Wo das geschulte Auge nicht ausreicht, bieten moderne Technologien Unterstützung. Gang- und Bewegungsanalyse-Systeme lassen Fehlbelastungen und ‑stellungen in der Dynamik des menschlichen Ganges erkennbar werden und decken Gangstörungen auf. Doch welche Systeme gibt es aktuell am Markt? Sind sie kompatibel? Und welche Vorteile bringt die Technik im Betrieb? Fragen wie diesen auf der Spur hat das Kompetenzzentrum Orthopädieschuhtechnik (KomZet O.S.T.) am Standort Hannover ein Bewegungs- und Haltungsanalyselabor eingerichtet. Noch in diesem Jahr soll OST-Betrieben ein Leitfaden an die Hand gegeben werden, der einen Überblick über die verschiedenen Systeme gibt und so dabei hilft, die passende Variante für den eigenen Betrieb zu finden.
Installiert wurden insgesamt fünf Systeme. Ziel war es nicht, zwangsläufig auf das Beste vom Besten zu setzen, sondern eine Range darzustellen, also auch Systeme auszuwählen, die sich kleine Betriebe mit weniger Budget anschaffen können. Das Projektteam entschied sich für die 2D-Gang‑, Lauf- und Haltungsanalyse mit Markerless Tracking der Firma Contemplas. Damit ist es möglich, Gelenkwinkel zu messen und Referenzpunkte zu verfolgen, ohne dass am Körper der Patient:innen spezielle Marker angebracht werden müssen. „Das System gibt viele Hilfestellungen. Das ist ein großer Vorteil“, erläutert Torsten Redeker, Projektmanager am Standort Hannover. Eine weitere Komponente ist ein mit Drucksensoren instrumentiertes Laufband der Firma Schein Orthopädie, das bereits seit einiger Zeit in Hannover genutzt wird und lediglich mit neuer Software und Kameras upgedatet werden musste. Mobile Videoanalysen mit dem iPad sind über die App-Lösung Dartfish möglich.
Labor mit Betriebscharakter
Für die 15 Meter lange Gangstrecke wurden zudem WLAN-Messplatten von Medilogic installiert, die problemlos in das System von Contemplas integriert werden konnten. Mit einem weiteren System der Steinfurter Firma Vebito Solution lassen sich mehraxiale Belastungen wie Biege- und Torsionsmomente direkt am Fuß messen. Bereits in Hannover vorhanden war das Messgerät „3D L.A.S.A.R. Posture“ von Ottobock, das im Labor nun für die Haltungsanalyse mitgenutzt wird. Um dem Praxisalltag möglichst nahe zu kommen, wurden die Gang‑, Lauf- und Haltungsanalyse räumlich so eingerichtet, wie sie auch in einem Betrieb vorzufinden sein könnten. „Hier muss es schließlich integrierbar sein“, betont Redeker. Die Komponenten der drei „Inseln“, wie Dr. Anette Kerkhoff, Projektleiterin des KomZet O.S.T., sie beschreibt, sind variabel einsetzbar. Die Kameras beispielsweise können so ausgerichtet werden, dass die drei Systeme sowohl für die Gang‑, als auch für die Lauf- sowie die Haltungsanalyse nutzbar sind.
Analysekompetenz ausbauen
Ein Ziel des Projekts ist es zu beleuchten, welche Güte die einzelnen Messsysteme haben, wo die Unterschiede und Grenzen liegen. „Wir möchten aufzeigen, was mit welchem System tatsächlich gut analysiert werden kann“, sagt Kerkhoff. „Denn natürlich kann ich mit allen Systemen Bewegung aufnehmen. Aber sind die Bewegungen, die ich aufnehme, und die Ergebnisse, die ich erhalte, gleich valide?“ Mit dem Contemplas-System sei es beispielsweise möglich, eine Schritterkennung vorzunehmen und auszuwerten, um so den gemittelten Schritt zu erhalten. Dartfish sei dafür nicht ausgelegt. Dafür reiche die Software aber zum Beispiel aus, um im Standbild einen Winkel bestimmen zu können.
Ein weiteres Ziel ist es, die Diversität der Kompetenzen des Handwerks herauszustellen und – besonders jungen Menschen – zu zeigen, dass es ganz unterschiedliche Bereiche gibt, auf die man sich spezialisieren kann und die diverse Kenntnisse voraussetzen. „Die Analysekompetenz ist eine wichtige Kompetenz in der Orthopädie-Schuhtechnik und die gilt es weiterauszubauen“, betont Kerkhoff. Als wichtig erachtet sie, dass die Bewegungsanalyse bereits in die Ausbildung eingebunden wird. Angedacht ist, das Thema künftig in den Block „Moderne Analyseverfahren“ der überbetrieblichen Lehrlingsunterweisung (ÜLU) „ORSCHU5/16“ miteinzubinden. Seit Anfang dieses Jahres nutzen die Schüler:innen des Meisterkurses das Labor mit viel Interesse für ihre Patientenversorgungen. Demnächst sollen am KomZet Seminare zum Thema Lauf– , Gang- und Haltungsanalyse angeboten werden. Welcher Fokus konkret gesetzt wird, wird derzeit noch erarbeitet. Ein Pilotkurs soll Ende 2024 starten.
„Wir wünschen uns, dass die Bewegungsanalyse – und das nicht nur im Bereich Diabetes – fester Bestandteil des Versorgungsstandards wird“, so Redeker. Auch im Hinblick auf die Erfolgskontrolle, wie Kerkhoff ergänzt. Vor allem wer mit einer Standardversorgung nicht weiterkommt, benötige weitere Daten und könne damit schließlich auch das Versorgungsziel und die Wirksamkeit überprüfen. Das schaffe nicht zuletzt eine gute Grundlage zur Argumentation bei den Krankenkassen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner sieht Redeker in der Kombination von Videoanalyse und standardisiertem Patientenfragebogen. „Das sollte jeder Betrieb in seinen Versorgungsprozess einbinden, ist bislang aber noch nicht gelebte Realität.“
Handlungsleitfaden gibt Orientierung
Abgeleitet aus den Erfahrungen im Labor erstellt das KomZet derzeit einen Handlungsleitfaden, der Betrieben übersichtlich, in verständlicher Sprache und ohne große Vorkenntnisse einen Überblick über die Analysesysteme am Markt, über passende Schnittstellen und mögliche Einsatzgebiete geben soll. Einen Anspruch auf Vollständigkeit verfolgt das Projektteam nicht. Ebenso wenig gibt es strenge Ablaufpläne. Das Nachschlagewerk soll eine erste Orientierung bieten sowie Rahmenbedingungen für die Messsysteme definieren – und auch darüber hinaus. Welche Voraussetzungen müssen die Räumlichkeiten zur Nutzung der Systeme erfüllen? Wie müssen die Patient:innen vorbereitet sein? Was muss bei der Datenaufnahme beachtet werden? Solche und weitere Parameter benennt der Leitfaden. Die Veröffentlichung ist für Mitte des Jahres geplant.
Pia Engelbrecht
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