Einleitung
Diagnose und Anamnese mit Muskelstatus und Bewegungsumfängen sind die Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen orthetischen Versorgung; auch eine adäquate Zielformulierung je nach den Möglichkeiten des Patienten gehört dazu. Damit ist die Beantwortung etlicher Fragen verbunden:
- Wie schwer ist die Erkrankung, und liegen weitere Einschränkungen vor?
- Ist die Restkraft ausreichend für ein freies Kniegelenk, oder kann für das Erreichen einer größeren Gehstrecke eine Streckhilfe hilfreich sein?
- Muss wegen zu großer Kontrakturen oder zu geringer kniestreckender Muskulatur das Kniegelenk gesperrt werden, oder ist es dem Patienten möglich, vorübergehend durch eine Streckhilfe mit einem geöffneten Kniegelenk zu gehen?
- Liegen Fehlstellungen wie ein Spitzfuß vor?
- Kann mit einer aufrichtenden Kraft im Knöchelgelenk für den Patienten eine Verbesserung erzielt werden? — Soll die Orthese auch im Nassbereich oder beim Baden getragen werden?
Um den Patienten adäquat versorgen zu können, bedarf es demnach einer sorgfältigen Planung. In diesem Zusammenhang zeigt der vorliegende Artikel die aktuellen Möglichkeiten im Bereich KAFO auf.
Grundaufgabe einer Orthese
Der passive Bewegungsapparat (Knochen, Gelenke, Bänder) muss bei einer Schwäche des aktiven Bewegungsapparates (also der Muskulatur) durch die Orthese unterstützt werden, um die Lastübernahme durch die untere Extremität zu gewährleisten und die Fortbewegung zu ermöglichen. Daher steht in der orthetischen Versorgung die korrekte Bewegungsübertragung vom Bein zur Gehorthese und umgekehrt an erster Stelle. Die Orthesengelenke müssen, um diesen Zweck zu erfüllen, stabil eingebunden werden. Eine instabile Orthese, die die Funktion der Gelenke nicht über die Anlageflächen auf den Körper übertragen kann, erfüllt somit ihren Zweck nicht 1. Um bei allen Arten von Fehlstellungen die Kräfte effizient übertragen zu können, sind 3‑Punkt-Systeme erforderlich (Abb. 1–3). Generell sollte deshalb eine Orthese zirkulär umgreifend gestaltet werden, um von allen Seiten auf das Bein stützend und führend einwirken zu können.
Stabilisierung in der Frontalebene
Bei unzureichender aktiver Kontrolle der Beinachse kommt es meistens zum sogenannten medialen Kollaps (Abflachung der Längswölbung, Fersenvalgus, Knieflexion und ‑valgus sowie Flexion, Adduktion und Innenrotation der Hüfte). Zentraler Anstützpunkt in der Frontalebene ist neben der Fußstabilisierung die Anlage unterhalb des Kniegelenks. Erweist sich diese Anlage (siehe Punkt Nr. 3 in Abb. 1b) als insuffizient, kippt das Standbein nach innen (Abb. 1a); die Einbeinunterstützung ist somit unzureichend gesichert, womit ein Anheben des Spielbeins auf der Gegenseite erschwert oder gar verhindert wird.
Stabilisierung in der Sagittalebene
Für die Kontrolle in der Sagittalebene kommt der Anlage vorne unterhalb des Kniegelenkes eine zentrale Bedeutung zu (Abb. 3a). Zum einen dient sie als Anstützpunkt gegen eine unkontrollierte Knieflexion, zum anderen verhindert sie das unkontrollierte Vorkippen des Unterschenkels in die Dorsalflexion (Abb. 3b). Durch das Nach-vorne-Wandern des Belastungsvektors in der Standphase erhöht sich zunehmend die Kraft auf die vordere Anlage 3; dieser wichtige Anlagepunkt muss daher genügend Stabilität aufweisen. Ein einfacher Gurt ist dazu nicht ausreichend.
Sobald eine Kniesperre und/oder eine Krafteinheit im Kniegelenk verwendet wird (Abb. 2b u. c sowie 3a u. b), muss zur Sicherung des Anlagepunktes 4 die Oberhülse der Orthese von vorne geöffnet werden. Dem schon bewegungseingeschränkten Patienten wird so ein leichteres Ein- und Aussteigen und ggf. eine erhöhte Selbstständigkeit ermöglicht. Eine Ausnahme besteht, wie in Abbildung 2a dargestellt wird, in einer Ausführung mit freiem Kniegelenk, das nur einer seitlichen Stabilisierung dient. Um die noch funktionierende kniestreckende Muskulatur zu schützen und den Sitzkomfort zu verbessern, ist ein hinteres Öffnen der Oberschenkelhülse vorteilhaft.
Eine hohe Priorität muss auch der Fußbettung eingeräumt werden. Um die komplexe Fußstruktur als Basis der Lastübertragung zu unterstützen, aber gleichzeitig die Mobilität im oberen Sprunggelenk (OSG) zuzulassen, ist eine zirkuläre Umfassung des Fußes unter Beachtung der 3‑Punkt-Systeme erforderlich. Von vorne betrachtet dient das in den Abbildungen 2a–c wiedergegebene und mit A, B und C gekennzeichnete 3‑Punkt-System zur seitlichen Fixierung des Fußes. Damit diese Fixierpunkte durch ein Herausdrehen nicht verloren gehen, sichert das 3‑Punkt-System (I, II und III) den Fuß von oben. Diese Fixierung sichert das untere Sprunggelenk (USG) ausreichend vor einer ungewollten Bewegung.
Stabilitätsbedingungen
“Was nicht steht, das nicht geht” ist eine altbekannte Erkenntnis in der Orthopädie-Technik. Gemeint ist damit, dass ohne Stabilität in der Beinachse keine Einbeinunterstützung und somit keine Mobilität durch das Vorschwingen der Gegenseite möglich ist. Für ein stabiles Gleichgewicht muss das Lot vom Hüftgelenk (Hüftlot H) in die Unterstützungsfläche fallen (Abb. 4c u. d, blau gekennzeichnet). Der Rumpf ist aufgerichtet; Becken und Schulter bilden eine Linie. Zum Messen wird ein Pendellot oder ein Linienlaser verwendet; Messmethoden mit Gewichtsmessung wie Kraftmessplatten können dagegen durch ungleiche Gewichtsverteilungen die Ergebnisse verfälschen. In Abbildung 4a befindet sich das Hüftlot zu weit hinten, in Abbildung 4b zu weit vorne. In beiden Fällen kann ein stabiles Gleichgewicht nur über eine Kompensation im Oberkörper erzielt werden 2. Die Ursache ist entweder ein falscher Lotaufbau, oder den Orthesengelenken fehlt es an einer definierten Plantar- oder Dorsalflexionsbegrenzung. Lotverschiebungen können aber auch durch eine rotationsinstabile Orthese verursacht werden, wenn zu weiche Materialien wie z. B. PP oder PE zum Verlust der Anlagepunkte führen. In beiden Fällen muss sich der Patient schon im Stand auf das Ausgleichen seiner Statik konzentrieren; eine Gangeinleitung ist dann nur schwer oder gar nicht möglich. In Abbildung 4c steht die Figur in der definierten Dorsalflexionsbegrenzung des orthetischen Knöchelgelenkes (Abb. 5a–e). Die vierte Figur (Abb. 4d) unterscheidet sich von der dritten durch das verwendete Knöchelgelenk. Die hier zum Einsatz kommende Ausführungsvariante (Abb. 5f u. g) unterstützt vorne mit einer aufrichtenden Kraft ein aufrechteres Stehen, ohne die Bewegung nach vorne zu blockieren. Die kniestreckende Muskulatur benötigt hierdurch weniger Kraft im Stand; der Bewegungsausschlag wird durch die Körpergewichtsverlagerung nach vorne freigegeben.
Knöchelgelenke
Alle hier dargestellten Knöchelgelenke sind als unilaterale Gelenke konzipiert und verfügen im Grundaufbau über eine maximale Bewegungsmöglichkeit von 12° nach hinten (Plantarflexion) oder nach vorne (Dorsalflexion), unabhängig von der eingesetzten Krafteinheit. Die Bewegungsbegrenzung erfolgt über Wechselkeile (Abb. 5a–c und 5e–g) oder Hülsenbegrenzungen (Abb. 5d) und lässt somit während der Anprobe ein Feintuning des Aufbaus zu 3. Die nach Gewichtsklassifizierung (5‑kg-Klassen) eingeteilten Gelenke mit Krafteinheiten (Abb. 5 e–g) werden in vier Kräfteklassen unterteilt. Die “leichte Kraft” (blau) dient als fußanhebende Kraft in der Schwungphase, während die “kleine Kraft” (grün) z. B. für eine kontrollierte Fersenabrollung bei der Lastübernahme sorgt. Um einen Spitzfuß zu reduzieren, kann hinten mit einer “mittleren Kraft” (grau) (Abb. 5e u. f) gearbeitet werden. Eine “große Kraft” (gelb) vorne richtet den Patienten im Stand auf. Für einen besseren Überblick über die Möglichkeiten der Knöchelgelenke lassen sich 3 Gruppen unterscheiden, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird.
Funktionsgruppen beim Knöchelgelenk
Folgende Gruppen lassen sich in diesem Zusammenhang unterscheiden:
- Zu Gruppe 1 gehören konventionelle teilbegrenzte Knöchelgelenke (Abb. 5a–c). Der Patient steht dabei in der maximalen Dorsalbegrenzung; bei der Lastübernahme ist eine begrenzte Plantarflexion möglich. Die Gelenke (Abb. 5a u. b) verhindern über Reibungskräfte ein Absinken der Fußspitze in der Schwungphase. Das Knöchelgelenk (Abb. 5c) kann durch die vordere leichte Kraft (Zugkraft) den Fuß auch gegen Druck beim Durchschwingen in die maximale Dorsalbegrenzung anheben. Beim modularen Basisgelenk aus Abbildung 5b wird über die Verzahnung des zweiteiligen Fußbügels (rot) unabhängig von der Bewegungsbegrenzung der Winkel zwischen Fußteil und Unterschenkelfassung (innerer Winkel) angepasst.
- In Gruppe 2 fallen Knöchelgelenke, die den Patienten wahlweise mit einer leichten (blau) oder kleinen (grün) Kraft sowohl in Richtung der Dorsal- als auch in Richtung der Plantarflexion unterstützen können (Abb. 5d). Durch die relativ geringen Kräfte zum Körpergewicht steht der Patient – wie bei den teilbegrenzten Gelenken – in der maximalen Dorsalbegrenzung, und die Bewegung des OSG erfolgt in Richtung Plantarflexion. Die Bewegungsbegrenzung erfolgt über eine Hülse innerhalb der Feder (gelb). Über die Gewindestifte kann zusätzlich die Loteinstellung (innerer Winkel) auch später noch angepasst werden. Dabei ist es möglich, vorne und hinten eine bewegungsbegrenzbare Kraft oder eine Kombination zwischen Kraft und einem verstellbaren Anschlag (in der Abbildung in Blau) zu wählen. Wird vorne eine Kraft eingesetzt, wird die Abstoßphase durch die in der Krafteinheit gespeicherte Energie unterstützt. In Kombination kann zur Harmonisierung der Fersenabrollung und zur Unterstützung der Fußhebung in der Schwungphase hinten z. B. eine leichte Kraft eingesetzt werden. Durch das Verhältnis zwischen hinterer und vorderer Kraft wird der Fuß in der Schwungphase in der voreingestellten Position gehalten. Das Gelenk kann somit die Balance zwischen dorsal- und plantarflektierenden Kräften beeinflussen, aber nicht ersetzen.
- Dazu werden die in Gruppe 3 subsumierten Orthesengelenke benötigt, die mit leichter, kleiner, mittlerer oder großer Kraft bestückt werden können und dadurch fast alle ausgefallenen Funktionen der sprunggelenksteuernden Muskulatur kompensieren können. Als Grundmodell dient das aus Abbildung 5b bekannte Gelenk, das mit modularen Aufbauten durch vordere und/oder hintere Krafteinheiten ergänzt werden kann. Um die Krafteinheiten in ihrem Bewegungsumfang nicht zu beeinflussen, erfolgt die Bewegungsbegrenzung über Anschlagkeile. So kann beispielsweise die eingeschränkte Fußhebermuskulatur bei der Lastübernahme durch eine leichte hintere Kraft unterstützt werden, während in der weiteren Abrollung eine große vordere Kraft die exzentrische Arbeit der plantarflektierenden Muskulatur simuliert. Die Varianten mit vorderem oder hinterem Kraftgehäuse besitzen für die jeweilige Gegenrichtung eine leichte Kraft als Zugeinheit (Abb. 5e‑g, blau). Über die im Kraftgehäuse fixierten Druckkräfte der Gelenke (Abb. 5e–g) befindet sich der Fuß im Durchschwung immer in der aufgebauten Neutralstellung.
Funktionseinteilung des Kniegelenks
Auch hier lassen sich mehrere Varianten unterscheiden:
- Variante A: Das freie rückverlagerte Kniegelenk (Abb. 6a) dient bei ausreichender kniestreckender Kraft zur seitlichen Stabilisierung des Knies. Die Flexions-/Extensionsbewegung ist frei und wird aktiv über die kniesteuernde Muskulatur zugelassen. Die Gelenke werden gegenüber der Anatomie rückverlagert eingebaut, um die Standsicherheit zu erhöhen und ein eventuelles Einquetschen bei starker Beugung zu vermeiden. Um die Standsicherheit zu gewährleisten, sollte keine Beugekontraktur von über 15° vorliegen.
- Variante B: Ist die Leistung der kniestreckenden Muskulatur nicht dauerhaft ausreichend, kann das freie Kniegelenk durch eine modulare Extensionsunterstützung ergänzt werden (Abb. 6b u. c). Dabei werden zwei Ausführungen unterschieden: Die einfachere Variante (Abb. 6c) verfügt über einen fest eingestellten Winkel von 115° zwischen Gelenkoberteil und Ausleger sowie über eine Hebeleinstellung in 3 Stufen von gelenknah bis zur Verdopplung des Drehmomentes in der gelenkfernen Position. Des Weiteren kann zur leichteren Entkopplung der Krafteinheit oberhalb des Zylinders eine Kugelkopfverbindung eingesetzt werden. Mehr Anpassungsmöglichkeiten bietet die Modellvariante (Abb. 6b) mit der Kraft-Hebel-Anpassung in 7 Stufen (Abb. 7a‑b) und mit einem zweiteiligen Grundkörper. Dabei kann über den Ausleger der Kniebeugewinkel bestimmt und der Zeitpunkt des maximalen Drehmoments (Abb. 7b–e) beeinflusst werden. Damit sich im gebeugten Zustand (Abb. 7f) die Streckkraft nicht in eine Beugekraft wandelt (Wirkungsumkehr), schlägt die Kniestreckhilfe kurz hinter der Neutralstellung an.
- Variante C: Die Aufgabe des gesperrten Kniegelenks (Abb. 8a) besteht darin, beim Gehen das Kniegelenk zuverlässig zu sichern und beim Setzen die Bewegung zu führen. Der Einsatz dieser Variante erfolgt bei unzureichender kniestreckender Muskulatur oder wird bei Beugekontrakturen von über 15° notwendig. Es handelt sich um ein selbstschließendes Fallschloss-Kniegelenk, dessen Verriegelungsposition von 0° Streckung bis 40° Beugung in Abstufungen von 5° (Abb. 8a–c, gelb) angepasst werden kann. Die Sperre kann, wenn gewünscht, vorübergehend durch ein federndes Druckstück entriegelt und fixiert werden.
- Variante D: Auch am gesperrten Kniegelenk (Abb. 8b u. c) können die schon beschriebenen modularen Extensionseinheiten bis zu einem Beugewinkel von 30° angebracht werden, um das Aufstehen bis zum Einrasten der Sperre zu unterstützen bzw. beim Setzen die Beugegeschwindigkeit zu reduzieren. Darüber hinaus kann das Gelenk – z. B. im therapeutischen Umfeld – zeitweise entriegelt werden und der Patient, unterstützt durch die Extensionseinheit, seine Restmuskulatur trainieren.
Kombinationsbeispiele
Aus den dargestellten Varianten für das Knöchel- und Kniegelenk lassen sich unterschiedlichste Kombinationen zusammenstellen. Im Folgenden werden beispielhaft verschiedene Variationen vorgestellt und Hinweise zur Indikation und zur Einstellung gegeben, abhängig vom Bewegungsbefund und der aktiven Steuerungsmöglichkeit in OSG und Knie. Die Darstellungen zeigen den Grundaufbau mit aufgerichtetem Rumpf. Kippt ein Patient z. B. aus Vorsicht oder wegen einer eingeschränkten Hüftbeweglichkeit seinen Rumpf nach vorne, verlagert sich dadurch der Körperschwerpunkt zu weit nach vorn. Um das Hüft-SchulterLot wiederherzustellen, muss das Kniegelenk stärker gebeugt und der Fußbereich entsprechend nachjustiert werden. Die Fußstellungen ergeben sich zum einem aus den Möglichkeiten des Patienten, zum anderen aus einer gewünschten Neutralstellung des OSG, der Lotausrichtung und der bestmöglichen Schrittlänge. Dargestellt ist jeweils in Grün die Beinposition im Stand, ohne Schattierung in Bewegung. Bei den Fußteilen der Gehorthesen wird zwischen einer langen Sohle mit weicher Abrollung in Höhe des Zehengrundgelenks und einer steifen Sohle bis zur Zehenspitze und somit verlängertem potenziellem Vorfußhebel unterschieden. Zur Vereinfachung wird bei allen Beispielen zunächst von einer Orthesensohle mit weicher Abrollung ausgegangen. Die Winkelangaben für den vorderen und hinteren Anschlag mit den resultierenden Bewegungsausschlägen beziehen sich auf den sogenannten äußeren Winkel, also den Winkel zwischen Unterschenkel und Boden.
- Beispiel 1 (Abb. 9a): Der Patient verfügt über eine ausreichende kniestreckende Muskulatur und benötigt nur eine seitliche Stabilisierung über ein frei bewegliches Kniegelenk (Abb. 6a) und ein konventionelles Knöchelgelenk aus Gruppe 1 (Abb. 5a–c). Da das OSG des Patienten in diesem Beispiel nicht mehr Dorsalflexion zulässt, steht der Unterschenkel in der Orthese in 90° zum Fuß (innerer Winkel). Um trotzdem eine physiologische Vorneigung des Unterschenkels zu erreichen, muss der Absatz entsprechend angepasst werden (äußerer Winkel). Im Stand steht der Patient in der maximalen Dorsalbegrenzung vom Unterschenkel zum Boden in 75°. Die freigegebene Plantarbegrenzung von 84° ermöglicht einen Bewegungsausschlag von 9° im OSG. Wird mittels einer langen, steifen Sohle die Unterstützungsfläche verlängert, kann durch eine größere Lotverlagerung nach vorne (brauner Pfeil) die Schrittlänge erweitert werden.
- Beispiel 2 (Abb. 9b): Der Patient kann die physiologische Streckstellung nicht komplett erreichen, und es fehlt an ausreichender kniestreckender Muskulatur, um das Kniegelenk dauerhaft in der leicht flektierten Position zu sichern. Er benötigt daher zur Kompensation ein freies Kniegelenk mit modularer Streckhilfe (Abb. 6b u. c). Das Knöchelgelenk aus Gruppe 2 (Abb. 5d) unterstützt hinten über eine leichte Kraft die Fersenabrollung. Beim Absenken der Fußspitze während der Lastübernahme spannt sich die Feder. Die gespeicherte Energie wird in der frühen mittleren Standphase freigesetzt und unterstützt dadurch die Vorwärtsbewegung der Tibia über den feststehenden Fuß, die sogenannte TibiaProgression. Durch den geringen Kraftwiderstand im Orthesengelenk gegenüber dem Körpergewicht steht der Patient in der maximalen Dorsalbegrenzung. Zum Ende der mittleren Standphase wird die vordere kleine Kraft vorgespannt und die gespeicherte Energie am Ende der Standphase zur Unterstützung des Abstoßes (“push-off”) wieder freigegeben. Der Unterschenkel steht in diesem Beispiel in 78° zum Fuß und zum Boden. Die freigegebene Plantarbegrenzung von 88° ermöglicht einen Bewegungsausschlag von 10° im OSG. Sollte sich bei dem Patienten durch die Streckhilfe der Kniebeugewinkel verbessern, muss ggf. der Bewegungsausschlag im Knöchel angepasst werden. Wie in Beispiel 1 kann auch hier mittels einer langen, steifen Sohle die Unterstützungsfläche verlängert werden.
- Beispiel 3 (Abb. 9c): Für die geschwächte kniestreckende Muskulatur benötigt der Patient ein Kniegelenk mit Streckhilfe (Abb. 7b u. c). Das hier eingesetzte Knöchelgelenk aus Gruppe 3 (Abb. 5f) unterstützt plantar durch Einsetzen einer leichten Kraft die Fersenabrollung und gibt die gespeicherte Energie nach vorne weiter. Durch eine große (ggf. mittlere) vordere Kraft kann der Patient aufgerichtet stehen. Bei der Körperlotverlagerung nach vorne wird die Krafteinheit gespannt. Das Knöchelgelenk gibt entsprechend der Schrittlänge die Bewegung bis zur Bewegungsgrenze des Anschlagkeils frei. Die gespeicherte Energie wird in der Abstoßphase freigesetzt (“pushoff”). Der Unterschenkel steht aufrecht in 85° zum Fuß und zum Boden. Die freigegebene Begrenzung von 92° zum Fersenende und von 82° nach vorn (3° vordere Krafteinheit) ergibt einen Bewegungssauschlag von 10° im OSG. Sollte hinten eine größere Kraft eingesetzt werden, kann die Bewegungsmöglichkeit nach hinten erweitert werden (oranger u. brauner Pfeil). Bei einer Ausführung mit langer, steifer Sohle wird durch die vordere starke Kraft des Knöchelgelenks über die normale Unterstützungsfläche hinaus nach vorne mehr Bewegung (bis zu 12° über die vordere Krafteinheit) ermöglicht (brauner Pfeil). Wie bei einer gesunden Wadenmuskulatur steigert sich der Widerstand der Krafteinheit mit der Schrittlänge (Hebel) und bildet so eine flexible Dorsalbegrenzung.
- Beispiel 4 (Abb. 9d): Der Patient verfügt über keine dauerhaft ausreichende kniestreckende Muskulatur und begleitend über eine Beugekontraktur von 20°. Durch die Beugekontraktur erhöhen sich das flektierende Moment im Knie und somit auch die Anforderung an die streckende Muskulatur. Daher wird die Möglichkeit einer dauerhaften Kniesperre zwingend erforderlich. Zu beachten ist, dass die Beugestellung im Knie immer eine stärkere Vorneigung des Unterschenkels erfordert, um die Hüfte wieder korrekt zu positionieren. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass bei einer Erweiterung des Bewegungsspielraums im Knöchelgelenk nach vorne bei gesperrten Kniegelenken immer mit einer größeren Kniebeugestellung kompensiert werden muss, damit das Hüftlot entsprechend fällt. Es wird davon ausgegangen, dass die Restkraft der Kniestrecker es dem Patienten erlaubt, kurzfristig nicht gesperrt zu stehen und zu gehen. Vorübergehend kann die Sperre des Kniegelenks daher in geöffneter Position fixiert werden. Die Extensionseinheit erleichtert außerdem, wie in Abbildung 9e dargestellt, das Aufrichten zum Stand und reduziert die Geschwindigkeit des Sitzvorgangs. Mit dem aufrichtenden Knöchelgelenk (Abb. 5g) wird die Fersenabrollung mit der vorderen Zugeinheit (Abb. 5g, blau) harmonisiert und mit der dabei gespeicherten Energie die Tibiaprogression unterstützt. Die Plantarbegrenzung beträgt 84°. Durch eine große Kraft (ggf. mittlere Kraft) vorne kann der Patient aufgerichtet stehen. In diesem Beispiel ist der Unterschenkel zum Boden in 77° aufgerichtet. Durch die Körperlotverlagerung nach vorne wird die Krafteinheit gespannt und dadurch weitere 4° Beweglichkeit aus der Kompression der Feder freigegeben. Insgesamt ergibt sich so ein Bewegungsausschlag von 11°. Die gespeicherte Energie wird in der Abstoßphase freigesetzt. Wie in Beispiel 3 kann auch hier durch die flexible Dorsalbegrenzung mehr Bewegung über die vordere Krafteinheit erzeugt werden (brauner Pfeil).
Fazit
Die Versorgungsbeispiele zeigen, dass pauschale Rezepte bei der Versorgung mit einer KAFO nicht sinnvoll sind – zu unterschiedlich sind die individuellen Anforderungen bei den einzelnen Patienten, bedingt durch unterschiedlichste Bewegungseinschränkungen, nutzbare Muskelaktivitäten und nicht zuletzt auch durch das persönliche Sicherheitsgefühl und den eigenen Mobilitätsanspruch. Positionierung und Ausgestaltung der erforderlichen Anlagepunkte bestimmen zusammen mit der Steifigkeit und dem Grundaufbau der Orthese die Effektivität der Sicherung der Beinachse. Der idealisierte seitliche Lotaufbau ohne Bewegungseinschränkung in Hüft‑, Knie- und Knöchelgelenk ist ein senkrecht stehender Oberschenkel mit einem um 5 bis 10° nach hinten gebeugten Kniegelenk (Abb. 4c u. d). Sobald aber Kontrakturen oder muskuläre Defizite vorliegen, müssen entsprechende Knie- und Knöchelgelenke gewählt und lotgerecht ausgerichtet werden. Dabei ist zu beachten, dass Schulter und Hüftgelenk eine Linie bilden (Abb. 4c u. d), damit ein sicherer Stand und eine adäquate Gangeinleitung sichergestellt werden. Unter Berücksichtigung von Diagnose und Bewegungseinschränkung wird dem Patienten ggf. durch ein Knöchelgelenk mit aufrichtender Kraft (Abb. 9c u. d) in Kombination mit einer langen, durchgehend steifen Sohle durch die flexible Dorsalbegrenzung eine größere Schrittlänge ermöglicht. Ein größerer Bewegungsumfang im Sprunggelenk verbessert auch die Bewältigung von Treppen oder Schrägen. Eine Extensionsunterstützung an einem frei beweglichen Kniegelenk reduziert das Einsinken und verbessert so das Gangbild und verlängert die Wegstrecken. Eine Extensionsunterstützung bei gesperrtem Kniegelenk mit vorübergehender Öffnung der Sperre verbessert darüber hinaus auch die Therapie und erleichtert das Aufstehen und Hinsetzen.
Sicherlich konnten in der vorliegenden Übersicht nicht alle Eventualitäten aus dem komplexen Bereich der Gehorthesen berücksichtigt werden – die Kenntnis über grundsätzliche Aufbaukriterien und funktionelle Möglichkeiten aktueller Gelenkkonstruktionen ist aber unerlässlich für eine erfolgreiche Patientenversorgung.
Interessenkonflikt:
Der Autor ist Inhaber der Firma Ortho-Systems.
Der Autor:
Thomas Böckh, OMM
Ortho-Systems
Merowingerstr. 14
85551 Kirchheim
info@ortho-systems.de
Begutachteter Artikel/reviewed paper
Böckh T. Möglichkeiten in Funktion und Aufbau von KAFO-Gehorthesen mit modularen und unterstützenden Knie- und Knöchelgelenken. Orthopädie Technik, 2020; 71 (9): 62–67
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