Live-Video­talk: Akzep­tanz des Hilfs­mit­tels ist entscheidend

Mit der Versorgungswelt „Leben mit CP“ nimmt Cerebralparese einen besonderen Stellenwert auf der OTWorld 2022 ein. Was erwartet die Besucher:innen dort? Und was zeichnet die Behinderung und deren Versorgungskonzepte aus? Einen Vorgeschmack darauf gaben die Referent:innen beim Live-Videotalk unter dem Titel „OTWorld im Dialog: Die Chancen einer modernen CP-Versorgung“, zu dem der Verlag OT gemeinsam mit der Confairmed GmbH eingeladen hatte.

Eine Erkran­kung mit tau­send Gesich­tern – so beschrieb Micha­el Blatt, Lei­ter Ver­lags­pro­gramm OT sowie Mode­ra­tor des Live­talks, die Hirn­schä­di­gung Cere­bral­pa­re­se. Und im Ver­lauf der Run­de wur­de deut­lich: Nicht nur das Krank­heits­bild hat tau­send Gesich­ter, son­dern auch die not­wen­di­gen Hilfs­mit­tel, die The­ra­pien, deren Zie­le – und eben­so das Sys­tem. War­um, das ver­deut­lich­ten die Gäs­te OTWorld-Kon­gress­prä­si­dent Dipl.-Ing. (FH) Mer­kur Ali­mus­aj, Chris­tia­na Hen­ne­mann, Geschäfts­füh­re­rin Reha­kind e. V., Tho­mas Becher, Dipl.-Heilpädagoge und Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­me­di­zin, Sana Kli­ni­ken Düs­sel­dorf, sowie Gun­nar Kan­del, Ver­triebs­lei­ter Päd­ia­trie bei Rahm – Zen­trum für Gesund­heit. „Es kom­men Men­schen zu Fuß zu mir in die Pra­xis mit einer mil­den Spitz­fuß­pro­ble­ma­tik auf einer Sei­te und eben­so Men­schen, die im E‑Rollstuhl mit Kopf­stüt­ze und Brust­pe­lot­te vor­fah­ren. Die Aus­wir­kun­gen sind sehr unter­schied­lich“, berich­te­te Becher aus sei­nem Berufs­all­tag. „Wenn ich tau­send Gesich­ter habe, habe ich viel­leicht auch tau­send Pro­ble­me und dann muss ich das her­aus­su­chen, das per­spek­ti­visch Rele­vanz hat in der Ver­sor­gung“, ergänz­te Ali­mus­aj. Was im All­tag oft schwer fal­le, sei zu prio­ri­sie­ren. Was hilft? Was behin­dert zusätz­lich? „Wir brau­chen The­ra­pie­zie­le für das Indi­vi­du­um“, beton­te Ali­mus­aj. Ein The­ra­pie­kon­zept kön­ne bei Pati­ent A funk­tio­nie­ren und bei Pati­ent B schei­tern, nicht nur auf­grund unter­schied­li­cher Sym­pto­ma­tik, son­dern auch auf­grund ver­schie­de­ner Kon­text­fak­to­ren (Fami­lie, sozia­les Umfeld etc.), die es zu berück­sich­ti­gen gel­te. Eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung: „Das Sys­tem ist für den Lai­en nur schwer zu durch­schau­en“, berich­te­te Ali­mus­aj. Die Fol­ge: frus­trier­te Patient:innen und Ange­hö­ri­ge. 15 Minu­ten mehr Zeit im gemein­sa­men Gespräch – manch­mal rei­che das schon aus, um Frus­tra­ti­on vorzubeugen.

Einen kur­zen Über­blick über das Spek­trum der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Hilfs­mit­tel für CP-Patient:innen bot Gun­nar Kan­del. Tech­nisch wer­de – durch z. B. 3D-Druck – immer mehr mög­lich. Doch nicht alles, was mach­bar ist, sei auch sinn­voll. Die Fra­ge sei: „Was wird benö­tigt? Wo ist eine wirk­li­che Hil­fe gege­ben? Und wo wird ein Hilfs­mit­tel eher zu einem Behin­de­rungs­mit­tel?“ Ein Stich­wort hier zum Erfolg: Com­pli­ance. „Ein Hilfs­mit­tel wird dann gut sein, wenn es akzep­tiert ist“, ergänz­te Hennemann.

Ers­te Leit­li­nie auf den Weg gebracht

Wie kann die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung von CP-Patient:innen stan­dar­di­siert und ver­bes­sert wer­den? Das erläu­ter­te Tho­mas Becher und zog dafür die von der Arbeits­grup­pe „Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ des Netz­werks Cere­bral­pa­re­se e. V. erstell­te Hilfs­mit­tel­ma­trix her­an. Die­se lis­tet die für die ver­schie­de­nen GMFCS-Level und Alters­grup­pen rele­van­ten Hilfs­mit­tel auf, die in der Ver­sor­gungs­pla­nung berück­sich­tigt wer­den soll­ten. Für alle Betei­lig­ten in der Ver­sor­gung eine wich­ti­ge Arbeits­grund­la­ge. Laut Ali­mus­aj hilft die Matrix jedoch nicht immer. „Das Schlim­me ist, wenn Sie AFO sagen, hat auch die tau­send Gesich­ter. Was da manch­mal als Unter­schen­kel­or­the­se ankommt, das löst Ver­wun­de­rung aus“, so sei­ne Erfah­rung. Tech­nisch top aus­ge­führt, hand­werk­lich sau­ber umge­setzt, doch am Pati­en­ten vor­bei gedacht. „Da ver­ges­sen wir die tau­send Gesich­ter und sehen doch nur eins.“ Wich­tig sei es nicht nur zu berück­sich­ti­gen, wel­che Art der Ver­sor­gung ansteht, son­dern auch zu defi­nie­ren, wie Orthe­sen aus­se­hen und was sie leis­ten sol­len. Vor­aus­set­zung dafür sind in sei­nen Augen eine adäqua­te Ana­mne­se und Regis­ter, „damit wir wis­sen, wo wir ste­hen“. Dem konn­te Becher nur zustim­men und ergänz­te: „Was ich mir wün­schen wür­de, dass es sei­tens der Ortho­pä­die-Tech­nik mehr – zunächst mal inter­ne – Ver­ein­heit­li­chung gibt und kla­re und sau­be­re Defi­ni­tio­nen.“ Der zwei­te Schritt sei die Ent­wick­lung einer Leit­li­nie. Die ers­te sei nun tat­säch­lich auf den Weg gebracht und bewil­ligt wor­den – und zwar für die Uni­la­te­ra­le spas­ti­sche Cere­bral­pa­re­se unter Feder­füh­rung der Deut­schen Gesell­schaft für Sozi­al­päd­ia­trie. Die­se wird unter Füh­rung der Arbeits­ge­mein­schaft der Wis­sen­schaft­li­chen Medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaf­ten (AWMF) sowie mit Betei­lung der Ortho­pä­die-Tech­nik, Therapeut:innen und ver­schie­de­nen ärzt­li­chen Berufs­grup­pen erar­bei­tet. „Regis­ter“ war auch für Chris­tia­na Hen­ne­mann ein gutes Stich­wort. „An Län­dern wie Skan­di­na­vi­en und der Schweiz sieht man, wie gut Regis­ter­for­schung über Jah­re funk­tio­nie­ren und den Men­schen dadurch gehol­fen wer­den kann.“

Ver­sor­gungs­welt „Leben mit CP“

Mit die­sen Dis­kus­si­ons­the­men lie­fer­ten die Gäs­te bereits eine span­nen­de Vor­schau auf die OTWorld 2022 und die Ver­sor­gungs­welt „Leben mit CP“. „Es gibt eine Art Forums­pro­gramm, beglei­tend zum Kon­gress“, berich­te­te Hen­ne­mann. Mit ICF-gelei­te­ter Bedarfs­er­mitt­lung für Ver­sor­gung, Kos­ten­trä­ger­füh­run­gen, Ver­sor­gungs­pfa­den für ver­schie­de­ne Orthe­sen­va­ri­an­ten, Sitz­scha­len­bau, dem Kin­der-Reha-Mus­ter­ver­trag und dem „Akti­ons­bünd­nis für bedarfs­ge­rech­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ nann­te Hen­ne­mann nur eini­ge der The­men­in­hal­te und Pro­gramm­punk­te. Beson­ders freut sie sich dar­auf, in Leip­zig einen CP-Pati­en­ten begrü­ßen zu kön­nen, der von sei­nen Erfah­run­gen mit Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung und Berufs­ein­glie­de­rung berich­ten wird. Ein wei­te­res High­light: die inter­dis­zi­pli­nä­re Sprech­stun­de, die sowohl im Kon­gress als auch auf dem Forum The­ma sein wird. Eine Aus­stel­lung wird die Besucher:innen durch die ver­schie­de­nen Lebens­pha­sen von CP-Patient:innen, vom Klein­kind- bis zum Erwach­se­nen­al­ter, füh­ren und so zei­gen: „Wenn man früh anfängt gezielt zu ver­sor­gen, kann man am Ende eine größt­mög­li­che Selbst­stän­dig­keit und Schmerz­re­duk­ti­on errei­chen“, so Hen­ne­mann. Sit­zen, Ste­hen, Mobi­li­sie­ren – aus allen Berei­chen wer­den Hilfs­mit­tel von rund 60 Her­stel­lern vor­ge­stellt, die in den ein­zel­nen Lebens­pha­sen rele­vant sind. Nicht nur Chris­tia­na Henn­mann, auch die ande­ren Gäs­te freu­en sich dar­auf, im Mai gemein­sam in die­se Ver­sor­gungs­welt ein­zu­tau­chen und sich auszutauschen.

Aus den Zuschau­er­rei­hen lob­te Klaus Wie­se, Geschäfts­füh­rer OT-KIEL GmbH & Co. KG, im Nach­gang der Ver­an­stal­tung die Talk­gäs­te als „pas­sen­des inter­pro­fes­sio­nel­les hoch­kom­pe­ten­tes Team“, das Teil­ha­be und eine trans­pa­ren­te Ziel­de­fi­ni­ti­on als Grund­be­stand­tei­le der medi­zi­ni­schen Behand­lung und des Ver­sor­gungs­pro­zes­ses gut her­aus­ge­ar­bei­tet habe. Wei­te­re Schluss­fol­ge­run­gen für Wie­se: Erfor­der­lich für eine erfolg­rei­che Ver­sor­gung ist ein brei­tes dis­zi­plin­über­grei­fen­des Fach­wis­sen. Und: Anfor­de­run­gen an die Tech­ni­sche Ortho­pä­die ver­lan­gen nach ange­pass­ten, fle­xi­blen Lösungs­kon­zep­ten. Auch Mode­ra­tor Micha­el Blatt zog sein posi­ti­ves Fazit aus dem Live­talk: „Nicht nur die hohe Exper­ti­se rund um das The­ma Cere­bral­pa­re­se war bemer­kens­wert, son­dern vor allem das Enga­ge­ment und die Lei­den­schaft der Gäs­te, die Betrof­fe­nen an ver­schie­de­nen Stel­len im Umgang mit CP zu unter­stüt­zen. Eine Ein­stel­lung, die hof­fent­lich die Zuschau­er eben­so inspi­riert hat wie mich.”

Pia Engel­brecht

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