„Manch­mal muss man sei­ne Erfin­dung ein­fach loslassen“

Die Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen (VSOU) kommt im April zu ihrer 71. Jahrestagung unter dem Motto „Next Generation – Werte. Wandel. Visionen“ zusammen. Dabei werden auch Expert:innen aus der Orthopädie-Technik zu Wort kommen: Überschrieben mit „Von der richtigen Einlage bis hin zur Prothese. Neues und Altbewährtes“ sprechen Fachleute unter anderem über die Versorgung des Diabetikerfußes und neue Anwendungsmöglichkeiten für Kniegelenksorthesen.

Inter­es­sant dürf­te dabei auch der Vor­trag von Tho­mas Stief von der Stu­di­en­ge­mein­schaft Ortho­pä­die­schuh­tech­nik in Osna­brück wer­den: „Neue Tech­ni­ken in der Ein­la­gen­ver­sor­gung – was bringt das dem Betrof­fe­nen“. Tho­mas Stief ist Bio­me­cha­nik-Inge­nieur, Ortho­pä­die­schuh­ma­cher-Meis­ter und Grün­der der Fir­ma (ts)². Als Pro­dukt­ent­wick­ler hat er die Ein­la­ge „Bow“ erson­nen, die als welt­weit ers­te Ein­la­ge den natür­li­chen Wind­lass-Mecha­nis­mus beim Auf­span­nen des Längs­ge­wöl­bes nach­ahmt. Im Inter­view spricht er über die Vor­tei­le neu­er Fer­ti­gungs­tech­ni­ken und dar­über, war­um man­che alte Tra­di­ti­on unab­ding­bar ist.

OT: Herr Stief, Ihre Ein­la­ge „Bow“ ver­bin­det alle mög­li­chen Neu­hei­ten in der Ein­la­gen­ver­sor­gung. Erklä­ren Sie uns bit­te, wel­che das sind?

Tho­mas Stief: Da wäre zum Bei­spiel, dass die Ein­la­ge wäh­rend der Fort­be­we­gung ab dem Boden­kon­takt des Fußes Span­nung auf­nimmt und die Ener­gie von dem Moment an wie­der abgibt, wenn die Fer­se vom Boden abhebt. Der Bogen im Mit­tel- und Rück­fuß­be­reich der Ein­la­ge hebt sich an und rich­tet das Längs­ge­wöl­be auf, der Fuß sta­bi­li­siert sich, wird phy­sio­lo­gisch belas­tet und kann im Vor­fuß­be­reich nicht mehr nach late­ral abwei­chen: Die Varia­bi­li­tät der Höhe der Unter­stüt­zung des Längs­ge­wöl­bes ist hier die Besonderheit.

OT: Inwie­fern?

Stief: Wenn Sie sich auf die Zehen stel­len, kön­nen Sie sehen, wie stark sich das Längs­ge­wöl­be auf­rich­ten kann. Wür­den Sie auf einer nor­ma­len Ein­la­ge mit einer Anstüt­zung in die­ser Höhe ste­hen oder gehen, wür­de das Schmer­zen ver­ur­sa­chen. Die „Bow“ hebt das Längs­ge­wöl­be nur in der Ter­mi­nal Stance und Pre-Swing so stark an.

OT: Die Ein­la­ge spei­chert im Gegen­satz zu her­kömm­li­chen Ver­sor­gun­gen auch Ener­gie und gibt sie wie­der ab. Ist das mit den Car­bon­fe­dern im Pro­the­sen­bau vergleichbar?

Stief: Nicht ganz, das ist eher mit Pfeil und Bogen ver­gleich­bar. Die Ein­la­ge besteht aus zwei Schich­ten, die mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Aus die­sem Grund spei­chert sie Ener­gie sowohl in der Seh­ne als auch im Bogen und gibt die­se wäh­rend der spä­ten Stand­pha­se ab.

OT: Rela­tiv neu ist auch die Tech­nik, in der die Ein­la­ge gefer­tigt wird.

Stief: Ja, sie besteht aus Poly­amid, PA 2200 heißt das, und sie wird gedruckt. Es gibt inzwi­schen die unter­schied­lichs­ten 3D-Druck­ver­fah­ren, FDM zum Bei­spiel, wobei ein Fila­ment auf­ge­schmol­zen wird. Bei der „Bow“ wird das PA 2200 im SLS-Ver­fah­ren (selek­ti­ves Laser­sin­tern, Anm. d. Red.) zu einem fes­ten Bau­teil schicht­wei­se mit­tels Laser ver­schmol­zen. SLS ermög­licht kom­ple­xe For­men, außer­dem ist durch die­se Art der Fer­ti­gung die „Bow” leicht und belast­bar. Das ist wich­tig für die Ein­la­ge, die nicht bre­chen darf, wenn sie sich verformt.

OT: Eher neu ist auch das Umwelt­be­wusst­sein in der Bran­che. Das SLS-Druck­ver­fah­ren ist ressourcenschonend?

Stief: Ziem­lich. Es gibt noch Abfäl­le, etwa wenn man die Ein­la­ge für den Kun­den zuschleift. Aber ins­ge­samt ist der 3D-Druck ressourceneffizient.

OT: „Bow“ ist jetzt etwas län­ger als ein Jahr als neue Tech­nik auf den Markt. Wel­che Rück­mel­dun­gen bekom­men Sie?

Stief: Wir hat­ten Ende ver­gan­ge­nen Jah­res ein User-Mee­ting. Das war unglaub­lich inter­es­sant. Uns haben Tech­ni­ker Anwen­dungs­be­rei­che vor­ge­stellt, an die wir bei der Ent­wick­lung noch gar nicht gedacht hat­ten. Zum Bei­spiel bei der Ver­sor­gung einer aus­ge­heil­ten Plant­ar­fas­zii­tis, die immer noch Pro­ble­me mach­te. Weil die Ein­la­ge die Plant­ar­seh­ne ent­las­tet, hat der Anwen­der deut­lich weni­ger Beschwer­den als mit einer her­kömm­li­chen Ein­la­ge. Bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten hat die „Bow“ zu einer bes­se­ren Gang­sta­bi­li­tät geführt, bei Men­schen mit Par­kin­son nahm das Free­zing ab, die Bewe­gun­gen wur­den run­der. Das haben uns auch Ärz­te aus der Pra­xis berich­tet, und es ist schön, so etwas zu hören. Manch­mal muss man sei­ne Erfin­dung ein­fach los­las­sen und sehen, was ande­re dar­aus machen.

OT: Ursprüng­lich ange­bo­ten wur­de die Ein­la­ge ja für Knick- und Spreiz­fuß und Sportler:innen.

Stief: Sport­ler nut­zen sie auch. Wir haben Infor­ma­tio­nen von einem Trail­run­ner, der an einem Lauf im Wes­ten der USA teil­nahm. Sei­ne Ein­la­ge ging nach 1.200 Kilo­me­tern kaputt, er pro­bier­te eine ande­re Ein­la­ge aus, ließ sich dann aber von sei­nem Tech­ni­ker in Deutsch­land eine neue „Bow“ nach­schi­cken. Die ande­re konn­te ihn nicht über­zeu­gen. Die Ener­gie­rück­ga­be beim Absto­ßen ist aber auch für Tech­ni­ker inter­es­sant, die älte­re Per­so­nen mobi­li­sie­ren wol­len; der zusätz­li­che Kick hilft ihnen im All­tag. Wie­der ande­re ver­zich­ten jetzt auf die Pelot­ten bei Meta­tar­sal­gi­en, weil sie die Erfah­rung machen, dass die Rück­fuß­um­stel­lung und ‑sta­bi­li­sie­rung auch zur Schmerz­lin­de­rung bei­tra­gen. Damit sind die­se Tech­ni­ker aber nicht allein. Es gibt auch Ärz­te, die eine Pelot­te ablehnen.

OT: Gibt es eigent­lich schon wie­der neue Tech­ni­ken, die Sie verfolgen?

Stief: Etwas Neu­es in Sachen Funk­tio­na­li­tät habe ich im Ein­la­gen­be­reich gera­de nicht auf dem Schirm. Aber bei den neu­en Tech­ni­ken, sei es in der CAD-Kon­struk­ti­on oder im 3D-Druck, tut sich immer etwas. Die Fer­ti­gungs­ge­nau­ig­keit ist dadurch schon stark gestie­gen, auch die Repro­du­zier­bar­keit. Aber bei all dem darf man nicht ver­ges­sen, dass der Pati­ent im Mit­tel­punkt steht. Die Ein­la­ge ist das Pro­dukt, aber gehen muss es um die Ver­sor­gung des Men­schen mit sei­nen indi­vi­du­el­len Beschwer­den und Bedürf­nis­sen. Man muss auch wirk­lich sehen, was dem Ein­zel­nen am bes­ten hilft.

OT: Also in guter alter Tra­di­ti­on ran an den Patienten.

Stief: Exakt. Klar kommt das Rezept vom Arzt, aber es ist doch die Kom­pe­tenz des Tech­ni­kers, zu ent­schei­den, wel­che Aus­füh­rung in der Umset­zung am bes­ten hilft. Dazu kommt noch die Infor­ma­ti­on, die ich bekom­me, wenn ich den Fuß zum Bei­spiel in die Hand neh­me und pal­pie­re. Natür­lich sind die Infor­ma­tio­nen über digi­ta­le Tech­nik wich­tig und Daten aus dem Gang­la­bor als Add-on wun­der­bar. Aber ich muss doch nah am Pati­en­ten sein, um die indi­vi­du­ell bes­te Ver­sor­gung zu fin­den. Und dazu gehö­ren auch eine gute Ana­mne­se, eine ziel­füh­ren­de kli­ni­sche Unter­su­chung mit ver­schie­de­nen Funk­ti­ons­tests und eine Nach­kon­trol­le, um das Ver­sor­gungs­er­geb­nis zu überprüfen.

Die Fra­gen stell­te Tama­ra Pohl.

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