Es ist ein Gemeinschaftsprojekt der baden-württembergischen Wirtschaft – des Baden-Württembergischen Handwerkstags e. V., des Baden-Württembergischen Industrie-und Handelskammertags e. V. und des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e. V. (Südwestmetall) – und ermöglicht Auszubildenden für vier Wochen ins Ausland zu gehen. Wie das Projekt funktioniert, wie Arbeitgeber:innen und Auszubildende sich bewerben können und weitere Fragen hat die OT-Redaktion im Gespräch mit Monika Flack, Projektleiterin „Go.for.europe“ beim Baden-Württembergischen Handwerkstag, gestellt.
OT: Warum sollten junge Handwerker:innen ins europäische Ausland, um dort zu arbeiten?
Monika Flack: Der Aufenthalt im Ausland erweitert in allererster Linie den Horizont der jungen Leute. Sie können ihre erlernten Fähigkeiten in einem neuen Kontext anwenden und merken dabei oft, wie viel sie selbst bereits beruflich können. Zudem hilft ein Auslandsaufenthalt, die Breite des eigenen Berufsfeldes zu erkennen. Oft lernt man in der dualen Ausbildung besonders die Spezialisierung des eigenen Betriebes sowie die dort angewendeten Methoden kennen. Ein Auslandspraktikum ermöglicht es, eine ganz andere Perspektive auf Methoden und Lösungsansätze im eigenen Berufsfeld zu bekommen.
Unsere Aufenthalte erstrecken sich tatsächlich nur über die Dauer von vier Wochen. Da im Rahmen des Berufsbildungsgesetzes während der Ausbildung ein Auslandspraktikum nur in bezahlter Freistellung absolviert werden darf, sind längere Aufenthalte während der Ausbildung aus betrieblicher Sicht nicht realisierbar.
Allerdings ist Erasmus genau darauf auch angepasst und ermöglicht ebenfalls ausgelernten Gesell:innen bis zu zwölf Monate nach Abschluss ihrer Ausbildung ein Auslandspraktikum zu absolvieren. Andere Projekte, zu denen die Servicestelle Go.for.europe baden-württembergische Azubis ebenfalls beraten kann, bieten genau solche Aufenthalte an. Nach der Berufsausbildung kann ein Betrieb den oder die Junggesellen/-in auch unbezahlt für eine solche Erfahrung freistellen. Besonders für kleinere Betriebe ist es damit leichter möglich, ihren jungen Profis solch eine Erfahrung zu ermöglichen.
OT: Und aus der Perspektive der Arbeitgeber:innen: Warumsollte ich meine Nachwuchskräfte gehen lassen?
Flack: In Zeiten des Fachkräftemangels fällt es vielen Betrieben zunehmend schwer, adäquate Bewerber:innen für ihre Ausbildungsplätze zu finden. Das ist im Handwerk nicht anders als in der Industrie. Auch der Akademisierungstrend tut sein Übriges. Deshalb müssen Betriebe sich überlegen, wie sie die duale Ausbildung für junge Leute attraktiv gestalten. Auslandsaufenthalte sind im Studium komplett normal – warum sollte man das nicht also auch in der dualen Ausbildung zum Standard machen? Die jungen Leute kommen mit einem erweiterten Horizont und besserem beruflichen Selbstbewusstsein zurück. In der Regel haben sie auch ihre Selbstständigkeit erweitert und fühlen sich neuen Herausforderungen eher gewachsen. Besonders Betriebe, die ausbilden, um sich selbst die Fachkräfte für die Zukunft „heranzuziehen“, können hier also nur gewinnen. Es ist allerdings eine Investition: Ein solches Auslandspraktikum ist auf Grundlage des Berufsbildungsgesetzes nur in bezahlter Freistellung möglich.
OT: Welche Voraussetzungen müssen die jungen Menschen mitbringen?
Flack: Bewerber:innen sollten eine Offenheit für die neue Kultur, Leidenschaft für den eigenen Beruf und Interesse daran mitbringen, etwas Neues zu lernen. Auch einen gewissen Grad an Flexibilität braucht es – im Ausland läuft vieles ein bisschen anders als zu Hause. Allerdings werden sich Flexibilität und Ambiguitätstoleranz auch während des Aufenthaltes weiterentwickeln. Mut, in einer Fremdsprache zu kommunizieren ist natürlich auch von Nöten. In der Regel sind die eigenen Englisch- und/ oder Spanischkenntnisse deutlich besser, als die meisten Teilnehmer:innen von sich glauben.
OT: Wie können sich interessierte Auszubildende bewerben?
Flack: Für die Bewerbung benötigen wir ein aussagekräftiges Motivationsschreiben auf Englisch oder in der Landessprache. Hierbei sollte klar zu erkennen sein, was sich der Bewerber oder die Bewerberin von dem Praktikum erhofft und ebenfalls was er/sie am eigenen Beruf toll findet. Firmen bieten eher denjenigen einen Praktikumsplatz an, die eine echte Begeisterung für ihren Ausbildungsberuf
zeigen. Des Weiteren benötigen wir einen Lebenslauf in der Landessprache und auf Deutsch, aus dem klar hervorgeht, welche Aufgaben der oder die Auszubildende bereits selbstständig ausführt. Auch die Genehmigung von Berufsschule und Betrieb müssen mitgeschickt werden. Zeugnisse oder Empfehlungsschreiben benötigen wir allerdings keine.
OT: Wie sieht die Begleitung durch das Programm von „Go.for.europe“ aus?
Flack: Wir bieten jungen Azubis aus Baden-Württemberg ein Komplettpaket an. Wir kümmern uns vorab um Flüge, Unterkunft, Praktikumsplatz, Versicherung und Transport vor Ort sowie um die notwendige Förderung über das Erasmus-Programm, ohne die ein solcher Aufenthalt finanziell kaum zu stemmen wäre. Des Weiteren bereiten wir die Teilnehmenden in einem Vorbereitungsseminar auf den Aufenthalt vor und sind während der Reise und des Aufenthaltes für die Teilnehmenden erreichbar, wenn sie Unterstützung bei der Lösung von Problemen benötigen. Wir kümmern uns darum, dass alle notwendigen Unterlagen ausgefüllt und unterzeichnet werden und führen im Nachgang ebenfalls eine kurze Nachbereitung durch. Zudem informieren wir auch zu alternativen Möglichkeiten, während oder nach der Ausbildung ins Ausland zu gehen.
OT: Aus Ihrer Erfahrung: Was ist die größte Hürde für die jungen Menschen sich zu bewerben?
Flack: Das eindeutig größte Hindernis ist eine nicht erteilte Genehmigung durch den Ausbildungsbetrieb. Deshalb empfehlen wir Auszubildenden grundsätzlich, sich vorab selbst zu überlegen, welche Vorteile ihr Betrieb durch den Aufenthalt hat. Schließlich soll es im besten Fall eine Win-win-Situation für beide Seiten sein. Es kann grundsätzlich eine gute Idee sein, den Wunsch nach einem
Auslandspraktikum bereits bei der Bewerbung anzugeben, damit man gemeinsam mit dem Betrieb erarbeiten kann, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Aufenthalt realisiert werden kann. Die andere große Hürde ist die Angst vor Fremdsprachen. Hier muss ich aus Erfahrung sagen, dass die meisten Azubis sich selbst schlicht unterschätzen. Oft braucht es gar nicht viel mehr als Mut, die neue Sprache zu nutzen.
OT: Wie gut wird das Programm angenommen?
Flack: Das Programm wird von Azubis und zunehmend auch immer mehr von Betrieben wirklich gut angenommen. Einige Betriebe nutzen es beispielsweise als Anreiz oder Belohnung für gute Leistungen. Azubis sind in der Regel schlicht begeistert, dass sie in der dualen Ausbildung ähnliche Möglichkeiten wie in einem Studium haben.
OT: Welche Berufsgruppen wagen grundsätzlich eher den Schritt ins Ausland?
Flack: Grundsätzlich haben wir viele Anfragen aus dem Holzbereich. Circa ein Drittel der Teilnehmenden sind Schreiner:innen oder Zimmermänner/-frauen. Auch Konditor:innen und Optiker:innen sind häufig vertreten. Einen positiven Trend beobachten wir derzeit auch im Orthopädiebereich und bei den KFZ-Mechatroniker:innen.
OT: Gibt es für deutsche Unternehmer:innen die Möglichkeit, auch in Deutschland über das Projekt Plätze für ausländische Nachwuchshandwerker:innen anzubieten?
Flack: Die Möglichkeit gibt es, aber es Bedarf Flexibilität. Viele Anfragen, die uns erreichen, betreffen Bewerber:innen, die selbst kein Deutsch sprechen. Kommunikation kann dann in der Regel nur auf Englisch oder Französisch erfolgen. Auch ist die Unterbringung öfters ein Problem, an dem die Umsetzung scheitert. Wenn Firmen bereit sind, sich darum zu kümmern, dass ein möglicher Praktikant oder Praktikantin in der Zeit des Aufenthaltes ein Dach über dem Kopf hat, dann steht dem oft wenig im Wege. Letztlich abhängig ist es aber natürlich auch vom Interesse aus dem Ausland, welches schwer vorhersehbar ist. In einem Jahr braucht man viele Plätze in einer Berufsgruppe, im nächsten Jahr gibt es aus dem Sektor gar keine Anfragen.
OT: Gibt es aktuell die Möglichkeit, sich noch für Praktika im Jahr 2022 zu bewerben?
Flack: Für Bewerber:innen aus Baden-Württemberg gibt es bis Ende Juni noch die Möglichkeit, sich für Aufenthalte im Handwerk zu bewerben. Aber auch diejenigen, die ein bisschen „zu spät dran sind“, müssen nicht leer ausgehen. Wir können auch zu Aufenthalten über andere, sogenannte Poolprojekte beraten.
OT: Arbeiten Sie grundsätzlich mit allen europäischen Ländern zusammen oder wie funktioniert die Auswahl der Zielorte?
Flack: Wir arbeiten mit Partnern im Ausland, die die deutsche Ausbildung verstehen und uns Praktikumsplätze in guter Qualität bieten können. Wir suchen grundsätzlich immer nach neuen Partnern in Ländern, die häufig nachgefragt werden (zum Beispiel die skandinavischen Länder). Aber das kann mitunter ein langwieriger Prozess sein, bis ein passender Partner gefunden wird.
OT: Wie ist die Rückmeldung von Absolvent:innen der Praktika?
Flack: Viele der Absolvent:innen machen Erfahrungen, die sie beruflich weiterbringen und ihren Horizont erweitern. Sie bekommen ein realistisches Bild davon, wie viel sie fachlich bereits gelernt haben, was ihnen am Arbeitsplatz wichtig ist und wie sie gerne arbeiten möchten.
OT: Welche Entscheidungshilfen können Sie aus Ihrer Erfahrung heraus den interessierten Auszubildenden geben?
Flack: Grundsätzlich sollte sich jeder Bewerber/jede Bewerberin einfach fragen: Bin ich offen für eine neue Erfahrung, die vielleicht ganz anders sein wird, als ich es erwarte? Kann ich damit umgehen, wenn die Unterkunft anders ist als mein Zimmer zu Hause? Wenn die Prioritäten meines Aufnahmebetriebes andere sind als die meines Ausbildungsbetriebes? Will ich alternative Lösungsansätze sehen? Aber auch wichtig: Schaffe ich es, den Berufsschulstoff selbstständig nachzuholen? Wenn es auf all diese Fragen ein klares „Ja!“ gibt, dann sollte sich der Interessent/die Interessentin um ein Auslandspraktikum in der Ausbildung bemühen.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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