Es war nicht die erste Anfrage dieser Art, die das Sanitätshaus Seeger erreichte, aber die erste, bei der Geschäftsführer Felix Peste das Gefühl hatte: Dieses Projekt hat Substanz, es hat Zukunft und wird nachhaltig etwas bewirken. Und auch jetzt – eineinhalb Jahre nach Start der Planungsphase – steht er voll hinter „Life Bridge Ukraine.“ Als eines von sechs Sanitätshäusern versorgt das Team Soldat:innen, die durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verletzt wurden. Gleichzeitig unterstützt es mit seinem Know-how den Aufbau eines Prothesenzentrums in Kyjiw.
Seit April 2024 hat der Berliner Betrieb 28 Patient:innen aus der Ukraine versorgt. Weitere werden in den kommenden Monaten eintreffen. Der Plan war, zunächst den Fokus auf den Bereich Unterschenkelprothetik zu legen. Dieser wurde nach dem Eintreffen der ersten Patient:innen jedoch schnell verworfen. „Die Verletzungen sind schwerwiegend“, berichtet Marko Gänsl, Bereichsleiter Orthopädie-Technik/Orthopädie-Schuhtechnik. Von den ersten 13 Patient:innen, die eintrafen, war knapp die Hälfte bilateral amputiert. Hinzu kamen Begleiterkrankungen wie Verletzungen an den Augen und an der Luftröhre, Gleichgewichtsstörungen sowie psychische Beschwerden. Alle Soldat:innen mussten parallel im Bundeswehrkrankenhaus bzw. der Charité behandelt werden. „Auf den ersten Blick wirken sie stark, aber nach dem Training am Vormittag fallen viele in ein Loch“, sagt Gänsl. Flashbacks und Panikattacken holten einige Soldat:innen ein, zwei konnten wegen Alkohol- und Drogenkonsums nicht weiter behandelt werden und wurden wieder zurück in die Ukraine geschickt. „Die Schicksale treffen einen hart. Darauf muss man vorbereitet sein.“
Umso mehr freut sich Gänsl über alle Patient:innen, die die Rückreise in die Ukraine laufend und mit einem Lächeln antreten. „Der Großteil ist von Tag eins an super motiviert. Ein Patient musste drei Mal am Tag sein Shirt wechseln, weil er so intensiv trainiert hat.“ Statt auf die Überholspur zu drängen, müsse eher auf die Bremse getreten werden. Nervosität macht sich vor dem ersten Mal Stehen und Gehen breit. Die Freude, wieder auf Augenhöhe mit dem Gegenüber zu sein, überwältigt – Patient:in und Techniker:in. „Ich habe den geilsten Job der Welt“, freut sich Gänsl darüber, den Soldat:innen ein großes Stück Lebensqualität zurückgeben zu können.
Auch wenn Prothesenversorgung Alltag für das Team ist, die Behandlung von Kriegsverletzten war es bis dato nicht. Die Voraussetzungen sind herausfordernd. Denn wenn es darum geht, Leben zu retten, kann der Fokus nicht auf der perfekten Amputation liegen. Viele Stümpfe sind daher stark vernarbt, mitunter wird mit kooperierenden Ärzt:innen über eine Revision diskutiert, ebenso über eine mögliche Osseointegration. Die Verletzungen erfordern auch mal eine Versorgung abseits des Standards. Mit einem mechanischen Kniegelenk stürzte ein Patient mehrfach. Die elektrische Variante gab dem Zweifachamputierten dann die Sicherheit, die er brauchte. Damit nach der Rückkehr in die Ukraine das nötige Fachwissen vorhanden und damit die Versorgung gewährleistet ist, bilden die deutschen Sanitätshäuser ukrainische Trainees aus, meist Quereinsteiger:innen aus den Bereichen Medizin und Therapie. Seeger hat bereits fünf geschult. „Der Prothesenbau ist das eine, die Therapie das andere“, betont Gänsl mit Blick auf den Erfolg einer Versorgung. Ganze 80 Prozent gingen auf das Konto des Gehtrainings. Die Trainees werden künftig im neuen Prothesenzentrum in Kyjiw tätig sein. Die Eröffnung ist für diesen Herbst
geplant.
„Wir haben nie darüber nachgedacht, es nicht zu tun“, sagt Peste mit Blick auf die einstige Anfrage von „Life-Bridge-Ukraine“-Initiatorin Dr. Janine von Wolfersdorff. „Sie hat uns direkt überzeugt. Sie hat die Ausdauer – und die können auch wir bieten.“ Nahezu wöchentlich tauscht sich das Team von Seeger mit den Teams der anderen am Projekt beteiligten Sanitätshäuser aus. „Wir kannten uns schon vorher, aber jetzt hat sich die Zusammenarbeit intensiviert“, berichtet Gänsl. Das führt schon mal zu Diskussionen. Zehn Meister:innen, zehn Meinungen. Doch letztendlich verfolgen alle ein Ziel und ziehen dafür an einem Strang. Anderen Betrieben legt Peste nahe, sich ebenfalls anzuschließen. „Es braucht die notwendigen Ressourcen. Man muss gut aufgestellt sein“, gibt Gänsl aber zu bedenken. Geld verdiene man damit nicht, pro bono arbeite man aber auch nicht. Der Abrechnungsprozess läuft grundsätzlich wie gewohnt: Das Sanitätshaus erstellt einen Kostenvoranschlag für die Krankenkasse. Von dort aus geht der aber noch einmal weiter – und zwar an das Landesamt für Soziales.
Die Beteilung an „Life Bridge Ukraine“ ist für Peste eine Bereicherung für das Sanitätshaus. Intern freut er sich über die positiven Rückmeldungen sowie über den Zusammenhalt und die Bereitschaft des Teams, über das tägliche Arbeiten hinaus aktiv zu sein. Die mediale und politische Aufmerksamkeit sei hoch. Im Juni 2024 statteten Kai Wegner, Bürgermeister von Berlin, und Vitali Klitschko, Bürgermeister der Partnerstadt Kyjiw, dem Betrieb einen Besuch ab – „ein Highlight in unserer Unternehmensgeschichte“, so Peste. „Die Technische Orthopädie in Deutschland gehört zu den besten Europas. Darauf sind wir stolz.“
Pia Engelbrecht
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