OT: Warum haben Sie eine Studie zum Thema Osteoporose aufgelegt?
Prof. Wolfgang Kemmler: Osteoporose gehört zu unseren Kernthemen am Institut, allerdings eher mit dem Augenmerk auf körperliches Training. Im Jahr 2009 erschien bereits eine Studie zur Spinomed-Rückenorthese von Medi von Dr. med. Michael Pfeifer mit dem Fokus auf die Auswirkungen des Hilfsmittels auf die Kraft der Träger:innen. Aus meiner Sicht ist bei der Erkrankung Osteoporose das Thema Schmerz ein zentrales, weshalb es auch im Mittelpunkt unserer Untersuchung stand. Äußerer Anlass für die Studie war die aktuelle Überarbeitung der Leitlinie „Körperliches Training zur Frakturprophylaxe“ des Dachverbandes Osteologie (DVO) e. V.
Gefunden: 80 Studienteilnehmerinnen
OT: Wie haben Sie die Studie aufgestellt?
Kemmler: Wir suchten ab Februar 2021 über Ärzt:innen und über Berichte in der Lokalpresse Frauen über 65 Jahre mit einer Wirbelsäulenfraktur infolge von Osteoporose, die drei oder mehr Monate alt war. Weitere Bedingung war: Die Frauen litten unter Schmerzen aufgrund der Wirbelfraktur. Sie können sich vorstellen, dass es in Zeiten einer Pandemie nicht einfach war, die nötige Anzahl von Teilnehmerinnen zu finden. Allein für die Aufstellung der beiden Parallelgruppen – der Kontrollgruppe ohne Orthesenversorgung (KG) und der Gruppe mit Spinomed-active-Orthese (SOG) – haben wir vier Monate gebraucht. Aber es hat sich gelohnt. Per Losverfahren wurde ausgewählt, wer in welcher Gruppe an der Studie teilnahm. Am Ende der randomisierten, kontrollierten, einfach verblindeten Studie (RCT) im Januar 2022 konnten wir die Ergebnisse von 80 Teilnehmerinnen, davon 40 in der SOG und 40 in der KG, auswerten.
OT: Wie ist die für die Studie ausgesuchte Orthese aufgebaut?
Kemmler: Kurz gesagt besteht die Spinomed-active-Orthese aus einem enganliegenden Körperanzug mit textilen Zug- und Druckelementen und einer Tasche am Rücken, in die eine stützende Aluminium-Rückenschiene eingesetzt wird. Die stützende Schiene kann auch individuell an den Rücken der Patientin angepasst werden. Sie soll die aktive Aufrichtung der Rumpfmuskulatur durch ein Biofeedbacksystem stimulieren, das die Patientin an die aufrechte Haltung erinnert.
Kooperationsstudie mit Orthesenhersteller
OT: Wie haben Sie die 40 Rückenorthesen für die SOG finanziert?
Kemmler: Das ist in der Tat ein großer Kostenblock. Deshalb haben wir die Studie als Kooperationsstudie aufgestellt. Dank der Unterstützung von Medi konnten wir alle Teilnehmerinnen der SOG mit einer entsprechenden Rückenorthese ausstatten. Zudem hat uns die Firma einen Orthopädietechniker an die Seite gestellt. Das Unternehmen ermöglicht den Teilnehmerinnen der Kontrollgruppe zusätzlich eine Versorgung mit einer individuell angepassten Orthese nach Abschluss der Studie. Leider mussten die gemeinsamen Informationsveranstaltungen, die speziell für die Kontrollgruppe vorgesehen waren, aufgrund von Covid-Beschränkungen abgesagt werden.
Orthopädietechniker an Bord
OT: Welche Aufgaben hatte der Orthopädietechniker in Ihrer Studie?
Kemmler: Wir legten besonderen Wert auf die richtige Anpassung und Handhabung der Orthese, da beides die Ergebnisse stark beeinflusst. Die Orthese wurde jeweils individuell von dem Orthopädietechniker angepasst oder sogar in Einzelfällen als Sonderanfertigung gefertigt. Er wies zudem die Teilnehmerinnen sorgfältig in das korrekte An- und Ablegen der kompletten Orthese sowie das An- und Ablegen nur der Schiene etwa bei längerem Sitzen oder in der Freizeit ein. Darüber hinaus informierte er die Teilnehmerinnen über die Reinigung und Pflege der Orthesen und das Verhalten bei Problemen, Beschwerden oder Defekten bzw. Beschädigungen. Selbstverständlich sprach er mit den Frauen auch über mögliche Nebenwirkungen der Orthese. Nach zwei und dann nach acht Wochen der Intervention wurden die Orthesen aller Teilnehmerinnen von demselben Orthopädietechniker überprüft und – falls erforderlich – angepasst. Die Arbeit des Orthopädietechnikers hatten wir übrigens unterschätzt und hätten das trotz einiger Erfahrung im Bereich selbst sicher nicht so gut „auf die Reihe“ bekommen. Umso dankbarer sind wir für seine Leistungen. In Telefoninterviews, die alle zwei Wochen durchgeführt wurden, wurden die Handhabung der Orthese und entsprechende Probleme bspw. beim An- und Ablegen, beim Einsetzen der Schiene oder beim Toilettengang erfasst, sodass wir gegebenenfalls eingreifen und Abweichungen vom Trageprotokoll interpretieren konnten.
OT: Wie oft sollten die Orthesen getragen werden?
Kemmler: Während der 16-wöchigen Intervention trug die SOG die Orthese täglich. In den ersten beiden Wochen wurden die Orthesen bis zu zwei Stunden pro Tag getragen, ab Woche drei wurde die Tragezeit täglich auf zwei Zyklen von mindestens zwei Stunden erhöht. Zwischen den beiden täglichen Anwendungen konnte die Orthese komplett abgenommen werden oder – was die Handhabung erleichterte – nur die Schiene aus der Rückentasche entnommen werden. Die Orthese sollte bei den gewohnten alltäglichen körperlichen Aktivitäten getragen werden. Die Teilnehmerinnen dokumentierten die tägliche Tragedauer in einem Protokoll, die Einhaltung des Interventionsprotokolls wurde auch in den zweiwöchentlichen Telefoninterviews abgefragt.
Kernarbeitsthesen und ihre Überprüfung
OT: Mit welchen Kernarbeitsthesen sind Sie in die Studie gegangen?
Kemmler: Unsere primäre Hypothese war, dass die Spinomed-active-Orthese die Intensität der Rückenschmerzen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Orthese signifikant reduziert. Die wichtigsten weiteren Arbeitsthesen waren, dass die Orthese hilft, den Thoraxkyphosewinkel zu verringern sowie die maximale Rumpfkraft zu verbessern.
OT: Wie haben Sie die Hypothesen überprüft?
Kemmler: Die Intensität der Kreuzschmerzen wurde anhand einer numerischen Bewertungsskala (NRS) von 0 (keine Schmerzen) bis 10 (schlimmstmögliche Schmerzen) über vier Wochen vor und während der letzten vier Wochen der Intervention erfasst. Die Teilnehmerinnen erhielten standardisierte Protokolle und wurden gebeten, jeden Abend ihre höchste tägliche „Low-Back-Pain“-Intensität, kurz LBP-Intensität, zu bewerten. Die durchschnittliche vierwöchige LBP-Intensität vor und während der letzten vier Wochen der Intervention wurde in die Analyse einbezogen. Parallel dazu wurden die Teilnehmerinnen gebeten, die tägliche Schmerzmedikation in ihren Protokollen festzuhalten. Die durchschnittliche Anzahl der Tage mit Schmerzmitteln während der vierwöchigen Perioden wurde in die Analyse einbezogen.
Beide Gruppen wurden alle 14 Tage angerufen, um Veränderungen von etwaigen Störfaktoren wie körperliche Aktivität und Bewegung, Physiotherapie, Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel, Krankheiten, andere Schmerzzustände, Ereignisse mit Auswirkungen auf das Wohlbefinden usw. zu ermitteln. Zu Anfang und Ende des viermonatigen Untersuchungszeitraums haben wir verschiedene Testverfahren wie unter anderem den Kyphometertest für die Bestimmung des Kyphosewinkels im aufrechten Stehen oder sichere Krafttests der Rumpfstreck- und ‑beugemuskeln zur Messung von Veränderungen der Rumpfkraft durchgeführt. Derzeit sind wir in der Schlussphase, also der schriftlichen Abfassung aller Ergebnisse.
30 Prozent weniger Schmerzen/Halbierung der Tage mit Schmerzmitteln
OT: Fanden Sie Ihre primäre Arbeitsthese bestätigt?
Kemmler: Wir haben zwar mit signifikanten Verbesserungen in der Gruppe der Orthesenträgerinnen gerechnet, aber es hat mich doch überrascht, wie gut diese Orthesen tatsächlich wirken. So wurde unsere primäre Arbeitsthese klar bestätigt: In der Gruppe der Orthesenträgerinnen konnten wir eine Reduktion der Schmerzintensität um 30 Prozent feststellen. Die Schmerzreduktion bei der SOG liegt damit drei Mal so hoch wie bei der Kontrollgruppe, die immerhin eine Schmerzreduktion von zehn Prozent aufwies. Wie diese zehn Prozent zustande kommen, können wir nur mutmaßen. Vielleicht beeinflusst das bewusste und intensive Beschäftigen mit dem eigenen Befinden die Wahrnehmung von Schmerz und reduziert die Bereitschaft, Schmerzmittel einzunehmen. Das zweite positive Ergebnis der Studie betrifft die sehr deutliche Reduktion der Schmerzmittel bei der Gruppe Orthesenträgerinnen: Die Tage mit Schmerzmittelmedikation haben sich im Gegensatz zur KG bei der SOG halbiert!
OT: Wie sahen die Ergebnisse beim Kyphosewinkel und der Rumpfkraft aus?
Kemmler: Auch diese sekundären Studienergebnisse sind positiv. Nehmen wir den Kyphosewinkel. Zu Beginn der Studie gab es zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede in Bezug auf den Kyphosewinkel. Nach der Intervention hatte sich bei der Kontrollgruppe nichts verändert. Bei der SOG hingegen verbesserte sich der Kyphosewinkel in aufrechter Position um ganze zehn Prozent. Das ist ein Wahnsinnseffekt! Bei der Rumpfkraft konnten wir eine Steigerung um 15 Prozent bei der SOG und bei der Kontrollgruppe von fünf Prozent feststellen.
OT: Gab es weitere interessante Rückmeldungen?
Kemmler: Wir bekamen eine Rückmeldung, der nachgegangen werden sollte. So brach eine Teilnehmerin ab, weil sie unter einer überaktiven Blase litt und die Orthese nicht schnell genug ausziehen konnte, um zur Toilette gehen zu können. Alle Ergebnisse und Details zum Studienaufbau und den Testverfahren werden hoffentlich ab Juli 2022 international veröffentlicht und nachzulesen sein. Wir möchten die Daten auch auf unterschiedlichen nationalen Kongressen wie der OTWorld, der Osteologie 22, dem Jahrestag der VSOU sowie dem DKOU vorstellen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Zu den Arbeitsgebieten von Prof. Wolfgang Kemmler am IMP der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) gehören die Osteoporoseforschung, Knochen-Muskel-Interaktion, Trainingslehre in Prävention und Rehabilitation, alternative Trainingstechnologien sowie Alters‑, Senioren- und Rehabilitationssport.
Druckfrisch legte die International Osteoporosis Foundation (IOF) im Februar einen Report über die Belastungen innerhalb der 27 EU-Staaten sowie in Großbritannien und der Schweiz durch Osteoporose vor. In diesen 29 Staaten waren im Jahr 2019 insgesamt 32 Millionen Menschen an Osteoporose – 25,5 Millionen Frauen und 6,5 Millionen Männer – erkrankt. Die Kosten für die Behandlung dieser Menschen belief sich in den 29 Ländern auf insgesamt 56,9 Milliarden Euro. Allein 2019 zählte die IOF 4,3 Millionen Brüche infolge von Osteoporose. Pro Minute kam es zu acht Brüchen. Darunter auch die besonders schmerzhaften Wirbelsäulenfrakturen.
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