Die Paralympics-Doku, die am 26. August beim Streamingdienst Netflix an den Start ging, reflektiert die Geschichte der Paralympics und ihre Bedeutung für die Sportler. Dazu lassen Elite-Sportler und Insider das Publikum auf einer sehr persönlichen und emotionalen Ebene an den eigenen Lebensgeschichten, sportlichen Erfolgen und Misserfolgen sowie Tiefen und Höhen des inzwischen drittgrößten Sportereignisses der Welt teilnehmen.
„Eure Geschichten und die Stärke, die ihr repräsentiert, sind einfach unglaublich. […] Man muss drüber sprechen, um Klischees und Vorurteile loszuwerden“, sagte Prinz Harry zur Feier des Filmstarts in einer Zoom-Gesprächsrunde. Mit dem Herzog von Sussex und Gründer der Invictus Games hat die Original-Netflix-Dokumentation einen prominenten Unterstützer, der dort mit mehreren Statements eine Lanze für die Bewegung, die hinter den Paralympis steht, bricht. „Für mich […] sind diese Menschen und ihre Erfolge motivierender als Bücher oder Unterricht. Denn nichts ist inspirierender als Zeuge des
scheinbar Unmöglichen zu sein.“
Kaleidoskop starker Geschichten
Die beiden Filmemacher Ian Bonhôte und Peter Ettedgui inszenieren davon ein ganzes Kaleidoskop. Die Geschichten der neun Paralympioniken – Bebe Vio (italienische Rollstuhlfechterin), Ellie Cole (australische Schwimmerin und Rollstuhlbasketballerin), Jean Baptiste Alaize (französischer Sprinter und Weitspringer), Matt Stutzman (US-amerikanischer Bogenschütze), Jonnie Peacock (englischer Sprinter), Cui Zhe (chinesische Powerlifterin), Ryley Batt (australischer Rollstuhlrugbyspieler), Ntando Mahlangu (südafrikanischer Leichtathlet) und Tatyana McFadden (US-amerikanische Teilnehmerin am Rollstuhl-Marathon und Skilangläuferin) – sind zum einen ein Sinnbild der Diversität der Menschen mit Behinderung. Jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte. Was sie zum anderen dennoch alle eint: Jeder von ihnen musste Grenzen überschreiten.
Am intensivsten erlebt das Publikum dies durch Beatrice Vio, deren Einblicke in ihre Entwicklung die inhaltliche Klammer der Doku bildet. Ihrem früheren Spitznamen „Phönix aus der Asche“ verdankt die Netflix-Doku auch ihren Filmtitel. Ihre sportlichen Ambitionen wurden jäh unterbrochen, als die damals elfjährige Nachwuchsfechterin durch eine Hirnhautentzündung erst ihre Arme und schließlich auch ihre Beine amputieren lassen musste. „Wie der Phönix aus der Asche musste ich von vorne anfangen, jede Bewegung neu lernen. Am Anfang ist alles unmöglich. Man muss an sich glauben und tun, was man will“, schildert die junge Italienerin, die sich anfangs das Florett mit Klebeband an der Hand befestigen ließ, um sich ihren Traum auf das „Paradies“ (Olympia respektive Paralympics) zurückzuerobern.
Künstlerisch hohes Niveau
Und so beeindrucken alle neun Paralympioniken die Zuschauer durch ihren Kampfgeist. Dabei setzen die Filmemacher nicht nur auf die bewegenden Geschichten und Erfolge der Athleten, sondern transportieren diese auf künstlerisch hohem Niveau. Besondere Kameraperspektiven, ausdrucksstarke Landschaftspanoramen und Kulissen und kraftvolle Aufnahmen unterstreichen den bildgewaltigen Charakter der Paralympics-Doku. Gewaltig ist etwa der Eindruck, den die Kameraführung den Zuschauern bei einer Ryley Batt’schen Rollstuhlrugby-Sequenz vermittelt, um hautnah erleben zu lassen, wie krachend-dynamisch und schonungslos Behindertensport sein kann. Auch die individuellen Interviewkulissen sind sorgfältig gewählt und auffällig inszeniert, um einmal mehr die Ausdruckstärke der Parasportler zu unterstreichen. Effektvoll sind auch die (Natur)-Szenen – Symbole der Stärke, Ebenbürtigkeit, Freiheit, Unendlichkeit, des Fliegens, aber auch der Grazilität, die die Athleten mit ihrem Sport assoziieren. Die Doku lässt nicht zuletzt durch dramaturgisch geschickt gewählte emotionale Szenen – bei erinnerungswürdigen Wettkämpfen – für den Gedanken von Paralympics und für die Erfolge der Parasportler mitfiebern. Einer der stärksten dramaturgischen Momente der Dokumentation: Als die 19-jährige Bebe Vio bei den Paralympics in Rio 2016 ihren Triumph aus voller Brust herausschreit, sie die Anspannung von vier Jahren Vorbereitung nahezu aus ihrem Körper sprengt.
„Jeder entdeckt irgendwann seine Superkraft“
„Du verleihst uns heute Flügel“, brachte es der Pilot in seiner Ansprache an Bebe Vio in einem finalen Gänsehautmoment der Doku, auf dem Rückflug von Rio, auf den Punkt. Denn die Paralympioniken wollen mit ihren Geschichten auch als Mutmacher dienen, als Vorbilder für Menschen mit und ohne Behinderung, an ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben, Zuversicht zu schöpfen. „Jeder entdeckt irgendwann seine Superkraft, man muss seine Lage akzeptieren und ihre Schönheit entdecken“, wie Bebe Vio eine der Kernbotschaften der Doku zusammenfasst.
Diese setzt hauptsächlich auf die Hoffnung, durch ihre Protagonisten, die ihrerseits Ausnahmepersönlichkeiten sind, mit dem Klischee der Chancenlosigkeit von Menschen mit Behinderungen aufzuräumen und die Gesellschaft zu begeistern und zu inspirieren. Allen voran durch den Gefühlskrimi um die Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016 schaffen es die Insider– Sir Philip Craven MBE (früherer Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees), Xavier Gonzalez (früherer Geschäftsführer des IPK), Andrew Parsons (IPK-Präsident) und Eva Loeffler OBE (Tochter von Sir Ludwig Guttmann CBE) – in ihren Interviews dem Publikum Einblicke in die Höhen und Tiefen der Paralympics zu gewähren und damit für den Gedanken der Paralympischen Spiele zu sensibilisieren. Der in Rio einen Meilenstein gefeiert hatte.
Bei aller Euphorie, die „Phönix aus der Asche“ gekonnt transportiert, klingen kritische und mahnende Töne in der Doku nur am Rande mit. „Sir Ludwigs Vision (Anmerkung der Redaktion: Der Neurologe und Neurochirurg Sir Ludwig Guttmann schuf die Grundlagen für die Behandlung Querschnittgelähmter, war Förderer des Behindertensports und legte den Grundstein für die Paralympischen Spiele) hat sich nicht erfüllt. Denn noch immer werden die Menschen, die wir behindert nennen, weder ermutigt noch von der Gesellschaft vollumfänglich akzeptiert. Was Sir Guttmann begann, ist heute wichtiger denn je.“ Die Aussage von Prinz Harry wirkt nach dem Erfolg von Rio in der Dramaturgie der Doku daher etwas abrupt. Nur einzelne Anspielungen der Athleten auf Mobbing, Ausgrenzung und Diskriminierung in ihrem Alltag verdeutlichen, dass das Ziel trotz des Imagegewinns der Paralympischen Spiele noch nicht erreicht ist.
Einstimmung auf Tokio
Denn, obwohl ein guter Anfang, reicht es nicht aus, Teil eines großartigen Sportereignisses zu sein – ob im Stadion oder am Bildschirm – und sich von der elektrisierenden Atmosphäre anstecken zu lassen. Die Gesellschaft muss darüber hinaus auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Menschen mit Behinderung ihre Teilhabe ausleben können. Dazu gehört auch, den Menschen mit Behinderung den Zugang zum Sport zu erleichtern – wie der Kampf von Tatyana McFadden für das Recht behinderter Menschen, am Highschoolsport teilzunehmen („Tatyana-Gesetz“), anklingen lässt.
Wie sich der Weg der paralympischen Bewegung weiter abzeichnet, wird sich bei den Paralympischen Sommerspielen in Tokio zeigen, die vom 24. August bis 5. September terminiert sind. „Phönix aus der Asche“ ist eine gute Einstimmung darauf, um den Funken der Faszination schon im Vorfeld zu schüren und dem Behindertensport wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und vielleicht wird man nach dem Sommer auch über die Zuschauer in Tokio, wie 2016 über die in Rio, sagen: „Sie kamen, sahen und verliebten sich.“
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