Einleitung
In der heutigen Zeit ist die Integration von Menschen mit Handicap ein wichtiges gesellschaftliches Ziel. Menschen mit Einschränkungen haben ein Recht auf selbstbestimmte und umfassende Teilhabe, insbesondere vor dem Hintergrund der sozialen Inklusion. Sie möchten mobil sein und ihren Alltag möglichst ohne fremde Hilfe meistern können.
Hier haben Rollstuhlnutzer aber noch viele Hürden zu überwinden. Während bei Gebäuden und Wohnungen schon eine Vielzahl von Vorgaben existiert, beginnen die Probleme mit dem Verlassen der Wohnanlage. Die eigenständige Fahrt mit dem Rollstuhl zur Arbeitsstelle oder in der Freizeit wird schnell zu einem Hindernisparcours. Während manche Hindernisse von geübten Rollstuhlnutzern schnell überwunden werden, stellen diese für stärker eingeschränkte und weniger geübte Rollstuhlnutzer das Ende der Fahrt dar (Abb. 1). Hier kann eine Vorhersage über den notwendigen Kraftaufwand eine wertvolle Hilfestellung für die Betroffenen sein.
Das Messsystem „Teutowheel”
Um die Leistung zur Bewältigung von Strecken und zum Überwinden von Hindernissen erfassen zu können, wurde an der Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik, im Kompetenzzentrum für Bewegungsvorgänge (KfB) das Messsystem „Teutowheel” entwickelt. Dieses Messsystem wird direkt an einen Rollstuhl adaptiert und ermittelt während der Fahrt die benötigte Leistung für den aktuellen Streckenabschnitt.
Die Entwicklung fand zeitlich mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „Mobilität ohne Grenzen” statt. Das Forschungsvorhaben der Fachhochschule Bielefeld mit Partnern hat sich zum Ziel gesetzt, technische Möglichkeiten zur Vermessung geeigneter Strecken mit dem Rollstuhl zu entwickeln. Zusätzlich soll ein einheitliches Kennzeichnungssystem erarbeitet werden und eine Klassifizierung der Strecken in verschiedene Schwierigkeitsstufen erfolgen. In Zukunft soll mit diesen Messsystemen und Methoden ein Ausbau von barrierefreien Wegen leichter möglich sein und passgenauer erfolgen.
Für erste Untersuchungen zum Leistungsbedarf von Rollstuhlfahrern auf bestimmten Strecken wurde ein bereits bestehendes Messsystem aus dem Klinikbereich genutzt. Das „Smart-Wheel” der Firma Out-Front (Mesa, Arizona, USA) kann Kräfte dreidimensional aufnehmen und erlaubt somit detaillierte Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit und Greifart des Rollstuhlnutzers. Dieses System wird im Rahmen von Bewegungsanalysen bei Rollstuhlnutzern im Klinikbereich verwendet (Abb. 2). Die Kräfte werden mit Dehnungsmessstreifen ermittelt und mit Hilfe eines internen Prozessors in Leistungswerte umgerechnet. In Zusammenarbeit mit Therapeuten lernen Menschen, die einen Rollstuhl benötigen, den effektiven Umgang mit dem Hilfsmittel Rollstuhl. Im Kompetenzzentrum für Bewegungsanalyse KfB wurden mit dem SmartWheel erste Untersuchungen mit einer Probandengruppe durchgeführt. Hier wurde die individuelle Leistung von Rollstuhlnutzern im Indoor-Bereich auf ebenen Streckenabschnitten ermittelt.
Ermittlung von Rahmenparametern
Nach der Durchführung von Testfahrten auf ebenen Streckenabschnitten (Abb. 3) mit mehreren Probanden wurden die Rahmenparameter für das Teutowheel ermittelt. Durch Untersuchungen auf einer Strecke mit 5 % Steigung (Abb. 4) konnte der Leistungsbedarf der Probandengruppe auch für nichthorizontale Untergründe ermittelt werden. Hierbei stieg der Leistungsbedarf der Probanden auf mehr als den doppelten Wert im Vergleich zu einer horizontalen Strecke.
Ergänzend zur Ermittlung der Leistungsparameter und ersten Erfahrungen mit dem mobilen Messsystem hat eine studentische Projektgruppe die Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Teutowheels analysiert und einen Anforderungskatalog ausgearbeitet. Ziel war es, ein Messsystem zu entwickeln, das an einen handelsüblichen Rollstuhl adaptiert werden kann. Dies kann durch ein in das Rollstuhlrad integriertes Messsystem realisiert werden. Das Teutowheel muss für den Außeneinsatz geeignet sein, daher sind Feuchtigkeits- und Staubresistenz wichtige Parameter bei der Auswahl und Entwicklung des Systems. Auch Energieversorgung und Erfassung der Messdaten müssen für den mobilen Einsatz optimiert werden.
Leistungsmessung
Die Leistungsmessung erfolgt über einen Drehmomentsensor, der robust und für den Außeneinsatz geeignet ist. Die Auslegung des Sensors erfolgte mit Hilfe der in den vorherigen Testfahrten ermittelten Daten. Der Sensor kann mit Hilfe einer Drehzahlmessung direkt die aktuelle Leistung darstellen. Der Messverstärker mit einer drahtlosen Schnittstelle hat eine Reichweite bis zu 100 m. Durch diesen kompakten Datenfluss kann eine hohe Akkulaufzeit von über 8 Stunden erreicht werden.
Die Krafteinleitung des Rollstuhlnutzers wird über den Greifring direkt auf den Drehmomentsensor übertragen. Die Aluminiumstreben vom Greifring zum Sensor (siehe Abb. 5) sind so ausgelegt, dass sie einen Langzeitbetrieb ohne bleibende Verformung überstehen und die Kraft direkt an den Sensor weiterleiten können. Somit kann die Messtechnik zentral an der Radnabe angebracht werden und hier durch eine Abdeckung vor Witterungseinflüssen geschützt werden.
Der Vorteil der Bauart des Messsystems liegt darin, dass es an nahezu jedem Rad mit Hochflanschnabe angebracht werden kann (Abb. 6). Um das Rad mit dem Sensor zu befestigen, wird die sogenannte Quick-Release-Achse durch die Bohrung des Gehäuses gesteckt und am Rollstuhlrahmen befestigt.
Nutzung des Teutowheels
Mit dem Teutowheel können nun Strecken in der Stadt oder in der Natur befahren werden und der Energiebedarf für den Rollstuhlnutzer ermittelt werden. Hiermit lässt sich einerseits die Strecke in ihren Schwierigkeitsgraden darstellen, andererseits kann der Rollstuhlnutzer anhand seiner persönlichen Leistungsfähigkeit vor Antritt einer Fahrt einschätzen, wie hoch seine Anstrengung sein wird. Dadurch kann beispielsweise der fitnessorientierte Rollstuhlnutzer sich bewusst für eine fordernde Strecke entscheiden. Die gesundheitlichen Gefahren durch Überforderung können hier minimiert werden.
Durch das Teutowheel werden Strecken, die für Rollstuhlnutzer geeignet sind, analysiert und datentechnisch erfasst. Die ausgewählten Strecken können nach vorab entwickelten Standards (beispielsweise leichte Strecke – mittlere Strecke – schwere Strecke) eingeteilt werden. So ist es möglich, eine sichere Bewältigung von Wegstrecken für den Rollstuhlnutzer zu gewährleisten. Dies führt zu einer sorgenfreien Planbarkeit auch längerer unbekannter Strecken.
Auch die Ermittlung der jeweiligen Leistungsfähigkeit von Rollstuhlnutzern in einem Rollstuhl-Fahrsimulator ist möglich. Der Prototyp eines Rollstuhl-Fahrsimulators wurde vom Kompetenzzentrum für Bewegungsvorgänge KfB erstmals auf der Rehacare 2011 in Düsseldorf vorgestellt. Damit können die Parcoursansprüche und die Leistungsfähigkeit der einzelnen Personen harmonisiert werden.
Literatur bei den Autoren.
Die Autoren:
Prof. Dr.-Ing. Ralf Hörstmeier
Leiter des KfB – Kompetenzzentrum für Bewegungsvorgänge
Fachhochschule Bielefeld
Am Stadtholz 24
33609 Bielefeld
ralf.hoerstmeier@fh-bielefeld.de
Dipl.-Ing. Tassilo Pech-Larisch
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im KfB
Fachhochschule Bielefeld
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Hörstmeier R, Pech-Larisch T. Neues Messsystem ermittelt Energiebedarf zur Bewältigung von Rollstuhlstrecken. Orthopädie Technik, 2014; 65 (12): 44–47
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