Gebrauchte Materialien werden im Sinne nachhaltiger Ressourcennutzung zu neuem Leben erweckt und in höchst individuelle orthopädische Upcycling-Schuhe „verwandelt“ (up = nach oben + recycling = Wiederverwertung, stoffliche Aufwertung von Abfallprodukten). 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Kulturen sowie zwei Azubis ziehen in dem Unternehmen an einem Strang, fünf Nationalitäten und sechs Religionen sind hier vertreten. Digitale Technologien machen die Orthopädieschuhtechnik-Werkstatt fit für die Zukunft. Regelmäßige Ausstellungen vernetzen Kunsthandwerk und Handwerkskunst, weiten den Blick für kreative Ideen. Für dieses vielfältige Engagement wurde die Johann Herges GmbH 2020 mit dem Handwerkspreis „Mein gutes Beispiel“ ausgezeichnet. Das 1935 gegründete Familienunternehmen wird seit 2008 in dritter Generation von Johannes Herges, Diplomingenieur (FH) für technische Orthopädie und Maßschuhmacher, geführt. Im Interview erläutern er und seine Mutter Karin Herges – die ebenfalls noch in die Geschäftsführung eingebunden ist –, was sie antreibt. Klar wird: Der Spruch „Schuster bleib bei deinen Leisten“ gilt nicht mehr.
Upcycling-Design für mehr Akzeptanz
OT: Mit dem Preis „Mein gutes Beispiel“ 2020 wurde unter anderem das Engagement Ihres Unternehmens für Nachhaltigkeit und speziell Ihr Upcycling-Projekt gewürdigt. Dabei fertigen Sie aus gebrauchten Materialien neue, hochwertige Maßschuhe. Seit wann verfolgen Sie diesen Ansatz – und wie ist die Resonanz?
Johannes Herges: Den ersten orthopädischen Upcycling-Maßschuh haben wir 2017 herausgebracht. Inzwischen umfasst das Programm acht bis zehn Modelle, darunter eine Städtekollektion mit den Motiven Paris, New York, Berlin. Die gefällt vor allem Frauen. Doch wir fertigen ebenso Upcycling-Schuhe aus sehr individuellem Material, das Kunden mitbringen. So haben wir für einen Motorradfan, der nach einem Unfall nicht mehr fahren kann, aus seiner Lieblingsjeansjacke von Harley Davidson mit Emblemen und Stickereien seinen persönlichen Schuh gemacht. Auch eine Coladose haben wir schon in einen Absatz gepresst oder ein auf Leinen gemaltes Bild verarbeitet. Das ist eine Herausforderung, denn die Schuhe müssen ja vor allem ihre Funktion als orthopädisches Hilfsmittel erfüllen und haltbar sein.
Karin Herges: Bei den Kunden kommen die farbenfrohen Upcycling-Schuhe sehr gut an. Denn auch Menschen mit Behinderung möchten individuelle, moderne Designs tragen. Dann benutzen sie ihr Hilfsmittel viel lieber und sind glücklicher – das macht den Unterschied. Dies führt auch zu mehr Akzeptanz der eigenen Behinderung, zu einem offeneren Umgang damit – und letztlich zu mehr Lebensqualität. Übrigens müssen unsere Kunden für die Upcycling-Modelle nicht tiefer in die Tasche greifen. Diese orthopädischen Maßschuhe erhalten sie ganz normal auf Rezept.
OT: Welche Rolle spielen nachhaltige Materialien bislang in der Orthopädieschuhtechnik?
Johannes Herges: Noch haben sie eine eher untergeordnete Bedeutung. Zwar gibt es zum Beispiel Materialien für Einlagen, die aus Recyclingrohstoffen gefertigt sind, aber die meisten Betriebe entdecken die Nachhaltigkeit erst. Doch die Kunden fragen dies zunehmend nach, denn das Umweltbewusstsein in der Gesellschaft steigt. Ich gehe deshalb davon aus, dass auch die Orthopädieschuhtechnik in Zukunft einen größeren Fokus auf Nachhaltigkeit legen muss und wird.
Vielfalt für Weitblick
OT: Zum Thema Nachhaltigkeit gehört ebenso eine soziale Dimension der gesellschaftlichen Verantwortung. Ihr Unternehmen setzt sich für die Integration geflüchteter Menschen ein. Warum?
Karin Herges: Vielfalt hat bei uns Tradition. 2018 waren wir für den Nationalen Integrationspreis nominiert. In unserem Betrieb arbeiten Menschen zusammen, die aus verschiedenen Kulturen stammen. Ob aus Rumänien, der Ukraine, Syrien – fünf Nationalitäten, sechs Religionen sind hier vertreten. 2016 hat ein Geflüchteter aus Syrien mit 36 Jahren bei uns eine Ausbildung zum Orthopädieschuhtechniker begonnen. Er wollte den Beruf unbedingt erlernen, um in seiner Heimat nach dem Krieg Menschen zu helfen. Inzwischen hat er die Ausbildung beendet und ist Geselle in unserer Werkstatt.
Johannes Herges: Durch die enge Zusammenarbeit mit Menschen verschiedenster Herkunft gewinnt man Einblick in andere Kulturkreise, lernt sich kennen und schätzen. Das weitet den Blick, lässt offener auf andere Menschen zugehen – auch im Geschäft. Ein spannender Prozess! Dabei lernt man auch viel über sein eigenes Land, reflektiert das eigene Verhalten. Wichtig ist, immer miteinander zu reden, denn das löst kulturelle oder sprachliche Missverständnisse auf. Unser jährliches Sommerfest ist immer multikulturell, jeder bringt ein Gericht seines Landes mit. Nicht zuletzt können wir in verschiedenen Sprachen versorgen – ein Vorteil!
OT: In den Räumen der Herges Schuhmanufaktur stellen regelmäßig Künstlerinnen und Künstler aus. Was bringt das dem Unternehmen?
Karin Herges: Das Herges Schauwerk unter dem Motto „Handwerkskunst trifft Kunsthandwerk“ gibt es seit 2007 und bietet uns die Möglichkeit, unser Gewerk sichtbarer zu machen und neue Zielgruppen anzulocken. Einmal im Jahr stellen wir Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus, die beispielsweise mit Keramik, Holz, Glas, Stoff oder Stein arbeiten. Mit Vernissage und allem Drum und Dran. Diese Ausstellungen sind immer gut besucht, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ebenfalls begeistert, erleben so andere Formen der Kreativität hautnah. In diesem Jahr hat uns Corona leider einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Die Zukunft ist digital(er)
OT: Herr Herges, Sie führen den Betrieb jetzt in der dritten Generation – Stand von Beginn an fest, dass Sie übernehmen?
Johannes Herges: Während des Studiums habe ich mir noch alles offengehalten, mich bei Unternehmen wie Bauerfeind und Ottobock umgeschaut. Doch die waren mir zu groß, zu unpersönlich. Hier dagegen bin ich ganz nah am Kunden, sehe den Erfolg direkt, wenn ich die Leute wieder zum Laufen bringe. Deshalb war mir nach dem Studium klar, dass dies hier mein Weg ist. 2008 habe ich in unserem Familienbetrieb angefangen.
Karin Herges: Aufgrund einer Erkrankung meines Mannes ging dann alles ganz schnell, mein Sohn hat 2008 die Geschäftsführung übernommen und ist sozusagen ins kalte Wasser gesprungen. Ich habe in der Verwaltung weiter mitgearbeitet, trete aber immer kürzer. Es ist schön zu sehen, dass die Firma in der Familie weiterlebt.
OT: Wie wird sich Ihr Gewerk in Zukunft verändern, wie reagieren Sie darauf?
Johannes Herges: Die Digitalisierung ist schon da, wird unser Handwerk aber noch viel stärker verändern. Der Handwerksberuf wird nicht verschwinden, aber zunehmend von der Arbeit am Computer begleitet. In einigen Bereichen funktioniert das schon supergut. So konstruieren wir in unserem Betrieb Leisten, Schäfte und Einlagen am Computer, am Materialschneidetisch wird nicht mehr per Hand gearbeitet, sondern digital gesteuert. Wir nutzen Digitalscan und digitale Druckmessung. In unserem digitalen Katalog können die Kunden ihre Schuhe mit verschiedenen Material- und Farbkombinationen konfigurieren. Unsere Arbeit wird sich immer mehr automatisieren und damit reproduzierbarer werden. Prozesse lassen sich auch Jahre später noch nachvollziehen und ‑prüfen. Zurzeit experimentieren wir innerhalb des EU-geförderten Projekts „Automatisierte Herstellung eines individualisierten Sohlenaufbaus mit orthopädisch wirkender 3D-Struktur anhand einer Pedobarographie“ mit 3D-Druck. Noch gibt es hier viel Entwicklungsbedarf, bei den Leisten ist Holz zum Beispiel bei Bearbeitung und Kosten gegenüber additiven Verfahren noch klar im Vorteil. Aber da wird in Zukunft mit neuen Materialien und geringer werdenden Druckkosten einiges passieren. Nicht zuletzt entsteht bei 3D-Druck im Sinn der Nachhaltigkeit kaum Abfall, beim Fräsen schon.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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