In seinem Vortrag „Who cares about representation? Behinderte Menschen in den Medien“ wird Schaar beleuchten, wie Behinderungen in Film und Fernsehen dargestellt werden. Zudem hinterfragt er Stereotype und zeigt auf, welchen Einfluss sie auf unser Denken haben und welche Chancen er in Bewegtbildern für Vielfalt und Inklusion sieht. Im Gespräch mit der OT-Redaktion schaut er auf die deutschen und internationalen Bildschirme.
OT: Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der schwerbehinderten Menschen in Deutschland 2021 bei 9,4 Prozent. Eine Studie des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock zeigt, dass jedoch lediglich 0,4 Prozent in der deutschen TV-Landschaft eine sichtbar schwere Behinderung haben. Woher rührt diese Diskrepanz?
René Schaar: Das hat verschiedene Gründe. Hinter der Kamera liegt das sicherlich an den Bildungschancen und damit verbunden dem Weg in den Journalismus. Wer kann es sich leisten, nicht bezahlte Praktika anzunehmen? Wer wird eigentlich Autor:in oder Redakteur:in, wer wird CvD oder Planer:in? Wer kommt in diese machtvolleren Positionen und kann darüber entscheiden, was wir im Programm sehen? Wir müssen uns anschauen, wie das Recruiting stattfindet, wie der Bildungsweg und das Schulsystem aussehen. Dasselbe gilt auch vor der Kamera. Denn Schauspielschulen haben einen sehr harten Auswahlprozess. Dieses System und die dahinter liegenden Normen zu hinterfragen ist eine Aufgabe für jede einzelne Schnittstelle, für jede einzelne Person. Wenn jede und jeder an ihrer beziehungsweise seiner Stellschraube dreht, dann kommen wir deutlich weiter.
Für viele Schauspieler:innen stellt sich zudem die Frage: Traue ich mir den Job überhaupt zu? Wenn Vorbilder fehlen, kommen sie vielleicht gar nicht auf die Idee, dass das ein Weg für sie sein könnte. Das hat viel mit sogenanntem internalisierten Ableismus zu tun, also mit verinnerlichten Stereotypen und Denkmustern. Eine behinderte Person sieht so und so aus, kann nur dieses oder jenes und nichts anderes und ist hilfsbedürftig. Wenn man das oft genug hört und im direkten Umfeld niemanden hat, der oder die einen unterstützt oder einem Selbstbewusstsein gibt, dann bleiben nur die Medien, dann bleiben nur die Geschichten, die wir uns als Gesellschaft erzählen. Genau da knüpft mein Vortrag auf der OTWorld an.
OT: Sie haben das Merkmal „hilfsbedürftig“ angesprochen. Welche weiteren Stereotype herrschen in Film und Fernsehen vor?
Schaar: Egal ob die Figuren in den Märchen der Brüder Grimm oder die Star-Wars- und James-Bond-Bösewichte – das sind Menschen, die angsteinflößend sein sollen und die – ganz bewusst als Gestaltungsmittel – eine Behinderung haben. Sie sind entstellt, fehlgebildet, sprechen komisch, haben vielleicht einen Akzent, Wortfindungsstörungen, ein Metallgebiss oder sie lispeln. Es sind immer dieselben Geschichten, die wir uns erzählen, mit Stereotypen, die wir immer wieder reproduzieren. Entweder sind behinderte Menschen angsteinflößende Monster, bemitleidenswerte Wesen oder – wenn sie es dann trotz aller Widrigkeiten geschafft haben und stark genug waren, sich dem System anzupassen – werden sie überhöht und zu Superhelden stilisiert. Es gibt wenig Graustufen, nur das eine oder das andere Extrem. Die Frage ist: Was hat das eigentlich mit unserer Lebensrealität zu tun und in unserem Alltag für Konsequenzen?
OT: Welche Geschichten sollten wir uns stattdessen erzählen?
Schaar: Um ein Beispiel zu nennen: Ich war gerade in London im Urlaub und habe mir meine erste Barbie gekauft. Und die Geschichte, die sie erzählt, finde ich super. Sie ist eine schwarze Frau und sitzt im Rollstuhl. Und das ist kein medizinischer Krankenhausrollstuhl mit Griffen hinten dran, sondern einer, der an sie angepasst ist. Damit ist sie eigenständig unterwegs. Ich war so im Flow, dass ich mir direkt die zweite Barbie gekauft habe, und zwar aus dem neuesten Disney-Film „Wish“: eine etwas dickere Barbie, die eine Gehhilfe benutzt. Das finde ich supercool. Auch im Bereich Kinderliteratur bewegt sich etwas, wenn man sich beispielsweise das Buch „Als Ela das Weltall eroberte“ von Raúl Krauthausen anschaut. Aus Mangel an realistischen Geschichten sind wir gezwungen, selber tätig zu werden. Neue Publikationen setzen auf Beiläufigkeit und Leichtigkeit. Sie zeigen, dass Behinderung nur ein Merkmal von ganz vielen ist, das den jeweiligen Charakter auszeichnet. Bei der OTWorld werde ich ein Tool vorstellen, mit dem überprüft werden kann, ob und wie Geschichten Stereotype reproduzieren.
Bewegung in der Branche
OT: Es heißt: Sprache formt das Denken, beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen. Haben Bewegtbilder Ihrer Meinung nach den gleichen Einfluss?
Schaar: Video-Content – also Mediatheken, Streaming und Social Media – ist das am stärksten wachsende Medium. Wenn sie gut gemacht sind, können Videoformate ein sehr niedrigschwelliger Zugang für Menschen sein und – aus öffentlich-rechtlicher Perspektive – den Bildungsauftrag erfüllen, zum Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft beitragen, zur Solidarität und letztendlich auch zur Demokratie. Sie können aber eben auch schlecht gemacht sein und Stereotype fördern. Und das gar nicht unbedingt mit bösem Willen, sondern weil die Macher:innen einen blinden Fleck haben. Insofern kommt den Medien eine große Verantwortung zu. Ich nehme in Bezug auf Inklusion und Vielfalt aber deutlich mehr Bewegung in der Branche wahr.
OT: Woran liegt das?
Schaar: Zum einen an gesetzlich veränderten Rahmenbedingungen. Im Medienstaatsvertrag wird das Thema Barrierefreiheit explizit erwähnt und wir als Medienschaffende sind dazu verpflichtet, es umzusetzen. Für Websites und Apps gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Dann gibt es natürlich noch die UN-Behindertenrechtskonvention, auf die immer wieder geprüft wird. Aus unternehmerischer Perspektive haben wir auch den Fachkräftemangel im Blick. Wir können es uns einfach nicht leisten, behinderte Menschen aus dem Bewerberpool auszuklammern und dieses Potenzial nicht zu schöpfen.
„Ich habe mich selten so gesehen gefühlt“
OT: Haben Sie Film- und Serientipps, in denen Vielfalt gut umgesetzt wird?
Schaar: Viele Disney- und Pixar-Filme sind echt gut. Es gibt eine Arielle, die schwarz ist, Nemo, der eine kurze Flosse hat, Lucas Vater, der einen kurzen Arm hat. Im Film „Red“ trägt Stacy ein Glukosemessgerät, das ganz beiläufig in einer Szene gezeigt wird. Das ist in der Community total gefeiert worden. Menschen aus Lateinamerika haben sich über die Figuren mit krausen Haaren und dunkler Hautfarbe in „Encanto“ gefreut, weil sie sich hier endlich repräsentiert sehen. Oft wird Behinderung nur beiläufig erwähnt beziehungsweise gezeigt, oder aber es wird – wie bei Nemo – ein wichtiges Thema angesprochen. Das, was Nemo im Meer erlebt, findet oft in der Gesellschaft statt. Eltern wollen ihre behinderten Kinder am liebsten in Watte packen und beschützen. Die Kinder müssen sich im wahrsten Sinne des Wortes freischwimmen und emanzipieren. Für mich persönlich ist das wirklich ein sehr schöner und gelungener Film. Welche Rolle ich am coolsten finde, ist die von Maya Lopez in „Hawkeye“, gespielt von Alaqua Cox. Auf Disney-Plus hat sie mit „Echo“ jetzt eine eigene Spin-off-Serie bekommen. Sie ist eine Frau, indigen, gehörlos und trägt eine Beinprothese. Was mir auch gefällt: Sie ist erst eine Bösewichtin, die dann aber zu einer Vertrauten wird, also ein sehr komplexer Charakter, der eine Entwicklung durchmacht. In der Netflix-Serie „Sex Education“ sind neben zwei behinderten Hauptcharakteren – eine Figur ist taub, eine andere im Rollstuhl unterwegs – auch eine Reihe von behinderten Statist:innen im Hintergrund zu sehen. Das ist normal an immer mehr Regelschulen und normal in Serien. Doch leider ist es noch immer eine Seltenheit, dass behinderte Rollen auch von behinderten Menschen gespielt werden.
OT: Damit sprechen Sie ein großes Diskussionsthema an. Dürfen nicht behinderte Menschen behinderte Menschen spielen?
Schaar: Ich mache gerne den Vergleich zu Blackfacing. Früher haben sich weiße Menschen schwarz angemalt und so getan, als wären sie schwarze Personen. Kann man machen, ist halt trotzdem scheiße. Ich traue Schauspieler:innen viel zu. Aber gelebte Diskriminierungserfahrungen haben einen sehr hohen und nicht zu unterschätzenden Wert. Die können Menschen aus eigener Betroffenheit in die Rolle einfließen lassen. Ich habe in London kürzlich das Musical „The Little Big Things“ gesehen, das die Geschichte des Autors Henry Fraser erzählt. Infolge eines Badeunfalls ist er seit seinem 17. Lebensjahr querschnittgelähmt. Das Musical behandelt, was der Unfall für die Familie bedeutet, welchen Einfluss er auf Freundschaften hat und den eigenen Selbstwert. Das war ein toller Abend mit grandioser Musik. Und gleichzeitig habe ich mich selten so gesehen gefühlt. Die behinderten Rollen wurden von behinderten Menschen gespielt und teilweise wurden die nicht behinderten Rollen von Menschen mit Behinderung gespielt. Die Behinderung hat in dem Fall gar keine Bedeutung gehabt. Es war eine Mischung aus authentischer Repräsentation und gleichzeitiger Beiläufigkeit. Da waren verzweifelte, tieftraurige, auch teilweise suizidale Momente dabei, die aber von Humor und Leichtigkeit unterbrochen wurden. Und diese Gratwanderung schafft man nur, wenn Menschen aus eigener Betroffenheit heraus an dem Drehbuch mitschreiben und mitspielen.
Betroffene ins Boot holen
OT: Kann es auch ein „zu viel“ an Diversität geben?
Schaar: Eine Sorge, die ich von Redaktionen kenne, ist, dass wir unsere Zuschauer:innen nicht überfordern dürfen. Diese Sorge teile ich gar nicht, denn Vielfalt spiegelt doch die Lebensrealität wider. Also warum sollte ich mich daran nicht orientieren und diese Realität darstellen? Und gleichzeitig verstehe ich, woher der Widerstand kommt. Über Jahrzehnte haben wir Programm für einen bestimmten Typ Mensch gemacht. Jetzt befinden wir uns in einem Umgewöhnungsprozess. Die erste Reaktion ist Ablehnung und Kritik. Man muss aber verstehen, dass es nicht darum geht, etwas wegzunehmen, sondern darum, etwas zu ergänzen, was bisher fehlte.
Eine Sache kann helfen, um nicht „übers Ziel hinauszuschießen“: Wenn das Know-how in der bestehenden Belegschaft nicht vorhanden ist, holt die Leute, die es betrifft, mit ins Boot, und zwar zum frühestmöglichen Zeitpunkt, also beim Schreiben des Drehbuchs, beim Entwickeln eines neuen Produkts oder beim Programmieren einer neuen Internetseite. Egal ob in Form von Beratungsunternehmen, Selbstvertretungsvereinen oder Influencer:innen.
OT: Wie divers ist die internationale Medienlandschaft? Gibt es Vorreiter?
Schaar: Ich stelle immer wieder fest, dass wichtige Impulse aus dem englischsprachigen Raum kommen.
OT: Können Sie sich erklären, warum?
Schaar: Ich habe eine Theorie. Ich glaube, das Zusammenleben ist dort selbstverständlicher. In Deutschland hingegen herrschen nach wie vor bestimmte Stereotype über Menschen mit Behinderungen vor. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, machen den Selbstwert von der individuellen Produktivität abhängig, und wer angeblich nichts beitragen kann, der hat es nicht oder weniger verdient, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Dieses Denken hat sich in der Nazi-Zeit manifestiert. Es wurde damals ganz offensiv kommuniziert, dass behinderte Menschen das Erbgut verunreinigen würden und den Staat viel kosten. Deswegen müsse man diese Menschen loswerden, sie wären „lebensunwert“. Ich glaube, über diese Propaganda wurde uns eine Haltung nahegebracht, die wir nie wirklich aufgearbeitet haben. Das ist zumindest ein Erklärungsansatz.
Diversität messbar machen
OT: 2021 hat Netflix begonnen, eine Studie bezüglich Diversität aufzusetzen. Gemeinsam mit der Inklusionsinitiative der University of Southern California (USC) Annenberg untersucht der Streaminganbieter die in den USA in Auftrag gegebenen Filme und Serien im Hinblick auf mehrere Inklusionsmaßstäbe – darunter Geschlecht, ethnische Herkunft, LGBTQI+ und Behinderung. Netflix hat sich dazu verpflichtet, die Ergebnisse bis 2026 alle zwei Jahre zu veröffentlichen. Wie wichtig sind solche Erhebungen?
Schaar: In diesem Bereich passiert gerade ganz viel und ich bin ein großer Fan davon, weil wir in der Vergangenheit oft aus dem Bauchgefühl heraus agiert haben. Dabei ist ein datenbasierter Ansatz wichtig. Wir sollten Diversität und Inklusion messbar machen. Das ist auch unternehmerisch sinnvoll, weil wir so eine Wirksamkeitsmessung unserer bestehenden Maßnahmen etablieren und gleichzeitig Bedarfe für neue Maßnahmen erkennen. Zudem gibt es neue regulatorische Anforderungen wie die EU-Richtlinie Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die Unternehmen dazu verpflichtet, auch über nicht-finanzielle, ökologische und soziale Nachhaltigkeitsdaten zu berichten. Das begrüße ich sehr, weil durch die einheitlichen KPIs (Key Performance Indicators, dt. Schlüsselkennzahlen, Anm. d. Red.), die dort abgefragt werden, ein branchenübergreifender Vergleich möglich wird. Damit macht die EU einen sehr großen Schritt in die richtige Richtung, die Wirtschaft als Ganzes nachhaltiger zu gestalten, und zwar auch sozial.
OT: Sie selbst haben eine Behinderung. Finden Sie sich in der deutschen Medienlandschaft wieder? Fühlen Sie sich repräsentiert?
Schaar: Ja. Weil ich ein weißer, blonder und blauäugiger Cis-hetero-Dude bin (lacht, Anm. d. Red.). Und davon gibt es verdammt viele im Fernsehen. Was das Thema Behinderung angeht, finde ich mich und meine Community zu wenig repräsentiert. Das gilt grundsätzlich für unsichtbare Merkmale, also auch für psychische und chronische Erkrankungen.
OT: Schon Kleines kann Großes bewirken. Was kann jede:r noch heute direkt umsetzen, um die Welt ein bisschen inklusiver zu machen?
Schaar: Sich umschauen, Menschen, die behindert oder chronisch krank sind, mit ins Team holen. Einfach die Tür und das Herz aufmachen. Das kann bedeuten, einer alten Frau über die Straße zu helfen, aber eben auch, sich am Arbeitsplatz zu fragen, ob behinderte Menschen repräsentiert werden und ob die Prozesse inklusiv sind. Es hilft, wacher und sensibler zu sein. Das, was es braucht, und das merken wir immer wieder: Man kann so viele Regeln und Gesetze aufstellen, wie man möchte. Darüber wird keine Veränderung stattfinden. Veränderung entsteht, weil es einzelne Personen gibt, die Bock darauf haben, die eine positive Grundhaltung haben, neugierig sind und sagen: Lasst es uns mal ausprobieren, was soll schon passieren?
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
René Schaar wurde 1992 geboren, lebt in Hamburg und ist gelernter Mediengestalter Bild/Ton sowie zertifizierter Diversity Manager. Aktuell leitet er stellvertretend den Bereich Gleichstellung und Diversity beim Norddeutschen Rundfunk (NDR). 2023 wurde er mit dem Senator-Neumann-Preis für Inklusion ausgezeichnet. Außerdem erhielt er den Grimme-Online-Award im Jahr 2020 für die Umsetzung des Youtube-Formats „STRG_F“. Er engagiert sich ehrenamtlich als Wertebotschafter bei der überparteilichen Bildungsinitiative German-Dream und bei Ahoi e. V., einem Selbstvertretungsverein behinderter Menschen.
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