OT: In welchen Fällen setzen Sie die von Ihnen entwickelte MCT-Liner-Technik ein?
Kristin Stahl: Außer bei Fuß- und Hüftamputationen ist sie für alle Amputationshöhen der unteren Extremität geeignet, sofern die Betroffenen mit einer Liner-Technik versorgt werden können. Voraussetzung ist jedoch ein Silikonliner, bei Gelliner-Nutzung ist die MCT-Liner-Technik nicht einsetzbar, weil diese Liner in sich nicht fest genug sind. Zu den Indikationen gehören Gangunsicherheit, Fehlstellungen, Schmerzen auf beiden Körperseiten, Rückenschmerzen, Gewichtsbelastung durch das Tragen einer Prothese, Phantomschmerz oder ein Hypermobilitätssyndrom.
OT: Worum handelt es sich genau?
Stahl: Im Grunde sind es derzeit Silikonpads, die in den Liner integriert werden. Der Liner wird also innwandig bestückt. Die MCT-Pads haben verschiedene Formen und Stärken. Um auf die anatomischen Verhältnisse der amputierten Körperseite einzugehen, gibt es sie in rechts- oder linksseitiger Ausrichtung. Bei jedem Schritt bewirkt die MCT-Liner-Technik eine Druckstimulation des Stumpfes und damit des Muskelkomplexes. Dadurch verspüren die Prothesennutzer:innen eine deutliche Verbesserung sowohl beim Gehen bzw. im Gangbild als auch bei der Raumorientierung. Die Prothese wird als weniger schwer und die Bewegung mit ihr als stabiler, symmetrischer und dynamischer empfunden. Letztlich ermöglicht es diese Technik, die Prothese mit einer gestärkten „Eigenkraft“ zu bewegen.
Muskeldefekte ausgleichen
OT: Wie entstand die Idee?
Stahl: In den vergangenen zehn Jahren bin ich bei meiner Arbeit mit Menschen mit Amputationen immer wieder auf vielfältige Komplikationen gestoßen, die das Tragen der Prothese teils massiv erschweren. Das hat meine Sichtweise auf die Auswirkungen einer Amputation und das Zusammenspiel von Stumpf, Prothesenschaft und Prothese verändert. Vor etwa fünf Jahren habe ich dann begonnen, die MCT-Liner-Technik zu entwickeln. Damals habe ich noch in Chile gearbeitet. Dort war es für Patient:innen noch weit komplizierter, auf ein anderes Prothesenmodell zu wechseln, wenn sie mit ihrer Prothese zum Beispiel aufgrund deren Gewichts nicht klarkamen.
OT: Worin liegt Ihr neuer Ansatz?
Stahl: Nach wie vor liegt der Fokus zu sehr auf der Technik einer Prothese. Doch es ist der Mensch, der sie bewegen muss. Oft wird vergessen, dass jede Amputation einen Muskeldefekt bewirkt. Aufgrund der Ab- und Durchtrennung von Sehnen, Muskeln, Membranen, Knochen wird der gesamte Muskelkomplex des Menschen reduziert – bei der Amputation eines Unterschenkels um rund ein Viertel, bei Amputation eines Oberschenkels etwa um ein Drittel. Und dieser geschwächte Muskelkomplex muss die Prothese bewegen. Es gilt deshalb, die Betroffenen bei der Kompensation dieses Verlusts und bei der Kraftübertragung auf die Prothese zu unterstützen.
OT: Das leistet Ihre Entwicklung?
Stahl: Meine Entwicklung soll den Menschen mit Amputationen die Möglichkeit geben, den Muskeldefekt auszugleichen und selbst zur Verbesserung ihrer Kondition beizutragen. Das Neue daran ist die direkte Stimulation des Stumpfmuskelkomplexes. Diese wirkt direkt auf den Körper und somit indirekt auf die Prothese. Das reduziert neben zahlreichen Symptomen und Beschwerden wie der erwähnten Gangunsicherheit, Fehlstellungen und Schmerzen ebenfalls die Gewichtsbelastung, selbst bei schweren Prothesen. Etliche Nutzer:innen haben von einer besseren Raumorientierung, einem intensiveren Raumgefühl gesprochen. Zusätzlich konnte ich einen dynamischen Vorteil bei dem jeweiligen Prothesenfuß beobachten, denn die Carbonfeder kann mehr Kraft beim Abrollen sowie ‑stoßen aufbringen und die amputierte Körperseite so ergonomisch unterstützen.
Frauen sind keine Männer – muskulär betrachtet
OT: Funktioniert Ihre Technik bei Nutzer:innen mit unterschiedlichen Körpergrößen, Gewichten etc. gleichermaßen?
Stahl: Ja – und gerade Frauen können profitieren. Das Problem der kräftemäßigen Bewältigung einer Prothese ist für Frauen häufig viel größer. Die körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau haben Orthopädietechniker:innen vielfach gar nicht im Fokus. Frauen haben 15 bis 20 Prozent weniger Muskelkraft als Männer. Die Orthopädie-Technik ist aber nach wie vor auf Männer ausgelegt. Das kommt noch aus den geschichtlichen Wurzeln, denn nicht zuletzt die Verletzten der großen Kriege trieben den Fortschritt bei der Prothesenentwicklung voran. Frauen mit Amputationen thematisieren das in Selbsthilfeforen immer wieder. Es ist daher ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit, Frauen zu stärken und mithilfe meiner Liner-Technik im Alltag zu unterstützen.
Forschungs- und Industriepartner gesucht
OT: Wie viele Nutzer:innen hat Ihre Technik bisher?
Stahl: Bisher habe ich etwa 15 Patient:innen in Chile und Deutschland probeweise auf eigene Rechnung versorgt, darunter ein Patient mit doppelten Amputationen der unteren Extremitäten. Was mit fehlt, sind wissenschaftliche Ganganalysen und Studien. Deshalb möchte ich mit Universitäten – beispielsweise der Deutschen Sporthochschule Köln – zusammenarbeiten. Bisher kann ich ausschließlich mittels standardisierter Blauabdrücke Ergebnisse mit und ohne MCT-Liner zeigen – unter anderem von zwei Menschen mit Oberschenkelamputation, drei mit Unterschenkelamputation sowie einem mit Knieexamputation. In den Blauabdrücken lassen sich positive Effekte aber schon sehen.
OT: Wie lange halten die von Ihnen eingesetzten Pads?
Stahl: So lange wie ein Silikonliner, ein bis anderthalb Jahre.
OT: Arbeiten Sie an einem marktfähigen Produkt?
Stahl: Die Technik ist einsetzbar. Ich kann den speziellen Liner handwerklich herstellen und könnte dies in Seminaren an Kolleg:innen vermitteln. Ein standardisiertes Produkt ist bislang nicht verfügbar, dafür suche ich Industriepartner und bin in Gesprächen mit Herstellern. Die Chancen stehen gut, denn meine Erfindung bindet die Prothese mit all ihrer Technik besser an den Menschen, der sie bewegt – und kann die Zahl der nicht genutzten Hilfsmittel verringern sowie besonders für Frauen große Vorteile bringen. Eine gendergerechte Orthopädie-Technik wird in Zukunft eine immer größere Rolle spielen.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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