Eine Erkrankung mit tausend Gesichtern – so beschrieb Michael Blatt, Leiter Verlagsprogramm OT sowie Moderator des Livetalks, die Hirnschädigung Cerebralparese. Und im Verlauf der Runde wurde deutlich: Nicht nur das Krankheitsbild hat tausend Gesichter, sondern auch die notwendigen Hilfsmittel, die Therapien, deren Ziele – und ebenso das System. Warum, das verdeutlichten die Gäste OTWorld-Kongresspräsident Dipl.-Ing. (FH) Merkur Alimusaj, Christiana Hennemann, Geschäftsführerin Rehakind e. V., Thomas Becher, Dipl.-Heilpädagoge und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Sana Kliniken Düsseldorf, sowie Gunnar Kandel, Vertriebsleiter Pädiatrie bei Rahm – Zentrum für Gesundheit. „Es kommen Menschen zu Fuß zu mir in die Praxis mit einer milden Spitzfußproblematik auf einer Seite und ebenso Menschen, die im E‑Rollstuhl mit Kopfstütze und Brustpelotte vorfahren. Die Auswirkungen sind sehr unterschiedlich“, berichtete Becher aus seinem Berufsalltag. „Wenn ich tausend Gesichter habe, habe ich vielleicht auch tausend Probleme und dann muss ich das heraussuchen, das perspektivisch Relevanz hat in der Versorgung“, ergänzte Alimusaj. Was im Alltag oft schwer falle, sei zu priorisieren. Was hilft? Was behindert zusätzlich? „Wir brauchen Therapieziele für das Individuum“, betonte Alimusaj. Ein Therapiekonzept könne bei Patient A funktionieren und bei Patient B scheitern, nicht nur aufgrund unterschiedlicher Symptomatik, sondern auch aufgrund verschiedener Kontextfaktoren (Familie, soziales Umfeld etc.), die es zu berücksichtigen gelte. Eine weitere Herausforderung: „Das System ist für den Laien nur schwer zu durchschauen“, berichtete Alimusaj. Die Folge: frustrierte Patient:innen und Angehörige. 15 Minuten mehr Zeit im gemeinsamen Gespräch – manchmal reiche das schon aus, um Frustration vorzubeugen.
Einen kurzen Überblick über das Spektrum der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel für CP-Patient:innen bot Gunnar Kandel. Technisch werde – durch z. B. 3D-Druck – immer mehr möglich. Doch nicht alles, was machbar ist, sei auch sinnvoll. Die Frage sei: „Was wird benötigt? Wo ist eine wirkliche Hilfe gegeben? Und wo wird ein Hilfsmittel eher zu einem Behinderungsmittel?“ Ein Stichwort hier zum Erfolg: Compliance. „Ein Hilfsmittel wird dann gut sein, wenn es akzeptiert ist“, ergänzte Hennemann.
Erste Leitlinie auf den Weg gebracht
Wie kann die Hilfsmittelversorgung von CP-Patient:innen standardisiert und verbessert werden? Das erläuterte Thomas Becher und zog dafür die von der Arbeitsgruppe „Hilfsmittelversorgung“ des Netzwerks Cerebralparese e. V. erstellte Hilfsmittelmatrix heran. Diese listet die für die verschiedenen GMFCS-Level und Altersgruppen relevanten Hilfsmittel auf, die in der Versorgungsplanung berücksichtigt werden sollten. Für alle Beteiligten in der Versorgung eine wichtige Arbeitsgrundlage. Laut Alimusaj hilft die Matrix jedoch nicht immer. „Das Schlimme ist, wenn Sie AFO sagen, hat auch die tausend Gesichter. Was da manchmal als Unterschenkelorthese ankommt, das löst Verwunderung aus“, so seine Erfahrung. Technisch top ausgeführt, handwerklich sauber umgesetzt, doch am Patienten vorbei gedacht. „Da vergessen wir die tausend Gesichter und sehen doch nur eins.“ Wichtig sei es nicht nur zu berücksichtigen, welche Art der Versorgung ansteht, sondern auch zu definieren, wie Orthesen aussehen und was sie leisten sollen. Voraussetzung dafür sind in seinen Augen eine adäquate Anamnese und Register, „damit wir wissen, wo wir stehen“. Dem konnte Becher nur zustimmen und ergänzte: „Was ich mir wünschen würde, dass es seitens der Orthopädie-Technik mehr – zunächst mal interne – Vereinheitlichung gibt und klare und saubere Definitionen.“ Der zweite Schritt sei die Entwicklung einer Leitlinie. Die erste sei nun tatsächlich auf den Weg gebracht und bewilligt worden – und zwar für die Unilaterale spastische Cerebralparese unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie. Diese wird unter Führung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sowie mit Beteilung der Orthopädie-Technik, Therapeut:innen und verschiedenen ärztlichen Berufsgruppen erarbeitet. „Register“ war auch für Christiana Hennemann ein gutes Stichwort. „An Ländern wie Skandinavien und der Schweiz sieht man, wie gut Registerforschung über Jahre funktionieren und den Menschen dadurch geholfen werden kann.“
Versorgungswelt „Leben mit CP“
Mit diesen Diskussionsthemen lieferten die Gäste bereits eine spannende Vorschau auf die OTWorld 2022 und die Versorgungswelt „Leben mit CP“. „Es gibt eine Art Forumsprogramm, begleitend zum Kongress“, berichtete Hennemann. Mit ICF-geleiteter Bedarfsermittlung für Versorgung, Kostenträgerführungen, Versorgungspfaden für verschiedene Orthesenvarianten, Sitzschalenbau, dem Kinder-Reha-Mustervertrag und dem „Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung“ nannte Hennemann nur einige der Themeninhalte und Programmpunkte. Besonders freut sie sich darauf, in Leipzig einen CP-Patienten begrüßen zu können, der von seinen Erfahrungen mit Hilfsmittelversorgung und Berufseingliederung berichten wird. Ein weiteres Highlight: die interdisziplinäre Sprechstunde, die sowohl im Kongress als auch auf dem Forum Thema sein wird. Eine Ausstellung wird die Besucher:innen durch die verschiedenen Lebensphasen von CP-Patient:innen, vom Kleinkind- bis zum Erwachsenenalter, führen und so zeigen: „Wenn man früh anfängt gezielt zu versorgen, kann man am Ende eine größtmögliche Selbstständigkeit und Schmerzreduktion erreichen“, so Hennemann. Sitzen, Stehen, Mobilisieren – aus allen Bereichen werden Hilfsmittel von rund 60 Herstellern vorgestellt, die in den einzelnen Lebensphasen relevant sind. Nicht nur Christiana Hennmann, auch die anderen Gäste freuen sich darauf, im Mai gemeinsam in diese Versorgungswelt einzutauchen und sich auszutauschen.
Aus den Zuschauerreihen lobte Klaus Wiese, Geschäftsführer OT-KIEL GmbH & Co. KG, im Nachgang der Veranstaltung die Talkgäste als „passendes interprofessionelles hochkompetentes Team“, das Teilhabe und eine transparente Zieldefinition als Grundbestandteile der medizinischen Behandlung und des Versorgungsprozesses gut herausgearbeitet habe. Weitere Schlussfolgerungen für Wiese: Erforderlich für eine erfolgreiche Versorgung ist ein breites disziplinübergreifendes Fachwissen. Und: Anforderungen an die Technische Orthopädie verlangen nach angepassten, flexiblen Lösungskonzepten. Auch Moderator Michael Blatt zog sein positives Fazit aus dem Livetalk: „Nicht nur die hohe Expertise rund um das Thema Cerebralparese war bemerkenswert, sondern vor allem das Engagement und die Leidenschaft der Gäste, die Betroffenen an verschiedenen Stellen im Umgang mit CP zu unterstützen. Eine Einstellung, die hoffentlich die Zuschauer ebenso inspiriert hat wie mich.”
Pia Engelbrecht
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