatz, die Rückfußrahmenprothese, die Unterschenkelkurzprothese nach Botta, die er aus der amerikanischen PTB-Prothese weiterentwickelte, nicht zu vergessen sein CAT-CAM-Schaft für Oberschenkelamputierte, den er wie kein Zweiter in Holz fertigen konnte, begleitet von vielen Variationen und Einzelfalllösungen. Ihm gelang es, seine Patienten mit hochfunktionalen und individuell an die Situation angepassten Prothesen und Orthoprothesen zu versorgen. Dabei war insbesondere die Versorgung der Knieexartikulationspatienten eine Herzensangelegenheit. Pierre sah früh die funktionelle Qualität dieser Amputationshöhe und entwickelte zielgerichtet die prothetische Versorgung inkl. Gipstechnik und Passteilen weiter. Auch die adäquate ästhetische Gestaltung seiner handwerklichen Erzeugnisse war ihm von Beginn an besonders wichtig und ein Markenzeichen der „Botta-Versorgungen“. Mit der „Botta-Kosmetik“, einer anspruchsvollen Form- und Farbgestaltungsvariante, konnte er diese Gedanken grundlegend und zum Wohle vieler Amputierter in unserem Fach etablieren.
Sein engagiertes und familiär geführtes Team verstand er dabei stets und bei allen Schritten mitzunehmen und zu motivieren, hin bis zur gemeinsamen Entwicklung von prothetischen Gelenksystemen für Kinder und Erwachsene, technischen Sonderlösungen wie z. B. dem abnehmbaren Oberschaft für Unterschenkelprothesen, verschiedenen Orthoprothesen-varianten, den Knieexartikulationsschäften. Besonders stolz war er auf seine Socketfinder-CAD-CAM-Bibliothek, bei der er seine unterschiedlichen Prothesenschaftformen archivierte und mittels CNC-Frässystemen reproduzierte.
Pierre prägte mehrere Generationen von Orthopädietechnikern mit seinem Innovationsgeist, seinem Fachwissen und dem situativen Gespür für seine Mitmenschen. Er verstand es wie kein Zweiter, die Form‑, Material- und Passteilauswahl seiner Prothesen oder Orthoprothesen im Einklang mit den Bedürfnissen und Wünschen seiner Patienten zu gestalten.
Wir verneigen uns an dieser Stelle vor einer außerordentlichen Lebensleistung, die Pierre Botta stets mit viel Hingabe, Großzügigkeit und Liebe für seine Mitmenschen verband.
Als Meister seines Faches und vor allem auch als Mensch war Pierre ein großes Vorbild für Generationen von Orthopädietechnikern. Er wird uns mit seinem Wirken und seinen vielen Errungenschaften unvergessen bleiben. Es ist nun an uns, diese wertvolle Arbeit fortzuführen und Pierre ein ehrendes Andenken zu bewahren.
Für die Autoren M. Schäfer
„Der Name Botta geisterte an meiner Ausbildungsstätte in Münster schon lange herum. Lief eine Prothesenversorgung nicht so, wie René Baumgartner es sich vorgestellt hatte, so wurden die dortigen Techniker gern darauf verwiesen, dass „der Botta“ das besser könne – nicht zur Begeisterung der Münsteraner Mannschaft. Ich selbst hatte dann im Rahmen einer Fortbildungsreise der ISPO Deutschland, organisiert von René Baumgartner, die Möglichkeit, den „großen Pierre“ erstmals besuchen zu dürfen. Und wen traf ich an? Einen bescheidenen, freundlichen, ja fast scheuen Vertreter seines Faches, der in einem blütenweißen Kittel in seiner Werkstatt seine beeindruckenden Entwicklungen und Versorgungen demonstrierte.
In bleibender Erinnerung ist mir dabei die rücksichtsvolle, ja fast liebevolle Gipsabnahme bei einer Knieexartikulationspatientin geblieben. Pierre hatte sich zuvor eingehend und hoch empathisch mit der Patientin über deren Wünsche und Bedürfnisse unterhalten. Besonders überraschend war, dass wir schon zwei Tage später die fertiggestellte Prothese ansehen durften. Beeindruckend waren auch seine Gedanken zu den Oberschenkelschäften, die sehr frühzeitig die Möglichkeiten der IT-Technik, der Nutzung von Fräsmaschinen und insbesondere, damals schon vorausschauend, die aus meiner Sicht brillante Idee eines Archivs beinhaltete, dem Vorstadium des späteren Socket-Finders.
Eine Patientin, die ich an meiner neuen Arbeitsstätte hier in Bad Rothenfelde aufgrund eines hohen kosmetischen Anspruchs an Pierre verwiesen hatte, kam mit einer ideal passenden und kosmetisch hoch anspruchsvoll gestalteten Schaftversorgung begeistert wieder zurück: „Endlich jemand, der mich und meine kosmetischen Ansprüche ernst genommen hat!“ Die Dame ist Pierre bis ins hohe Alter als Patientin treu geblieben.
In den Folgejahren hat sich aus dieser Kooperation eine schöne Zusammenarbeit entwickelt. Pierre kontaktierte mich gern, wenn es um Fragen der Amputationschirurgie und Rehabilitation ging, ich selbst konnte bei schwierigen Prothesenversorgungen immer auf Pierre zurückgreifen. Ich habe Pierre Botta extrem geachtet.”
„Pierre Botta habe ich in den 80er Jahren vorwiegend über die guten Beziehungen zu Prof. René Baumgartner kennengelernt. René war mit Pierre Botta gut befreundet und hatte die ersten drei Auflagen des erfolgreichen Buches „Amputation und Prothesenversorgung“ herausgegeben. Sie waren damit die Vorreiter unserer 4. Auflage, die wir, Greitemann, Brückner, Schäfer, noch zusammen mit Baumgartner 2016 neu auflegen durften.
Pierres respektvollen Umgang mit den Menschen und die besondere Kunst beim Bau von Prothesen haben wir immer bewundert. Er brauchte nicht unbedingt und vordergründig den Computer, denn er hatte einen scharfen Blick, großen Sachverstand und besonders sensibel abtastende Hände.
Mit diesen war er in der Lage, Feinheiten zu erkennen und herauszuarbeiten. Er war in seinem Fach ein wahrer Künstler. Es gelang ihm, für Patienten, die nicht versorgbar schienen, z. B. Holz-Schäfte für sehr kurze Oberschenkelstümpfe anzufertigen.
Immer wieder denken wir an seine Vorstellung eines Oberschenkelschaftes (CAT-CAM) anlässlich der Bad Klosterlausnitzer Symposien 2003 und 2004 zurück. Dort präsentierte er die sitzbeinumgreifende Schafttechnik, welche den Stumpf, ohne Druckspitzen zu erzeugen, in den Schaft gleiten ließ.
Sein Können war sein bestes Aushängeschild und das führte zu weltweiter Anerkennung. Die Funktion der Prothese war ihm genauso wichtig wie die Kosmetik und damit die „Tarnung“ einer künstlichen Extremität. Wir werden Pierre immer gerne gedenken und seine großartige Leistung in Vorträgen und Schulungen würdigen.”
„Ich kann mich an einen Besuch bei Pierre in den frühen 90ern erinnern. Damals hatte ich gerade das Probearbeiten an meiner zweiten beruflichen Wirkstätte in Bad Krozingen absolviert und bin direkt im Anschluss kurzerhand für zwei Tage nach Biel gefahren, um Pierre und seine Werkstatt näher kennenzulernen. Damals beschäftigte sich Pierre gerade intensiv mit der Versorgung einer Patientin, die aufgrund eines hypertrophen und birnenförmigen Unterschenkelstumpfes schwer zu versorgen war. Zudem hatte sie einen hohen kosmetischen Anspruch an die Prothese. Pierre stellte mir in diesem Zusammenhang seine speziell hierfür zugerichtete Botta-Unterschenkelkurzprothese vor, die er zu diesem Zwecke mit einem dünnen Weichwandschaft und 2‑teiliger ineinandergreifender und doppelwandiger Carbonschaft-Außenschaftgestaltung mit asymmetrischem Zuschnitt versehen hatte. Durch diese technische Lösung konnte er die Konturen des birnenförmigen Stumpfes nutzen und wertvollen Raum für die Formgestaltung gewinnen. Mit einer ebenfalls kaum sichtbaren geteilten Botta-Kosmetik wurde das ästhetische Äußere der Prothese vollendet. Die Botta-Kosmetik ist auch heute noch eng mit unserem Arbeitsalltag verwurzelt und findet an vielen Prothesen und Orthoprothesen zum Wohle der vielen Anwender ihren Einsatz. Beeindruckt hatte mich an Pierre immer wieder, wie er sich von seinem strukturierten Vorgehen für einzelne Patienten komplett lösen konnte, um mit einem vollkommen neuen empirischen Ansatz zu einem besseren Ergebnis zu gelangen. Das war Pierre – ein Vollblut-Orthopädist mit Leib und Seele, immer auf der Suche nach dem Besseren zum Guten. Ein wahres Vorbild für unser Fach.“
„Beeindruckt von Pierres vielfachen Erfolgen und Lösungsansätzen wurde ich von Prof. Baumgartner im Jahre 1986 zur prothetischen Versorgung zu Pierre geschickt. Ich war seinerzeit als junge Orthopädin an der Uniklinik in Münster tätig und fuhr in Begleitung eines Orthopädietechnikers, der die Technik lernen sollte, nach Biel.
Als wir gemeinsam das Prothesendesign besprachen und ich meinen ausschließlichen Wert der Prothese auf ihre Funktionalität bemaß – an eine schöne Kosmetik hatte ich damals nicht mehr geglaubt – belehrte Pierre mich eines Besseren: „Funktion und Kosmetik sind in gleicher Weise wichtig und wertvoll für eine Prothese.“ Noch wusste ich nicht, was er damit meinte.
Als die Prothese dann freitagmittags fertig gestellt war, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sogar Zehennägel waren in die „Botta-Kosmetik“ eingearbeitet. Ein wahres Kunstwerk! Pierre drückte mir 200 Schweizer Franken in die Hand und schickte mich zum Rock kaufen nach Biel. Ohne Rock solle ich mich ja nicht blicken lassen. Ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen – der Rock war gelb-orange und hellblau mit einer gelben Bluse, dazu eine offene Sandale. Unglaublich. Als ich zurückkam, haben sich die Techniker nach mir umgedreht und laut gepfiffen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl – für mich hatte ein neues Leben angefangen.“
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