Mus­kel­syn­er­gien: Nut­zen und Ein­satz in der Prothetik

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Diese Frage gilt als Sache der Perspektive, die Antwort darauf als Hinweis auf eine optimistische oder pessimistische Lebenseinstellung.

Für Dr. Eike Jaku­bo­witz, Insti­tut für Ortho­pä­di­sche Bewe­gungs­dia­gnos­tik, Labor für Bio­me­cha­nik, Medi­zi­ni­sche Hoch­schu­le Han­no­ver, ist der Inhalt von ganz ande­rer Bedeu­tung, denn einen vol­len Kaf­fee­be­cher grei­fen wir anders als einen lee­ren. Ist der Inhalt nicht sicht­bar und das Gewicht anders als erwar­tet, pas­sen wir die Greif­be­we­gung auto­ma­tisch an. Wie funk­tio­niert das bei Men­schen, die eine Arm­pro­the­se haben? Wie wir­ken sich sol­che „Stör­fak­to­ren“ aus? Die­ser und wei­te­ren Fra­gen geht Jaku­bo­witz gemein­sam mit sei­nem For­schungs­team in Han­no­ver nach. Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on stellt er zen­tra­le Ergeb­nis­se der Stu­die vor und gibt einen Aus­blick auf den Ein­satz in der Prothetik.

OT: Gezielt, koor­di­niert und vor allem dosiert zu grei­fen, ist mit Arm­pro­the­sen (noch) schwie­rig. Wor­an liegt das?

Eike Jaku­bo­witz: Die Funk­tio­na­li­tät von Arm­pro­the­sen hängt von meh­re­ren Fak­to­ren ab. Die Pro­the­sen­steue­rung nimmt bei dem ange­spro­che­nen Pro­blem aller­dings eine zen­tra­le Rol­le ein, weil die heu­ti­gen Tech­no­lo­gien kaum intui­tiv sind, son­dern fast aus­nahms­los auf „Work­arounds“ basie­ren. Die funk­tio­nie­ren zwar, erfor­dern aber oft­mals einen lan­gen Lern­pro­zess. Das vari­iert natür­lich von Per­son zu Per­son, weil eini­ge Pro­the­sen­nut­zer die­se Work­arounds bes­ser ver­in­ner­li­chen kön­nen als andere.
Für weni­ger anspruchs­vol­le Nut­zer bie­tet sich z. B. eine EMG-Zweikanalsteuerung (EMG = Elek­tro­m­yo­gra­phie, Anm. der Red.) an. Ver­ein­facht gesagt ist das aber nur ein On-off-Mechanismus. Das bedeu­tet, dass der Pro­the­sen­trä­ger das Schlie­ßen der Hand durch ein Mus­kel­si­gnal schlicht „ein­schal­tet“ und durch Weg­nah­me des Signals wie­der „abschal­tet“. Wann die rich­ti­ge Greif­kraft erreicht ist, merkt er dann anhand erlern­ter sen­so­ri­scher Sub­sti­tu­tio­nen. Das kann z. B. eine Geräuschän­de­rung des Antrieb­mo­tors sein, wenn er gegen den Wider­stand des Grei­f­ob­jekts arbei­tet. Es ist auf jeden Fall eine Men­ge Erfah­rung und Geschick erfor­der­lich, um sicher und flüs­sig grei­fen zu können.
Für ambi­tio­nier­te­re Nut­zer kann z. B. eine Mehr­ka­nal­steue­rung in Betracht kom­men. Dabei wer­den vier oder mehr Mus­kel­si­gna­le ver­schie­de­nen Greif- und/oder Arm­be­we­gun­gen zuge­ord­net. Immer öfter hört man aktu­ell von Mus­ter­er­ken­nungs­sys­te­men. Ampu­tier­te füh­ren hier­für Greif­be­we­gun­gen mit ihren nicht mehr vor­han­de­nen Hän­den durch. Zeit­gleich wer­den dann meh­re­re Mus­kel­si­gna­le am Stumpf über Elek­tro­den­clus­ter im Schaft erfasst. Algo­rith­men auf Basis Künst­li­cher Intel­li­genz wer­den dann in der Wei­se damit trai­niert, dass sie die Signal­mus­ter den ent­spre­chen­den Greif­be­we­gun­gen zuord­nen und wie­der­erken­nen kön­nen. Damit kön­nen dann zwei oder meh­re­re Bewe­gun­gen gleich­zei­tig ange­steu­ert werden.

OT: Mus­kel­syn­er­gien brin­gen als zen­tra­le Bau­stei­ne der Bewe­gungs­er­zeu­gung das Poten­zi­al einer intui­ti­ve­ren Steue­rung in der Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tä­ten mit sich. Wie genau funk­tio­niert die­ses Zusam­men­spiel der ein­zel­nen Mus­keln? Und wie macht sich die Pro­the­tik die­se Mecha­nis­men zu Nutze?

Jaku­bo­witz: Im Prin­zip stel­len die­se Signal­mus­ter bereits einen Teil die­ser Mus­kel­syn­er­gien dar. Die Theo­rie basiert auf der Idee, dass das zen­tra­le Ner­ven­sys­tem sozu­sa­gen „fer­ti­ge“ Bau­stei­ne ver­wen­det, um Arm­be­we­gun­gen zu gene­rie­ren. Die­se Bau­stei­ne bestehen aus Akti­vie­rungs­mus­tern von Mus­keln, die je nach Greif­auf­ga­be nur noch in einen zeit­lich sinn­vol­len Zusam­men­hang gesetzt wer­den müs­sen. Des­we­gen den­ken wir ja auch nicht dar­über nach, wel­chen der gut 20 Arm­mus­keln wir jetzt genau wann akti­vie­ren müs­sen, son­dern es wer­den immer meh­re­re Mus­keln gleich­zei­tig unter­be­wusst ange­steu­ert. Aus­druck die­ser Bau­stei­ne sind dann mathe­ma­tisch fak­to­ri­sier­te, also zeit­lich und struk­tu­rell auf­ge­split­te­te EMG-Signalreihen. Und der struk­tu­rel­le Teil davon ist genau das, was bei der Mus­ter­er­ken­nung auch schon Anwen­dung fin­det. In der Pro­the­tik ver­su­chen wir die­se natür­li­chen Bau­stei­ne nutz­bar zu machen, weil sie intui­tiv sind und die Steue­rung der Pro­the­se deut­lich ver­ein­fa­chen könn­ten. Dafür bedarf es einer brei­te­ren Mus­kel­si­gnal­mes­sung und beschleu­nig­ter Mus­ter­er­ken­nungs­tech­ni­ken, an denen wir in Han­no­ver gera­de forschen.

OT: Im Rah­men der Stu­die haben Sie die Fra­ge gestellt, wel­chen Ein­fluss exter­ne Stö­run­gen, z. B. das Heben eines uner­war­tet schwe­ren Gegen­stan­des, auf die Mus­ter­er­ken­nung haben. Wie sind Sie bei der Unter­su­chung vorgegangen?

Jaku­bo­witz: Das war eine zen­tra­le Fra­ge­stel­lung, weil bis dato nicht klar war, wie robust Mus­kel­syn­er­gien gegen­über äuße­ren Stö­run­gen sind, und ob sich die Zusam­men­set­zung, die Anzahl oder die Art der Bau­stei­ne viel­leicht sogar ver­än­dern, wenn unvor­her­ge­se­he­ne Ereig­nis­se beim Grei­fen von Gegen­stän­den pas­sie­ren. Für die Pro­the­tik wären sie dann unbrauch­bar oder schlimms­ten­falls sogar gefähr­lich. Sol­che Stö­run­gen ent­ste­hen im All­tag häu­fig dann, wenn irre­füh­ren­de Situa­tio­nen zu einer fal­schen Hand­lungs­pla­nung füh­ren, sodass die Hand­lun­gen moto­risch kor­ri­giert wer­den müs­sen. Das ist meis­tens der Fall, wenn es kei­ne logi­sche Bezie­hung zwi­schen Grö­ße und Gewicht eines Grei­f­ob­jekts gibt, also man z. B. mit einem vol­len Kaf­fee­be­cher rech­net, der sich dann beim Anhe­ben aber uner­war­tet als sehr viel leich­ter her­aus­stellt, weil er in Wirk­lich­keit leer ist. Und genau das haben wir im Labor unter­sucht. Unse­re Pro­ban­den haben immer wie­der vier gleich­aus­se­hen­de Becher von einem Tisch ange­ho­ben und woan­ders abge­stellt. Die Becher hat­ten aber unter­schied­li­che Gewich­te und wur­den in zufäl­li­ger Rei­hen­fol­ge prä­sen­tiert. Wir haben dann die EMG-Signale von zwölf Arm­mus­keln ana­ly­siert und die Mus­kel­syn­er­gien extra­hiert. Anschlie­ßend haben wir die­se Mus­kel­syn­er­gien – ver­ein­facht gesagt – mit denen ver­gli­chen, die ent­stan­den sind, als die Pro­ban­den Becher mit kon­stan­tem Gewicht ange­ho­ben haben.

OT: Wel­che zen­tra­len Ergeb­nis­se haben sich herausgestellt?

Jaku­bo­witz: Es war total span­nend zu beob­ach­ten, dass die simu­lier­ten Stö­run­gen im Labor tat­säch­lich gut funk­tio­niert haben. Bei der Stö­rung durch ein uner­war­tet leich­tes Gewicht wur­den die Becher viel frü­her und im Durch­schnitt dop­pelt so hoch wie die mit bekann­tem Gewicht ange­ho­ben. Und bei einem uner­war­tet schwe­ren Becher war es genau andersherum.
Wäh­rend des Zugrei­fens und auch wäh­rend des Anhe­bens der Becher wird aber stets die glei­che Anzahl an Mus­kel­syn­er­gien vom ZNS (Zen­tral­ner­ven­sys­tem, Anm. der Red.) ver­wen­det, egal, ob der Greif­vor­gang nun gestört war oder nicht. Auch die Zusam­men­set­zung der Syn­er­gien ver­än­der­te sich nicht, sodass davon aus­zu­ge­hen ist, dass die für die Pro­the­sen­steue­rung wich­ti­gen Signal­mus­ter nicht durch die Stö­rung beein­flusst wer­den. Es ver­än­der­te sich aller­dings die zeit­li­che Akti­vie­rung der Syn­er­gien. Als Reak­ti­on auf das erwar­te­te, aber zunächst aus­blei­ben­de Anhe­ben des Bechers mit schwe­rem Gewicht kommt es zu einer rela­tiv schnel­len Ver­stär­kung der Syn­er­gie­ak­ti­vie­rung. Im zwei­ten Fall, einer Stö­rung durch den leich­ten Becher, haben wir gese­hen, dass das Becher­an­he­ben ver­früht, also eben­falls uner­war­tet, erfolgt. Das Gan­ze wird durch eine rela­tiv lang­sa­me Abnah­me der Akti­vie­rung kom­pen­siert. Damit konn­ten wir zei­gen, dass die Per­for­mance einer mit Mus­kel­syn­er­gien gesteu­er­ten Arm­pro­the­se aller Vor­aus­sicht nach nicht durch Stö­run­gen im täg­li­chen Leben beein­träch­tigt wird. Ganz im Gegen­teil sogar: Die ver­än­der­ten Syn­er­gie­ak­ti­vie­run­gen könn­ten als zusätz­li­che Infor­ma­ti­on z. B. für die Greif­kraft genutzt wer­den, ohne dass dem Pro­the­sen­nut­zer ein direk­tes Feed­back zur Ver­fü­gung gestellt wer­den müsste.

OT: Die Stu­die wur­de mit Proband:innen ohne kör­per­li­che Ein­schrän­kun­gen durch­ge­führt. Las­sen sich die Ergeb­nis­se auf Men­schen mit Arm­pro­the­sen übertragen?

Jaku­bo­witz: Das ist eine sehr wich­ti­ge Fra­ge, weil die Über­trag­bar­keit unse­rer Ergeb­nis­se noch aus­steht. Aber wir wis­sen von unse­ren Kol­le­gen aus den USA, dass die­se für die Steue­rung wich­ti­gen Mus­kel­syn­er­gien auch bei trans­ra­di­al Ampu­tier­ten extra­hier­bar sind. In Abhän­gig­keit zur Stumpf­län­ge wei­sen sie dann zwar eine erheb­li­che Varia­bi­li­tät auf, aber das ist ledig­lich ein indi­vi­du­el­les Pro­blem, was vom Mus­ter­er­ken­nungs­al­go­rith­mus zu lösen ist. Fer­ner wird die Über­trag­bar­keit ja indi­rekt über die bereits am Markt eta­blier­ten Mus­ter­er­ken­nungs­sys­te­me bestä­tigt, die mit syn­er­gie­ähn­li­chen Mus­tern arbei­ten. Äußerst span­nend ist, dass wir auch eini­ge Dysmelie-Patienten in unse­rer Pati­en­ten­ko­hor­te haben, bei denen die Hand ja nie­mals ange­legt war und sie folg­lich auch kei­ne intui­ti­ven Greif­be­we­gun­gen simu­lie­ren kön­nen. Hier wird es eine Auf­ga­be sein, zu klä­ren, ob die hier gefun­de­nen Ergeb­nis­se auch für sol­che Pati­en­ten rele­vant sind.

OT: Was schluss­fol­gern Sie aus den Ergeb­nis­sen? Ist es sinn­voll, Mus­kel­syn­er­gien für die Steue­rung von Pro­the­sen zu nutzen?

Jaku­bo­witz: Die Ergeb­nis­se las­sen den Schluss zu, dass Mus­kel­syn­er­gien gegen­über äuße­ren Stö­run­gen viel­ver­spre­chend robust sind. Die Gefahr von Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen in einem Steue­rungs­sys­tem scheint rela­tiv gering zu sein, was die Sinn­haf­tig­keit einer pro­the­ti­schen Nut­zung wei­ter her­vor­hebt. Dar­aus kann auch abge­lei­tet wer­den, dass die kon­ven­tio­nel­len Mus­ter­er­ken­nungs­sys­te­me ver­mut­lich eben­so stör­un­an­fäl­lig sind, weil sie ja einen Teil der Mus­kel­syn­er­gien nut­zen. Obwohl wir noch nicht ganz so weit sind, die­se Tech­no­lo­gie ein­zu­set­zen, ist deut­lich zu erken­nen, dass Mus­kel­syn­er­gien in der Pro­the­tik aktu­ell von gro­ßem For­schungs­in­ter­es­se sind. Zahl­rei­che inter­na­tio­na­le Arbeits­grup­pen wid­men sich die­sem The­ma, wie die deut­lich gestie­ge­ne Anzahl an Ver­öf­fent­li­chun­gen und Kon­gress­bei­trä­gen in den letz­ten fünf Jah­ren zeigt.

OT: Sie haben die Stu­die in Mexi­ko beim ISPO‐Kongress 2023 vor­ge­stellt. Wie war die Resonanz?

Jaku­bo­witz: Die Prä­sen­ta­ti­on war ein tol­ler Erfolg. Die Arbeit wur­de am letz­ten Kon­gress­tag für den „Best Paper“-Award nomi­niert, was für uns eine gro­ße Aner­ken­nung unse­rer Arbeit bedeu­te­te. Obwohl wir den Award letzt­end­lich nicht gewon­nen haben, waren wir den­noch begeis­tert von dem Feed­back und dem Inter­es­se, das unse­re Arbeit bei den Kol­le­gen aus­ge­löst hat. Das bestärkt uns weiterzumachen.

                                                                                                                              Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

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