„KURT“ – ein gelenk­scho­nen­der manu­el­ler Rollstuhlantrieb

M. Gföhler, M. Puchinger, K. Gstaltner
Ein Rollstuhl wird von etwa 65 Millionen Menschen weltweit zur täglichen Fortbewegung verwendet. Die herkömmliche Antriebsform mittels Greifring ist jedoch unphysiologisch, wenig effizient und führt aufgrund großer Gelenkbelastungen in Kombination mit extremen Auslenkungen häufig zu Gelenkproblemen. In der diesem Artikel zugrunde liegenden Studie wurden numerische und experimentelle biomechanische Methoden angewendet, um eine neue Bewegungsform für den manuellen Rollstuhlantrieb zu entwickeln, die für das Muskel-Skelett-System der oberen Extremität optimiert und für den täglichen Gebrauch auch im Innenbereich geeignet ist. Die neue Antriebsform „KURT“ („Kurbelbasierter RollstuhlanTrieb“) besteht aus einem Handkurbelantrieb mit variierender Kurbellänge in der Ebene der Hinterräder; die Antriebskraft kann über den ganzen Bewegungszyklus aufgebracht werden. In Tests mit Rollstuhlfahrern konnten eine höhere Effizienz und geringere Gelenkbelastungen beim manuellen Rollstuhlantrieb mit „KURT“ im Vergleich zum Greifring ermittelt werden.

Ein­lei­tung

Der Roll­stuhl ist eines der am häu­figs­ten ver­wen­de­ten tech­ni­schen Hilfs­mit­tel in der Reha­bi­li­ta­ti­on. Laut WHO ver­wen­den etwa 1,85 % der Welt­be­völ­ke­rung – das ent­spricht unge­fähr 65 Mil­lio­nen Men­schen – einen Roll­stuhl zur täg­li­chen Fort­be­we­gung, und zwar sowohl Men­schen mit kör­per­li­chen Behin­de­run­gen als auch Men­schen mit redu­zier­ter Mus­kel­kraft wie z. B. Senio­ren 1. Ein Groß­teil der Roll­stüh­le wird manu­ell über einen Greif­ring ange­trie­ben. Mecha­nisch gese­hen ist dies eine sehr ein­fa­che Lösung: Über den par­al­lel zu den Rei­fen ange­brach­ten Greif­ring wer­den die Räder prak­tisch direkt durch die Arme wei­ter­ge­dreht. Die­se Bewe­gungs­form ist jedoch unphy­sio­lo­gisch, wenig effi­zi­ent und durch einen sehr gerin­gen Wir­kungs­grad geprägt 2: Stu­di­en haben gezeigt, dass beim Antrieb über den Greif­ring nur etwa 10 % der auf­ge­brach­ten Mus­kel­kraft direkt in Antriebs­leis­tung umge­wan­delt wer­den. Die Antriebs­be­we­gung mit dem Greif­ring ist cha­rak­te­ri­siert durch kur­ze, sich stän­dig wie­der­ho­len­de Antriebs­pha­sen sowie – vor allem an Schul­ter und Hand­ge­lenk – durch die Kom­bi­na­ti­on von hohen Belas­tun­gen mit gleich­zei­tig extre­men Gelenk­aus­len­kun­gen. Die­se hohen, unphy­sio­lo­gi­schen Belas­tun­gen füh­ren häu­fig zu Pro­ble­men an den Gelen­ken, bei­spiels­wei­se zu einem Kar­pal­tun­nel­syn­drom oder zu einem Schul­ter-Impinge­ment-Syn­drom (Schul­ter­eng­pass­syn­drom) 3. Die Mus­keln, wel­che die Schul­ter umspan­nen, üben rela­tiv gro­ße Kräf­te aus, um Gelenk­sta­bi­li­tät zu gewähr­leis­ten und erheb­li­che Schul­ter­mo­men­te für den Vor­trieb zu erzeu­gen. Die hohen Gelenk­mo­men­te, die vom gro­ßen Brust­mus­kel und vom vor­de­ren Del­ta­mus­kel – den „Antriebs­ma­schi­nen“ beim Roll­stuhl­an­trieb – erzeugt wer­den, wir­ken sich desta­bi­li­sie­rend auf den Schul­ter­ge­lenk­kom­plex aus. Zur Sta­bi­li­sie­rung des Gelenks erzeu­gen die Rota­to­ren­man­schet­ten­mus­keln hohe Mus­kel­kräf­te und damit Gelenk­druck­kräf­te, wäh­rend ihr Bei­trag zum äuße­ren Dreh­mo­ment um das Glen­oh­u­me­ral­ge­lenk gering ist.

Für den manu­el­len Roll­stuhl­an­trieb gibt es nur weni­ge zweck­mä­ßi­ge Alter­na­ti­ven zum her­kömm­li­chen Greif­ring 2. Eine auch kom­mer­zi­ell erhält­li­che Vari­an­te stellt der Antrieb durch Hebel dar, bei dem sich die obe­re Extre­mi­tät in einem phy­sio­lo­gisch güns­ti­ge­ren Bereich bewegt, denn dabei wer­den sowohl wäh­rend der Druck- als auch wäh­rend der Zug­pha­se Antriebs­kräf­te auf­ge­bracht. Aller­dings muss die Bewe­gung jeweils an den Umkehr­punk­ten abge­bremst und die Rich­tung der Kraft­auf­brin­gung umge­kehrt wer­den, was zwangs­läu­fig zu hohen Beschleu­ni­gun­gen und damit auch hohen Gelenk­be­las­tun­gen führt. Reque­jo und Kol­le­gen 4 zeig­ten, dass der Hebel­an­trieb die Rich­tung der Glen­oh­u­me­ral-Kon­takt­kraft in der Schul­ter ändert, die resul­tie­ren­de Kraft jedoch etwa gleich groß ist.

Eine kon­ti­nu­ier­li­che Antriebs­be­we­gung der Arme dage­gen ist bei den soge­nann­ten Hand­bikes gege­ben, die über Hand­kur­beln ange­trie­ben wer­den. Da hier aber eine gan­ze Antriebs­ein­heit vor­ne am Roll­stuhl mon­tiert wer­den muss, sind Hand­bikes wesent­lich län­ger als nor­ma­le Roll­stüh­le; sie erlau­ben kei­ne Kur­ven mit klei­nen Radi­en und sind daher vor allem für den Gebrauch im Frei­en, aber nicht in beeng­ten Innen­räu­men geeig­net 5.

Im Rah­men der hier vor­ge­stell­ten Arbeit wur­de eine neue manu­el­le Antriebs­form für den Roll­stuhl ent­wi­ckelt: Im Gegen­satz zur her­kömm­li­chen Metho­de, bei der die obe­re Extre­mi­tät sich an die mecha­ni­schen Gege­ben­hei­ten – den Greif­ring und des­sen Geo­me­trie – anpas­sen muss, lau­te­te die Ziel­set­zung hier, vom Mus­kel-Ske­lett-Sys­tem der obe­ren Extre­mi­tät aus­zu­ge­hen und eine mecha­ni­sche Antriebs­form zu ent­wi­ckeln, bei der die Gelen­ke nur in ergo­no­misch güns­ti­gen Berei­chen belas­tet und die Mus­kel­kräf­te mit hohem Wir­kungs­grad in Antriebs­leis­tung umge­wan­delt wer­den. Es soll­te also eine sowohl gelenk­scho­nen­de­re als auch effi­zi­en­te­re Antriebs­form entstehen.

Mate­ri­al und Methode

Com­pu­ter­ge­stütz­te Ent­wick­lung der opti­mier­ten Antriebsform

Um in der Bio­me­cha­nik nume­risch eine neue Bewe­gungs­form zu bestim­men, wird eine soge­nann­te „for­ward dyna­mic opti­miza­ti­on“ durch­ge­führt. Dazu wird zunächst ein Mus­kel-Ske­lett-Modell erstellt und ein mög­li­cher Bewe­gungs­ab­lauf simu­liert; sodann wer­den alle Para­me­ter wie Berei­che und Höhe der Mus­kel­ak­ti­vi­tät durch einen Opti­mie­rungs­al­go­rith­mus so lan­ge vari­iert, bis eine opti­ma­le Lösung gefun­den ist. Um die opti­ma­le Antriebs­be­we­gung für den manu­el­len Roll­stuhl­an­trieb zu bestim­men, wur­de also im ers­ten Schritt eine Com­pu­ter­si­mu­la­ti­on einer Roll­stuhl-Antriebs­be­we­gung erstellt; dazu wur­de die Soft­ware „Open­Sim 3.3“ 6 verwendet.

Das ver­wen­de­te bio­me­cha­ni­sche Modell des Ober­kör­pers (Abb. 1) umfasst sie­ben star­re Seg­men­te (Wir­bel­säu­le und Brust­korb, Schlüs­sel­bein, Schul­ter­blatt, Hume­rus, Ulna, Radi­us und Hand), die durch Gelen­ke mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Ins­ge­samt sie­ben Frei­heits­gra­de (DoF) ermög­li­chen Arti­ku­la­tio­nen an fol­gen­den Positionen:

  • an der Schul­ter (Fle­xi­on, Fle­xi­ons­ebe­ne, Rotation),
  • am Ell­bo­gen (Fle­xi­on),
  • am Unter­arm (Rota­ti­on) und
  • am Hand­ge­lenk (Devia­ti­on und Flexion).

Dar­über hin­aus sind 30 Mus­kel-Seh­nen-Aktua­to­ren imple­men­tiert, wel­che die Gelen­ke umspan­nen. Die Hand ist fest mit dem Hand­griff ver­bun­den, des­sen Lage über zwei zusätz­li­che rota­to­ri­sche Frei­heits­gra­de bestimmt wird. Der Hand­griff kann sich auf einer belie­bi­gen Bahn in der Ebe­ne der Räder des Roll­stuh­les bewe­gen. In einer dyna­mi­schen Opti­mie­rung wur­de errech­net, bei wel­cher Bewe­gungs­kur­ve des Hand­grif­fes durch die Mus­kel­kräf­te die maxi­ma­le Antriebs­leis­tung bei der vor­ge­ge­be­nen kon­stan­ten Win­kel­ge­schwin­dig­keit von 50 Umdre­hun­gen pro Minu­te (U/min) auf­ge­bracht wer­den kann, wobei die Gelenk­win­kel auf die phy­sio­lo­gi­schen Berei­che und die Bewe­gung auf die Ebe­ne des Hin­ter­ra­des des Roll­stuhls beschränkt waren. Die resul­tie­ren­de Bahn­kur­ve mit einem Zir­ku­la­ri­täts­ver­hält­nis (Funk­ti­on des Umfangs und der Flä­che; ein Kreis hat eine Zir­ku­la­ri­tät von 1) von 0,951 ist in Abbil­dung 2 dar­ge­stellt. Die Opti­mie­rung ergab eine Net­to­an­triebs­leis­tung von 34 Watt bei 50 U/min 7.

Für die expe­ri­men­tel­len Unter­su­chun­gen wur­de ein sta­tio­nä­rer Test­stand ent­wi­ckelt und auf­ge­baut (Abb. 3), auf dem ein han­dels­üb­li­cher Roll­stuhl fixiert wird, sodass die Räder kei­nen Kon­takt zum Boden haben 8. Ein gesteu­er­ter bürs­ten­lo­ser Motor in Kom­bi­na­ti­on mit einem unter dem Roll­stuhl mon­tier­ten Getrie­be und einem Schwung­rad simu­liert Beschleu­ni­gun­gen und Ver­zö­ge­run­gen sowie die Wider­stän­de beim Roll­stuhl­fah­ren. Zahn­rie­men über­tra­gen das Antriebs- bzw. Brems­mo­ment von der Motor-Getrie­be-Ein­heit zum manu­el­len Antrieb – ent­we­der ein klas­si­sches Roll­stuhl­rad mit Greif­ring oder ein alter­na­ti­ver Antriebs­me­cha­nis­mus wie der kur­bel­ba­sier­te Antrieb „KURT“, durch den die simu­lier­te opti­ma­le Bahn­kur­ve des Hand­grif­fes rea­li­siert wur­de (Abb. 4). „KURT“ besteht aus einer Kur­bel, die um den Lager­punkt C rotiert und wäh­rend der Umdre­hung ihre Län­ge durch eine inte­grier­te Gleit­füh­rung ändert. Eine Füh­rungs­scha­blo­ne gibt die Län­gen­än­de­rung der Kur­bel vor, sodass sich der Hand­griff genau auf der opti­mier­ten Bahn bewegt, die zuvor nume­risch ermit­telt wur­de (Abb. 2). Auf dem Roll­stuhl wird „KURT“ ent­we­der anstatt oder auf der Arm­leh­ne mon­tiert; die Posi­ti­on des Lager­punk­tes C muss an die indi­vi­du­el­len Kör­per­ma­ße des Fah­rers ange­passt wer­den. Ent­spre­chen­de hori­zon­ta­le und ver­ti­ka­le Ver­stell­mög­lich­kei­ten sind in dem in Abbil­dung 4 gezeig­ten Mecha­nis­mus für den Test­be­trieb mit ver­schie­de­nen Pro­ban­den inte­griert. Wenn ein Roll­stuhl eines indi­vi­du­el­len Nut­zers mit dem „KURT“-Mechanismus aus­ge­stat­tet wird, kann die­ser durch Weg­fall der Ver­stell­mög­lich­kei­ten noch wesent­lich schlan­ker aus­ge­führt und zusätz­lich für das Umset­zen weg­ge­klappt wer­den. In jedem Fall wird der Roll­stuhl durch den Mecha­nis­mus samt Hand­kur­beln nicht brei­ter, sodass er pro­blem­los auch in Innen­räu­men ver­wen­det wer­den kann.

Expe­ri­men­tel­le Eva­lu­ie­rung des kur­bel­ba­sier­ten Antrie­bes „KURT“

Um den manu­el­len Roll­stuhl­an­trieb mit „KURT“ mit dem Antrieb durch den her­kömm­li­chen Greif­ring zu ver­glei­chen, wur­den in einer Koope­ra­ti­on der TU Wien mit dem AUVA Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum Wei­ßer Hof (Klos­ter­neu­burg, Öster­reich) meh­re­re Test­se­ri­en mit Roll­stuhl­fah­rern durch­ge­führt. An der Stu­die nah­men acht Pro­ban­den mit Quer­schnitt­läh­mung teil, die den Roll­stuhl zur täg­li­chen Fort­be­we­gung nutzen.

  • Bestim­mung der Gelenk­be­las­tun­gen: In einer ers­ten Test­se­rie wur­de ermit­telt, wel­che Gelenk­be­las­tun­gen beim Antrieb eines Roll­stuh­les mit dem „KURT“-Mechanismus im Ver­gleich zum her­kömm­li­chen Greif­ring in der Pra­xis tat­säch­lich auf­tre­ten. Die Tests wur­den auf dem oben beschrie­be­nen roll­stuhl­ba­sier­ten Prüf­stand durch­ge­führt. Je eine „KURT“-Antriebseinheit wur­de für die lin­ke und die rech­te Hand mon­tiert; als Hand­griff der rech­ten Hand wur­de ein spe­zi­ell ent­wi­ckel­ter kabel­lo­ser Kraft­mess­griff mit inte­grier­tem Kraft- und Dreh­mo­ment­sen­sor zur Mes­sung der von der Hand auf­ge­brach­ten Kräf­te ver­wen­det. Zum Ver­gleich wur­den eben­so die auf­tre­ten­den Hand­kräf­te beim Antrieb mit­tels Greif­ring über ein Roll­stuhl­rad mit inte­grier­ter Sen­so­rik („Smart-Wheel“, Out-Front, Pas­co, WA, USA) gemes­sen. Ein Bewe­gungs­ana­ly­se­sys­tem mit 8 Kame­ras (Moti­on Ana­ly­sis Cor­po­ra­ti­on, San­ta Rosa, CA, USA) wur­de ein­ge­setzt, um die Bewe­gung der Kör­per­seg­men­te wäh­rend der Tests zu erfas­sen. Die Tests wur­den bei zwei Last­stu­fen von 25 Watt und von 35 Watt und mit einer simu­lier­ten Roll­stuhl­ge­schwin­dig­keit von 1,1 m/s durch­ge­führt. Auf einem Dis­play wur­den die tat­säch­li­che Geschwin­dig­keit und die zu errei­chen­de Soll-Geschwin­dig­keit ange­zeigt, um wäh­rend der Tests mög­lichst genau die Soll-Geschwin­dig­keit hal­ten zu kön­nen. Das in Abbil­dung 1 dar­ge­stell­te Modell des Ober­kör­pers wur­de zuvor für jeden Pro­ban­den auf des­sen indi­vi­du­el­le Kör­per­ma­ße ska­liert; sodann wur­den aus den auf­ge­zeich­ne­ten Bewe­gungs­t­ra­jek­to­ri­en der reflek­tie­ren­den Mar­ker und den gemes­se­nen Kraft­da­ten am Hand­griff mit­tels Inver­ser Kine­ma­tik sowie Inver­ser Dyna­mik die Ver­läu­fe der Gelenk­win­kel und der Gelenk­mo­men­te an den Gelen­ken der obe­ren Extre­mi­tät berechnet.
  • Ener­gie­ver­brauch beim Antrieb des Roll­stuh­les: Zur Ermitt­lung des Ener­gie­ver­brau­ches führ­ten die Pro­ban­den auf dem Roll­stuhl­prüf­stand inkre­men­tel­le Belas­tungs­tests durch, wobei abwech­selnd ein Rad mit Greif­ring und der „KURT“-Mechanismus zum Antrieb ver­wen­det wur­den. Die durch den Prüf­stand auf­ge­brach­te Wider­stands­leis­tung wur­de begin­nend bei 10 Watt kon­stant um 5 Watt pro Minu­te erhöht. Der Test wur­de been­det, wenn ent­we­der 55 Watt Wider­stands­leis­tung erreicht wur­den oder die Test­per­son kör­per­lich erschöpft war. Unter Ver­wen­dung eines trag­ba­ren Atem­gas­ana­ly­se­sys­tems (Spi­ro­er­go­me­trie) („Cos­med K5“, Cos­med GmbH, Fri­dol­fing, D) das in Abbil­dung 3a zu sehen ist, wur­den kon­ti­nu­ier­lich die Sau­er­stoff­auf­nah­me und der Koh­len­di­oxid­aus­stoß auf­ge­nom­men und dar­aus der Ener­gie­ver­brauch ermit­telt 9. Der mecha­ni­sche Brut­to­wir­kungs­grad errech­net sich aus dem Ver­hält­nis zwi­schen der tat­säch­li­chen Wider­stands­leis­tung des Prüf­stands und dem Ener­gie­ver­brauch des Probanden.

Ergeb­nis­se

Hand­kraft­ver­lauf

Beim kur­bel­ba­sier­ten Antrieb „KURT“ wird die Antriebs­kraft rela­tiv gleich­mä­ßig über den Antriebs­zy­klus auf­ge­bracht, wäh­rend beim Antrieb mit­tels Greif­ring nur in der soge­nann­ten Push-Pha­se Kräf­te auf­ge­bracht wer­den kön­nen, die des­we­gen bei glei­cher Belas­tung wesent­lich höher sind. Die Unter­schie­de der Kraft­auf­brin­gung wäh­rend eines gesam­ten Zyklus sind in Abbil­dung 5 dargestellt.

Gelenk­be­las­tun­gen

Die ermit­tel­ten Gelenk­win­kel­be­rei­che waren beim Antrieb mit „KURT“ für alle Frei­heits­gra­de im phy­sio­lo­gi­schen Bereich. Bei „KURT“ bleibt die Schul­ter­ro­ta­ti­on annä­hernd im ergo­no­misch güns­ti­gen Bereich, wäh­rend sie beim Greif­ring zu einem gro­ßen Teil außer­halb des ergo­no­mi­schen Berei­ches liegt. Die Gelenk­win­kel­be­rei­che für Hand­ge­lenk­de­via­ti­on und ‑fle­xi­on blei­ben bei „KURT“ mit sehr klei­nen Aus­schlä­gen durch­ge­hend im ergo­no­misch güns­ti­gen Bereich, woge­gen beim Antrieb mit­tels Greif­ring am Hand­ge­lenk wesent­lich grö­ße­re Gelenk­win­kel­be­rei­che zu erken­nen sind, die im Fal­le der Devia­ti­on auch über den ergo­no­mi­schen Bereich hin­aus­ge­hen (Abb. 6). Da Pro­ble­me durch den manu­el­len Roll­stuhl­an­trieb vor allem an Schul­ter und Hand­ge­lenk auf­tre­ten, wer­den die­se bei­den Gelen­ke im Fol­gen­den genau­er betrachtet.

Abbil­dung 7 zeigt die maxi­ma­len Momen­ten­be­las­tun­gen im Ver­gleich, eben­falls für Schul­ter- und Hand­ge­lenk. Es ist deut­lich zu erken­nen, dass die Belas­tun­gen bei „KURT“ wesent­lich nied­ri­ger sind, was durch die kon­ti­nu­ier­li­che Kraft­auf­brin­gung und die dadurch deut­lich klei­ne­ren Kon­takt­kräf­te an der Hand erklärt wer­den kann. Der größ­te Unter­schied zeigt sich bei der Hand­ge­lenk­de­via­ti­on; hier ist das Gelenk­mo­ment beim Antrieb mit­tels Greif­ring im Ver­gleich zu „KURT“ mehr als 7‑mal so groß.

Ener­gie­ver­brauch

Die Ergeb­nis­se der Mes­sun­gen mit Spi­ro­er­go­me­trie zei­gen, dass der Ener­gie­ver­brauch bei der Ver­wen­dung von „KURT“ bei Last­stu­fen zwi­schen 10 und 45 Watt im Schnitt 27 % nied­ri­ger ist als beim Antrieb mit dem her­kömm­li­chen Greif­ring (Abb. 8); der errech­ne­te mecha­ni­sche Brut­to­wir­kungs­grad GME war für „KURT“ im Schnitt 30 % höher.

Dis­kus­si­on

Mit der Ent­wick­lung des alter­na­ti­ven Roll­stuhl­an­trie­bes „KURT“ ist es gelun­gen, eine Antriebs­form zu ent­wi­ckeln, bei der sich die mecha­ni­schen Gege­ben­hei­ten an den Fah­rer und vor allem das Mus­kel-Ske­lett-Sys­tem der obe­ren Extre­mi­tät anpas­sen und nicht umge­kehrt, wie es beim klas­si­schen Antrieb mit dem Greif­ring der Fall ist, bei dem der Fah­rer sich an das Gerät anpas­sen muss. Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass bei Ver­wen­dung von „KURT“ extre­me, ergo­no­misch ungüns­ti­ge Gelenk­win­kel vor allem am Hand­ge­lenk ver­mie­den wer­den kön­nen und dass durch die kon­ti­nu­ier­li­che Kraft­auf­brin­gung die Kon­takt­kräf­te an der Hand wesent­lich nied­ri­ger sind, was auch zu gerin­ge­ren Maxi­mal­be­las­tun­gen an den Gelen­ken führt. Da der Hand­griff um sei­ne eige­ne Ach­se und auch um die Ach­se in der Kur­bel dreh­bar gela­gert ist, kann das Hand­ge­lenk wäh­rend des gesam­ten Antriebs­zy­klus nahe der neu­tra­len Posi­ti­on gehal­ten wer­den, in der auch die Kraft am bes­ten über­tra­gen wer­den kann. Die Unter­schie­de der Gelenk­win­kel­be­rei­che am Schul­ter­ge­lenk wer­den im Ver­gleich zum kon­ven­tio­nel­len Greif­ring-Antrieb durch ein in Zukunft ver­füg­ba­res schlan­ke­res Design noch deut­lich grö­ßer aus­fal­len, da dadurch der Bewe­gungs­ab­lauf näher am Kör­per statt­fin­den kann. Auf jeden Fall wird die Antriebs­kraft­er­zeu­gung durch die Auf­brin­gung in der Zug- und Druck­pha­se auf eine grö­ße­re Anzahl von Mus­keln und damit auch eine grö­ße­re Mus­kel­mas­se ver­teilt, was einer­seits Über­las­tun­gen von Mus­keln ver­mei­det und ande­rer­seits eine Atro­phie weni­ger akti­vier­ter Mus­keln ver­mei­den kann. Ins­ge­samt bleibt das Mus­kel­gleich­ge­wicht der die Gelen­ke umspan­nen­den Mus­keln, die jeweils für Fle­xi­on und Exten­si­on zustän­dig sind, bes­ser erhal­ten als bei der ein­sei­ti­gen Belas­tung beim Antrieb mit­tels Greifring.

Der hohe Ener­gie­ver­brauch und die nied­ri­ge mecha­ni­sche Effi­zi­enz beim Antrieb mit dem Greif­ring wer­den in der Lite­ra­tur 10 mit der unter­bro­che­nen, kom­ple­xen Antriebs­be­we­gung und dem Ener­gie­ver­lust durch die Beschleu­ni­gungs- und Abbrems­pha­sen der Arme jeweils zu Beginn und Ende der Kraft­auf­brin­gung erklärt. Die im Rah­men die­ser Stu­die durch­ge­führ­ten Spi­ro­er­go­me­trie-Tests führ­ten zur sel­ben Erkennt­nis, was somit auch den ermit­tel­ten nied­ri­ge­ren Ener­gie­ver­brauch und die höhe­re Effi­zi­enz von „KURT“ erklärt. Des Wei­te­ren konn­ten in den Tests mit „KURT“ auch höhe­re Last­stu­fen erreicht wer­den als mit dem Greif­ring-Antrieb. Dies wird auch durch die gemes­se­ne, weit­aus nied­ri­ge­re Herz­fre­quenz beim Kur­beln mit „KURT“ im Ver­gleich zum Greif­ring-Antrieb ersicht­lich. Stu­di­en mit Hand­bikes zeig­ten ähn­li­che Effek­te 11.

Der hier beschrie­be­ne und in den Abbil­dun­gen 3 und 4 visua­li­sier­te Auf­bau ist auf­grund der für die Tests not­wen­di­gen Ver­stell­bar­keit noch rela­tiv klo­big; in den beschrie­be­nen Test­rei­hen ging es vor allem um die Ermitt­lung der Mus­kel- und Gelenk­be­las­tun­gen und die Veri­fi­ka­ti­on der nume­ri­schen Ergeb­nis­se. In einem von der Öster­rei­chi­schen For­schungs­för­de­rung (FWF) geför­der­ten Anschluss­pro­jekt geht es jetzt (Stand: Juli 2021) dar­um, die Kon­struk­ti­on noch wei­ter an die Erfor­der­nis­se des All­tags anzu­pas­sen. Eine Umfra­ge, an der Roll­stuhl­fah­rer aus dem gan­zen deutsch­spra­chi­gen Raum teil­ge­nom­men haben, hat erge­ben, dass poten­zi­el­len Benut­zern in Bezug auf die All­tags­taug­lich­keit vor allem wich­tig ist,

  • dass „KURT“ ohne Werk­zeug mög­lichst ein­fach mon­tiert und demon­tiert wer­den kann,
  • dass es ohne gro­ßen Auf­wand für Trans­fers weg­klapp­bar ist sowie
  • dass es Brem­sen und einen Frei­lauf besitzt, damit sich die Kur­beln nach dem Los­las­sen nicht weiterbewegen.

Als wesent­lich wur­den des Wei­te­ren fol­gen­de Aspek­te angesehen:

  • ein Rück­wärts­gang,
  • die Mög­lich­keit, den Roll­stuhl um die eige­ne Ach­se zu dre­hen, sowie
  • die Ver­wen­dung kom­for­ta­ble­rer, gepols­ter­ter Griffe.

In einem Kon­struk­ti­ons­wett­be­werb haben Teams von Schü­le­rin­nen und Schü­lern Höhe­rer Tech­ni­scher Schu­len in Öster­reich ihre Krea­ti­vi­tät bewie­sen und Vor­schlä­ge für die Inte­gra­ti­on der oben genann­ten Anfor­de­run­gen in den „KURT“-Antrieb ent­wor­fen. Die von einer inter­dis­zi­pli­nä­ren Jury best­be­wer­te­ten Vor­schlä­ge wer­den der­zeit (Stand: Juli 2021) umge­setzt, und es soll die ers­te Ver­si­on eines schlan­ken und maxi­mal all­tags­taug­li­chen „KURT“ ent­ste­hen. Die Ent­wick­lung kann auf der Home­page kurtproject.com ver­folgt wer­den; auf der Sei­te ist auch ein Video zu fin­den, das den ers­ten Pro­to­typ von „KURT“ in Akti­on zeigt.

Schluss­fol­ge­run­gen

Im Rah­men die­ser Stu­die konn­te gezeigt wer­den, dass durch den neu ent­wi­ckel­ten kur­bel­ba­sier­ten Antriebs­me­cha­nis­mus „KURT“ sowohl die Belas­tun­gen der Mus­kel- und Gelenk­struk­tu­ren als auch der Ener­gie­ver­brauch beim manu­el­len Antrieb eines Roll­stuh­les ver­rin­gert wer­den. Auf­grund der kom­pak­ten Bau­wei­se ist „KURT“ auch für den täg­li­chen Gebrauch in Innen­räu­men geeig­net. Beson­de­re Vor­tei­le bringt die Ver­wen­dung von „KURT“ für sol­che Roll­stuhl­fah­rer, die bereits unter Pro­ble­men an den Gelen­ken lei­den und die­se des­halb wäh­rend der täg­li­chen Fort­be­we­gung mög­lichst wenig belas­ten wol­len. Genau­so kann „KURT“ aber auch vor­beu­gend ver­wen­det wer­den, um Ver­let­zun­gen, die durch mus­ku­lä­res Ungleich­ge­wicht an den Gelen­ken und hohe Belas­tun­gen an extre­men Gelenk­po­si­tio­nen ent­ste­hen kön­nen, zu ver­mei­den und eine effi­zi­en­te­re Fort­be­we­gung mit dem Roll­stuhl zu ermöglichen.

Dank­sa­gung
Die Ent­wick­lung des gelenk­scho­nen­den Roll­stuhl­an­trie­bes „KURT“ wur­de von der Öster­rei­chi­schen For­schungs­för­de­rungs­ge­sell­schaft (FWF) im Rah­men der Pro­jek­te P 25507-B24 und WKP 130‑B gefördert.

Für die Autoren:
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Mar­git Gföhler
For­schungs­be­reich Biomechanik
und Reha­bi­li­ta­ti­ons­tech­nik
Insti­tut für Konstruktionswissenschaften
und Pro­dukt­ent­wick­lung
Tech­ni­sche Uni­ver­si­tät Wien
Getrei­de­markt 9/307/3
A‑1060 Wien
Öster­reich
margit.gfoehler@tuwien.ac.at

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Gföh­ler M, Puch­in­ger M, Gstalt­ner K. „KURT“ – ein gelenk­scho­nen­der manu­el­ler Roll­stuhl­an­trieb. Ortho­pä­die Tech­nik, 2021; 72 (7): 30–35
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