Mul­ti­pro­fes­sio­nel­le Ver­sor­gung als Maxime

Der technologische Fortschritt bringt auch in der Prothesenversorgung immer wieder neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensumstände von Menschen mit Amputationen mit sich. Allerdings müssen dafür die menschlichen und die maschinellen Fähigkeiten optimal miteinander verknüpft werden. Dieser höchst herausfordernden Aufgabe widmet sich Dr. med. Jennifer Ernst seit knapp einem Jahr als Chirurgin und Amputationsexpertin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Das Inter­view mit der OT-Redak­ti­on führt die sport­af­fi­ne Medi­zi­ne­rin von Bos­ton aus, wo sie den Som­mer über am renom­mier­ten Mas­sa­chu­setts Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy (MIT) hos­pi­tiert. Dr. Ernst schil­dert aus­führ­lich ihre Ent­schei­dung, 2021 vom Stand­ort Göt­tin­gen in die nie­der­säch­si­sche Lan­des­haupt­stadt zu wech­seln. Hier ent­wi­ckelt sie unter beson­de­ren aka­de­mi­schen Rah­men­be­din­gun­gen im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team die Poten­zia­le der moder­nen Stumpf­re­vi­si­ons­chir­ur­gie weiter.

OT: Frau Dr. Ernst, was waren die Grün­de, dass Sie sich zu einem Wech­sel von Göt­tin­gen nach Han­no­ver ent­schie­den haben?

Jen­ni­fer Ernst: Göt­tin­gen ist mei­ne Alma Mater – hier bin ich aus­ge­bil­det wor­den und gewach­sen und als Pro­jekt­lei­te­rin mit dem For­schungs­pro­jekt Prompt und über die Nach­wuchs­grup­pe Mobilise‑N wei­ter­hin eng ver­bun­den. Seit sei­nem Ruf an die MHH hat sich Prof. Dr. Ste­phan Seh­misch (Kli­nik­di­rek­tor Unfall­chir­ur­gie, Medi­zi­ni­sche Hoch­schu­le Han­no­ver) sehr für die Eta­blie­rung eines Schwer­punk­tes zur Ver­sor­gung von Ampu­tier­ten ein­ge­setzt. Seit Okto­ber 2021 darf ich nun an der MHH den Schwer­punkt „Inno­va­ti­ve Ampu­ta­ti­ons­me­di­zin“ lei­ten und knüp­fe dabei an die Vor­ar­beit von Dr. Horst Asch­off an. Der Schwer­punkt ist ganz­heit­lich kon­zi­piert und ergänzt die bereits bestehen­den osseo­in­te­gra­ti­ven Kon­zep­te der Kli­nik. Es geht ins­be­son­de­re dar­um, wei­te­re Mög­lich­kei­ten der Stumpf­re­vi­si­ons­chir­ur­gie zur Opti­mie­rung der Schaft­ver­sor­gung und Schmerz­the­ra­pie wie TMR (Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on), TSR (Tar­ge­ted Sen­so­ry Rein­ner­va­ti­on), RPNI (Rege­ne­ra­ti­ve-Peri­phe­ral-Ner­ve-Inter­face) und reha­bi­li­ta­ti­ve Nach­be­hand­lungs­kon­zep­te, die auf vir­tu­el­ler Rea­li­tät basie­ren, zu etablieren.

OT: Kön­nen Sie auf die genann­ten Kon­zep­te noch etwas genau­er eingehen?

Ernst: Es zeich­net sich womög­lich ein Para­dig­men­wech­sel im Umgang mit Ner­ven, Mus­keln und Seh­nen in der Ampu­ta­ti­ons­chir­ur­gie ab. Ziel ist es, die Infor­ma­tio­nen aus die­sen genann­ten Struk­tu­ren sozu­sa­gen nutz­bar zu machen. „Nutz­bar“ meint dabei, Infor­ma­tio­nen aus oben genann­ten Struk­tu­ren zur Pro­the­sen­steue­rung ein­set­zen zu kön­nen. Gleich­zei­tig kön­nen Stumpf- als auch Phan­tom­schmer­zen redu­ziert wer­den. Dies gelingt durch einen geziel­ten „selek­ti­ven“ Ner­ven­trans­fer von moto­ri­schen Ner­ven (TMR), aber auch von sen­so­ri­schen Ner­ven (TSR). Die „füh­len­de Pro­the­se“, die Sin­nes­ein­drü­cke wie Druck und Tem­pe­ra­tur adres­siert, ist eine gro­ße Visi­on in der Bein- und Arm­pro­the­tik. Eine wei­te­re wich­ti­ge sen­so­ri­sche Qua­li­tät ist die Pro­prio­zep­ti­on, die Infor­ma­tio­nen dar­über gibt, wo sich die Extre­mi­tät im Raum befin­det. Die­se Infor­ma­ti­on wird über Tei­le des Gehirns, Mus­keln und Seh­nen trans­por­tiert und wird in einer neu­ar­ti­gen Tech­nik, die Ago­nis­ten und Ant­ago­nis­ten ver­bin­det, als zusätz­li­che Mensch-Maschi­nen-Schnitt­stel­le genutzt. Hier sind wir beson­ders stolz in Han­no­ver, dass wir die­se Tech­nik als ers­tes Zen­trum in Euro­pa anbie­ten. Alle Mensch-Maschi­nen-Schnitt­stel­len haben gemein­sam, dass sie dem Betrof­fe­nen ermög­li­chen, best­mög­lich mit der ver­füg­ba­ren Pro­the­sen­tech­nik zu kom­mu­ni­zie­ren und bzw. oder dass dabei zusätz­li­che Infor­ma­tio­nen aus dem Ampu­ta­ti­ons­stumpf gewon­nen wer­den können.

OT: Wie über­tra­gen Sie die grund­sätz­li­chen Optio­nen auf die indi­vi­du­el­le Situa­ti­on der Patient:innen?

Ernst: Zu Beginn prü­fen wir in einem mul­ti­pro­fes­sio­nel­len Team, wel­che Beschwer­den für Patient:innen im Vor­der­grund ste­hen, wie stark Patient:innen in ihrem Leben ein­ge­schränkt sind und wel­che Maß­nah­men bereits ergrif­fen wur­den. In der Sprech­stun­de defi­nie­ren wir ein gemein­sa­mes Ziel. Im Anschluss kön­nen wir schau­en, wel­che Metho­den best­mög­lich zum Errei­chen des Ziels ein­ge­setzt wer­den kön­nen. Die meis­ten Patient:innen, die in unse­re Inter­dis­zi­pli­nä­re Sprech­stun­de kom­men, kla­gen über Schmer­zen am oder in Ver­bin­dung mit dem Ampu­ta­ti­ons­stumpf. Wir schau­en dann ganz genau dar­auf, wo der Schmerz wirk­lich her­kommt. Nach Aus­schöp­fen aller kon­ser­va­ti­ven nicht-chir­ur­gi­schen The­ra­pie­maß­nah­men wie z. B. der Schaft­an­pas­sung oder der Anpas­sung des Pro­the­sen­auf­baus wird reeva­lu­iert, ob die Ursa­che des Schmer­zes chir­ur­gisch adres­siert wer­den kann. Dabei klas­si­fi­zie­ren wir Weichteil‑, Kno­chen- oder Ner­ven­pro­ble­me. Hier bie­ten sich uns neben stan­dard­chir­ur­gi­schen Metho­den wie z. B. eine Ver­bes­se­rung der Weich­teil­de­ckung durch eine Trans­po­si­ti­on von Weich­teil­ge­we­be oder einer Rück­kür­zung knö­cher­ner Pro­mi­nen­zen auch oben genann­te inno­va­ti­ve Mög­lich­kei­ten an.

OT: Zu der genann­ten Sprech­stun­de gehö­ren nicht nur Mediziner:innen, son­dern noch wei­te­re Disziplinen.

Ernst: Genau. Wir haben ortho­pä­die­tech­ni­schen und the­ra­peu­ti­schen Sup­port von loka­len Part­nern und gleich­zei­tig wer­den die Patient:innen, die sich bun­des­weit in der Sprech­stun­de vor­stel­len, ein­ge­la­den, ihren loka­len Ver­sor­ger vor Ort oder per Video-Schal­tung wäh­rend der Vor­stel­lung in Han­no­ver zu betei­li­gen. Das klappt auch sehr gut. Dar­über hin­aus haben wir die Sprech­stun­den the­ma­tisch geglie­dert. Beim Schwer­punkt „Obe­re Extre­mi­tät“ sind spe­zia­li­sier­te Ergotherapeut:innen und bei der „Unte­ren Extre­mi­tät“ spe­zia­li­sier­te Physiotherapeut:innen mit dabei. Zum Ärz­te­team gehört neben Plas­ti­schen Chirurg:innen, Unfallchirurg:innen, Neurolog:innen, Schmerzmediziner:innen; Radiolog:innen auch das kli­ni­sche Ethik­ko­mi­tee als Teil des Expertenkreises.

OT: Ist die­se inter­dis­zi­pli­nä­re Band­brei­te eine Beson­der­heit des Stand­orts Hannover?

Ernst: Wir haben hier einen wich­ti­gen stand­ort­spe­zi­fi­schen Vor­teil bei der Ver­sor­gung von Men­schen nach Ampu­ta­tio­nen. Die MHH ver­fügt über eine aka­de­mi­sche Reha­bi­li­ta­ti­ons­me­di­zin und das Insti­tut für Sport­me­di­zin über eine Exper­ti­se und Infra­struk­tur wie z. B. Klet­ter- und Fit­ness­hal­len. Bei­de Dis­zi­pli­nen arbei­ten sehr eng zusam­men, so dass wir die Patient:innen hier wäh­rend des sta­tio­nä­ren Ampu­ta­ti­ons­auf­ent­halts bereits gezielt mobi­li­sie­ren kön­nen. Mir fällt direkt ein Pati­ent ein, der bei einem Unfall bei­de Bei­ne ver­lo­ren hat, der in sei­nen Inte­rims­pro­the­sen über ein ent­spre­chen­des Sicher­heits­sys­tem gesi­chert bereits bei uns die ers­ten Schrit­te gegan­gen ist.

OT: Die Dau­er bis zur Ein­lei­tung der Mobi­li­sa­ti­on der Patient:innen steht immer wie­der zur Diskussion.

Ernst: Wir haben es hier mit einem bun­des­wei­ten Pro­blem in der Ver­sor­gung von Ampu­tier­ten zu tun, dass eine ampu­ta­ti­ons­spe­zi­fi­sche Reha erst begin­nen kann, wenn die Inte­rims­pro­the­se fer­tig­ge­stellt ist und die Patient:innen eigen­stän­dig zu den Anwen­dun­gen gehen kön­nen. In Han­no­ver begin­nen Mobi­li­sa­ti­on und Kräf­ti­gung der häu­fig geschwäch­ten Mus­ku­la­tur noch wäh­rend des sta­tio­nä­ren Auf­ent­hal­tes. Aus der Sport­me­di­zin kom­men tol­le Kon­zep­te, wie etwa die Arbeit mit TRX-Bän­dern am Rumpf zur frü­hen Sta­bi­li­sie­rung des Gleich­ge­wichts. Defi­zi­te, die sich früh ein­ge­schli­chen haben, sind im Anschluss schlecht wie­der zu korrigieren.

OT: Exis­tie­ren kon­kre­te „Return to Mobility“-Konzepte, an denen sich die Ver­sor­gung orientiert?

Ernst: Zu Beginn steht immer eine Ana­ly­se, wie mobil und sport­lich die Patient:innen vor ihrer Ampu­ta­ti­on gewe­sen sind. Was ist das Ziel der Reha­bi­li­ta­ti­on, ange­passt an Umfeld­fak­to­ren? Wenn z. B. das Ziel ist, wie­der klet­tern zu kön­nen, kann dies ent­spre­chend adres­siert wer­den. Patient:innen bei uns haben auch nach der sta­tio­nä­ren Pha­se die Mög­lich­keit, ambu­lant die Hal­len­an­ge­bo­te mit oder ohne Therapeut:innen zu nutzen.

OT: Wel­chen Anteil hat die Endo-/Exo-Pro­the­tik bei Ampu­ta­tio­nen am Stand­ort Hannover?

Ernst: Bei per­sis­tie­ren­den Pro­ble­men mit dem Schaft, z. B. Haut­pro­ble­men, ein­ge­schränk­tem Schaft­kom­fort etc., und sehr kur­zen Stümp­fen ist Osseo­in­te­gra­ti­on eine Alter­na­ti­ve. Neben den oben bereits geschil­der­ten Ver­fah­ren stellt die Osseo­in­te­gra­ti­on eine neue The­ra­pie­op­ti­on dar. Es freut mich sehr, hier an Pio­nier­ar­beit anzu­knüp­fen und an der Medi­zi­ni­schen Hoch­schu­le mit dem Schwer­punkt „Inno­va­ti­ve Ampu­ta­ti­ons­me­di­zin“ ein brei­tes Port­fo­lio für die Ver­sor­gung Ampu­tier­ter anbie­ten zu kön­nen. Die Inter­dis­zi­pli­nä­re Sprech­stun­de ist ein hoher per­so­nel­ler und zeit­li­cher Auf­wand. Als Uni­ver­si­täts­kli­nik ist es daher eben­so unser Ziel, unse­re Ver­sor­gun­gen zu eva­lu­ie­ren und eine Evi­denz – gera­de für die neue­ren Ver­fah­ren – zu schaf­fen, um auf­zei­gen zu kön­nen, ob das jewei­li­ge neue Ver­fah­ren auch mess­ba­re Vor­tei­le birgt. Es ist wich­tig, dass wir unse­re Ent­schei­dun­gen im Ver­sor­gungs­pfad ska­lie­ren – etwa: Ist die Pro­the­se bes­ser steu­er­bar? Was bedeu­tet kon­kret „bes­ser steu­er­bar“? Führt die Schmerz­re­duk­ti­on zu einer mess­ba­ren Akti­vie­rung der Patient:innen? Ist ihre Lebens­qua­li­tät gestie­gen? Gera­de in einem aka­de­mi­schen Umfeld haben wir noch am ehes­ten die Mög­lich­keit dazu. Die­se Ziel­pa­ra­me­ter ste­hen im Vor­der­grund und moti­vie­ren unser Handeln.

OT: Sie spra­chen zu Beginn des Gesprächs kurz das Pro­jekt „Prompt“ an (s. Inter­view in der OT Mai/2022), das sich bei der The­ra­pie von Phan­tom- und Ner­ven­schmer­zen der Hil­fe von Vir­tu­al Rea­li­ty bedient. Wie weit fort­ge­schrit­ten ist die Studie?

Ernst: Wir haben das Pro­jekt aktu­ell beim DMIDS (Deut­sches Medi­zin­pro­duk­te-Infor­ma­ti­ons- und Daten­bank­sys­tem, Anm. d. Red.) ange­mel­det und pla­nen spä­tes­tens im Okto­ber 2022, mit der Stu­die zu begin­nen. Die Dau­er der Stu­die ist auf vier Mona­te angelegt.

OT: Bereits seit 2020 enga­gie­ren Sie sich im Vor­stand der Fort­bil­dungs­ver­ei­ni­gung für Ortho­pä­die-Tech­nik (FOT), gehö­ren seit Mai auch dem Vor­stand der Inter­na­tio­na­len Gesell­schaft für Pro­the­tik und Orthe­tik (ISPO) Deutsch­land und seit August dem erwei­ter­ten Vor­stand der Deut­schen Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung (DGIHV) an. Wel­che Moti­va­ti­on ver­birgt sich hin­ter die­ser Gremienarbeit?

Ernst: Als Besu­che­rin des jähr­li­chen FOT-Kon­gres­ses fand ich deren Pro­gramm und die sehr kol­le­gia­le Atmo­sphä­re immer sehr gelun­gen – mit inno­va­ti­ven Bei­trä­gen von Orthopädietechniker:innen, aber auch Mediziner:innen. Ingo Pfef­fer­korn, Prä­si­dent der FOT, hat mich schließ­lich ange­spro­chen, ob ich mir vor­stel­len könn­te, den Vor­stand als Medi­zi­ne­rin zu ergän­zen. Dar­über habe ich mich sehr gefreut, denn es bil­det letzt­end­lich mei­ne Maxi­me ab, dass die Ver­sor­gung von Ampu­tier­ten nur mul­ti­pro­fes­sio­nell erfolg­reich ist. So erklärt sich auch mein Enga­ge­ment bei der ISPO und der DGIHV.

OT: Zum Abschluss: Was sind Ihre kom­men­den Ziel­set­zun­gen für die Arbeit als Chir­ur­gin und Amputationsspezialistin?

Ernst: Kurz- bis mit­tel­fris­tig geht es mir dar­um, inno­va­ti­ve Kon­zep­te wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und nach Auf­zei­gen eines mess­ba­ren Zuge­winns mög­lichst vie­len Patient:innen zugäng­lich zu machen. Mei­ne Visi­on ist es, am Stand­ort Han­no­ver noch enger mit Entwickler:innen und Orthopädietechniker:innen zusam­men­zu­ar­bei­ten, um die Mög­lich­kei­ten, die uns Bio­nik bie­tet, für die Patient:innen anwend­bar zu machen und wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Kon­kret: Wie kön­nen wir die Bio­lo­gie unse­rer Patient:innen adres­sie­ren, um eine best­mög­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on mit der ver­füg­ba­ren Tech­nik zu ermöglichen?

Die Fra­gen stell­te Micha­el Blatt.

 

 

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