OT: Warum war das Tragen von medizinischen Kompressionsstrümpfen bei Patient:innen mit chronischen Venenerkrankungen und gleichzeitig bestehender peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) oder Diabetes mellitus umstritten?
Dr. Annette Erhardt: Medizinische Kompressionsstrümpfe haben einen graduierten Druckverlauf. Der höchste Druck liegt im Fesselbereich, also im Bereich der Knöchel, einem bei den Begleiterkrankungen pAVK und Diabetes mellitus besonders sensiblen Bereich. Auch die Füße und vor allem die Zehen sind sowohl bei pAVK- als auch bei Diabetes-mellitus-Patient:innen besonders gefährdet, da diese am weitesten von der Körpermitte entfernten Lokalisationen häufig minderdurchblutet sind und dort bei Diabetikern zusätzlich ein herabgesetztes Druck- und Schmerzempfinden vorhanden ist. Es gab deshalb die Befürchtung, dass durch den Kompressionsdruck an diesen Stellen Druckspitzen entstehen könnten und die Mikrozirkulation – also die Durchblutung in den kleinsten Blutgefäßen – weiter beeinträchtigt werden könnte. Frühere Leitlinien haben daher die Begleiterkrankungen pAVK oder schwere Sensibilitätsstörungen bei Diabetes mellitus als Risiko oder sogar als Kontraindikation eingestuft. Zudem stehen pAVK und Diabetes mellitus häufig bei der Betreuung der Patient:innen aufgrund schwerwiegender Folgen und Komplikationen im Fokus und die chronisch-venöse Grunderkrankung rückt eher in den Hintergrund. Dies führte zu einer Versorgungslücke dieser Patientengruppen aufgrund der Verordnungsunsicherheit der Ärzt:innen und aufgrund der Versorgungsunsicherheit im medizinischen Fachhandel.
Umdenken wissenschaftlich untermauern
OT: Schon vor Ihrer Studie kam es zum Umdenken. Warum legten Sie dennoch eine auf?
Erhardt: Ein Umdenken fand in der Tat durch die Fachärzt:innen und Fachgesellschaften statt, welches schließlich Ende 2018 in die bis heute gültige Leitlinie „Medizinische Kompressionstherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie (DGP) einfloss 1. Diese Leitlinie relativierte die Risiken anhand vorliegender Versorgungserfahrungen bei den genannten Patientengruppen. Die Leitlinie stellt insofern eine Kehrtwende dar, als sie der Ärzteschaft und dem Fachhandel ein Stück Sicherheit für die Versorgung dieses Patientenklientels mit medizinischen Kompressionsstrümpfen gegeben hat. Aber eben nur ein Stück weit. Mit unserer Studie wollten wir die Sicherheit und den sinnvollen Einsatz von medizinischen Kompressionsstrümpfen für die Therapie von chronischen Venenerkrankungen bei gleichzeitig bestehender pAVK oder Diabetes mellitus nun zusätzlich wissenschaftlich untermauern, um das Umdenken bei der Ärzteschaft und dem Sanitätshandel zu stärken und ein Bewusstsein für diese Versorgungsform zu schaffen, sodass am Ende des Tages die Betroffenen davon profitieren.
OT: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Gefäßchirurgischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen?
Erhardt: Nur mit wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen können wir die nötige Überzeugungsarbeit leisten, um die Versorgungslücke zu schließen.
Für eine solche klinische Studie und die Erhebung von klinischen Daten müssen aber entsprechende Erhebungsinstrumente, Geräte und Messmethoden (wie zum Beispiel die in der Studie eingesetzte O2C-Methode) zur Verfügung stehen, um valide, reproduzierbare und objektivierbare Ergebnisse im Kontext der Begleiterkrankungen pAVK und Diabetes mellitus mit Fokus auf die Mikrozirkulation zu generieren. Über die technische Ausstattung verfügen vor allem Universitätskliniken oder spezialisierte Institute. Neben der technischen Ausstattung brauchen wir kompetente funden, zumal wir mit dem Universitätsklinikum Erlangen bereits gute Erfahrungen bei anderen Forschungsvorhaben gemacht haben. Beide Mediziner sind auch Phlebologen. Sie haben daher ein grundsätzliches Verständnis für und Interesse an medizinischer Kompressionstherapie. Partner, die auch international eine große Reputation besitzen. Eine umfassende Expertise im Bereich der Gefäßchirurgie ist gerade in Bezug auf die Komorbiditäten pAVK und Diabetes mellitus unerlässlich. Die perfekten Partner haben wir mit Chefarzt Prof. Dr. med. Werner Lang und Oberarzt PD Dr. med. Ulrich Rother von der Gefäßchirurgischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen gefunden. zumal wir mit dem Universitätsklinikum Erlangen bereits gute Erfahrungen bei anderen Forschungsvorhaben gemacht haben. Beide Mediziner sind auch Phlebologen. Sie haben daher ein grundsätzliches Verständnis für und Interesse an medizinischer Kompressionstherapie.
Mikrozirkulation auf dem Prüfstand
OT: Wie haben Sie die Studie genau aufgebaut?
Erhardt: Die Studie sollte die Mikrozirkulation bei Anwendung von medizinischen Kompressionsstrümpfen bei den genannten Patientengruppen mit objektivierbaren Messmethoden ermitteln. Daher wurden in Abstimmung mit Prof. Lang und Dr. Rother unter anderem die Sauerstoffsättigung (sO2) und der Blutfluss als Parameter der Mikrozirkulation definiert. Gemessen wurde an den drei Körperstellen Großzeh, laterales Sprunggelenk und dorsale Wade, und zwar in den drei alltagsrelevanten und physiologischen Positionen liegend, sitzend und stehend sowie ein Provokationstest mit einem 65 cm hochgelagerten Bein durchgeführt. An der Studie nahmen insgesamt 94 Teilnehmer:innen (67 Männer und 27 Frauen) teil: davon 45 mit venös-bedingtem Ödem und mit einer leichten bis mittelschweren peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) und 44 mit venös-bedingtem Ödem und mit Diabetes mellitus Typ 2 sowie fünf gesunde Proband:innen als Kontrollgruppe. Sie trugen den medizinischen Kompressionsstrumpf „Mediven® Angio“ sowohl in der Kompressionsklasse (KKL) 1 als auch in der KKL 2 2. Wir haben bewusst diesen Ansatz gewählt und beide KKL parallel getestet, um für beide KKL die Sicherheit nachzuweisen. Die KKL 1 wird eher von vorsichtiger agierenden Ärzt:innen und bei MKS-Einsteigerpatient:innen verschrieben, während KKL 2 abhängig von der Schwere der Grunderkrankung bei stärkeren Ausprägungen des Ödems medizinisch notwendig ist.
Der Einsatz von MKS – Sicher und sinnvoll
OT: Was ist das messbare Ergebnis?
Erhardt: Der Einsatz des Mediven® Angio ist sicher und sinnvoll – dies konnten wir anhand der Daten für beide Kompressionsklassen belegen. Selbst an den kritischen Messpunkten wie Großzeh und Knöchel ermittelten wir eine durchweg stabile Mikrozirkulation, die vergleichbar zu den gesunden Proband:innen war. Es traten keinerlei MKS-bedingte Hautläsionen, Schnürfurchen oder Druckstellen auf. Keiner der Teilnehmer:innen musste die Studie abbrechen. Durch die Kompressionstherapie konnte sogar eine Verbesserung der Durchblutung beobachtet werden – vor allem im Bereich des Knöchels, was offensichtlich auf eine zusätzliche Unterstützung des venösen Rückflusses durch den medizinischen Kompressionsstrumpf zurückzuführen ist.
OT: Wie äußerten sich die teilnehmenden Patient:innen?
Erhardt: Neben den objektiven, von Ärzt:innen erhobenen Daten berichteten auch die Studienteilnehmer:innen selbst von einem positiven Tragegefühl. In einer Skala von eins bis zehn sollten sie den Tragekomfort der Kompressionsklasse 1 und 2 bewerten. „Eins“ stand für den höchstmöglichen Tragekomfort und „zehn“ für massive Einschränkungen beim Tragen der Strümpfe. Bei der Kompressionsklasse 1 kam im Mittelwert eine 1,84 heraus, bei der Kompressionsklasse 2 eine 2,10.2 Dieses tolle Ergebnis ist besonders wichtig, weil der subjektiv wahrgenommene Tragekomfort für das regelmäßige Tragen des Strumpfes entscheidend ist. Nur wenn der Strumpf gerne getragen wird, wird er regelmäßig getragen und kann so zu einem optimalen Therapieerfolg beitragen.
Wissenstransfer in die Breite
OT: Wie gehen Sie weiter mit den Studienergebnissen um?
Erhardt: Da wir das Bewusstsein für die Kompressionstherapie im Allgemeinen und für diese Risikopatientengruppen im Speziellen bei Ärzteschaft und Sanitätshauspersonal
schärfen wollen, tragen wir die Ergebnisse in die Breite. Dazu werden Medi sowie die studienbetreuenden Ärzt:innen Kongresse nutzen, um national und international sowohl Allgemeinmediziner:innen als auch Fachärzt:innen über die Ergebnisse der Studie zu informieren. Parallel haben wir Schulungsmaterialien inklusive Videos für das Verkaufspersonal im Fachhandel erarbeitet. Mit diesem Wissenstransfer wollen wir dem Fachpersonal – ob aus der Ärzteschaft oder dem Sanitätshaus – die für die Versorgung so wichtige Sicherheit geben und für die Betroffenen die Versorgungslücke schließen.
OT: Planen Sie weitere Studien auf dem Gebiet der medizinischen Kompressionsstrümpfe?
Erhardt: Medi im Allgemeinen und die Unit Medical Affairs im Speziellen ist immer an wissenschaftlichen Forschungsvorhaben und Fragestellungen interessiert. Folglich werden wir auch zukünftig gemeinsam mit Meinungsbildner:innen Studien im Bereich der Kompressionstherapie entwickeln und durchführen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Rabe E et al. S2k-Leitlinie: Medizinische Kompressionstherapie der Extremitäten mit Medizinischem Kompressionsstrumpf (MKS), Phlebologischem Kompressionsverband (PKV) und Medizinischen adaptiven Kompressionssystemen (MAK). Online veröffentlicht unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/II/037–005.html (Letzter Zugriff 03.09.2021)
- Rother U et al. Safety of medical compression stockings in patients with diabetes mellitus or peripheral arterial disease. BMJ Open Diab Res Care 2020;8:e001316