OT: Herr Schäfer, wie ist aktuell die Stimmung in der Branche?
Michael Schäfer: Da muss man sicher zwei Dinge trennen – einerseits die Gesamtentwicklung der Branche und andererseits die aktuelle Situation unter der Corona-Pandemie. Insgesamt sind die Voraussetzungen für unser Fach nach wie vor gut, bedingt durch die demografische Entwicklung speziell in Deutschland und Europa wächst der Gesundheitsmarkt zunehmend. Allerdings steigt der Kostendruck durch die Krankenkassen gerade auch in schwierigen Zeiten wie dieser spürbar. Alles in allem ist aber unbestritten, dass man die Arbeit unserer Branche dringend braucht. Unter den verschärften Corona-Bedingungen haben etliche Sanitätshäuser massive Einschnitte erlebt, weil viele Kliniken nicht im Normalmodus liefen, Behandlungen verschoben wurden bzw. die Menschen nicht in die Geschäfte gekommen sind. Etwas weniger schlimm sah es bei den Individualversorgern aus, die individuelle Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen fertigen. Sie gingen durch ein kürzeres Tal, weil ihre Patientinnen und Patienten nicht lange auf ihre dringend benötigten Hilfsmittel verzichten konnten.
Versorgung in Corona-Zeiten im Fokus
OT: Die Versorgung unter Pandemie-Bedingungen wird im Kongress der OTWorld.connect ebenfalls eine Rolle spielen.
Schäfer: Ich freue mich, dass wir den Vortragsblock zur Versorgung unter Corona-Bedingungen kurzfristig organisieren konnten. Wir beleuchten, wie aus wirtschaftlicher, politischer und medizinischer Sicht sowie aus Sicht der Versorger mit dieser Ausnahmesituation umgegangen wird. Welche professionellen Konzepte haben die Betriebe entwickelt, wie stellen sie sich auf die neue Marktsituation ein? Wie sehen beispielweise die Schutzkonzepte aus, wenn der Außendienst zu Versorgungen ins Pflegeheim fährt? Viele Unternehmen haben ihre Teams gesplittet, damit im Fall von Infektionen im Team weiter versorgt werden kann. Nicht zuletzt ist die Mitarbeitermotivation eine Herausforderung, denn die Belegschaft arbeitet unter erschwerten Bedingungen.
OT: Sie sind Erfinder eines neuen Formats im Kongress der OTWorld.connect, das interdisziplinäre Leuchttürme der Versorgung vorstellt. Gemeinsam mit John Miguelez von Advanced Arm Dynamics widmen Sie sich dem Thema „Moderne Prothetik der oberen Extremitäten“. Was darf das Publikum erwarten?
Schäfer: John Miguelez ist eine absolute Koryphäe, spezialisiert auf die prothetische Versorgung der oberen Extremitäten sowie auf die Anpassung der Schnittstellen zwischen Mensch und Prothese. Ziel ist, die obere Extremität mittels der Technik möglichst exakt zu spiegeln. Für entsprechende Projekte investierte die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), eine Behörde des US-Verteidigungsministeriums, zur Jahrtausendwende weit mehr als 100 Millionen Dollar an Forschungsgeldern. Miguelez leitet mit Advanced Arm Dynamics eines der führenden Versorgungsteams weltweit und liegt in den USA an der Spitze. Er ist eng vernetzt mit Medizin und Therapie.
OT: Was macht Miguelez’ Arbeit besonders?
Schäfer: Er und sein Team arbeiten kontinuierlich daran, den Erfolg neuer Technologien erkennbar zu machen, entwickeln eigene Assessments und pflegen schon lange eine sehr enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Medizin und Therapie. Das ist wichtig, weil auch in den USA die Kostenträger Nachweise fordern, wie die Menschen von den neuen Technologien profitieren wie zum Beispiel multiartikulierenden Händen oder Targeted Muscle Reinnervation (TMR, Nerventransfers). Solche gut funktionierenden interdisziplinären Beispiele und das dahinterstehende Know-how sollen in die Branche getragen werden, denn die Versorgungen werden immer komplexer. Am Markt existiert in dieser Hinsicht nach wie vor ein Vakuum. Zwar wird viel von Interdisziplinarität gesprochen, doch es gibt nur wenige tatsächliche interdisziplinäre Konzeptteams, bei denen Techniker, Therapeuten und Mediziner tatsächlich den engen Austausch am und mit dem Patienten pflegen.
OT: Auf welche Highlights freuen Sie sich noch?
Schäfer: Ich freue mich, dass wir 250 Vorträge auf die Beine gestellt haben! Uns sind sehr gute Kooperationen gelungen, zum Beispiel mit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU), der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS) und der Gesellschaft für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie (GFFC). Ich bin gespannt auf die von der Medizin beigesteuerten Beiträge, auf die Debatte über aktuelle Technologien, über Mensch-Maschine-Schnittstellen und welche wegweisenden Möglichkeiten sich für die Chirurgie andeuten. So steuern die Chirurgen zunehmend direkt auf die Nerven als zuverlässige Signalquellen zu. Von neuromuskulärer Stimulation bis zur Übertragung sensibler Umgebungsinformationen auf den Stumpf – die Verbesserung der Schnittstellen zwischen Mensch und Technik ist ein großes Thema auf der OTWorld.connect. Denn oft müssen wir feststellen, dass unsere Hilfsmittel zu wenig Detail-Performance bieten und wir im Alltag im Vergleich zur Natur einfach noch viel zu primitiv unterwegs sind. Wir müssen uns noch viel mehr anstrengen, dem natürlichen Vorbild näherzukommen. Die deutsche und europäische Forschungslandschaft zieht überdies mit der TAR Conference (Technically Assisted Rehabilitation) ein. Hier geht es um sehr zukunftsorientierte Inhalte, die teils weitab von der Versorgungsrealität liegen. Es schadet unserer Branche aber nicht, sich schon heute damit auseinandersetzen – eine wirklich große Bereicherung.
Labor für neue Digitalformate
OT: Warum lohnen die Live-Streams der OTWorld.connect in besonderem Maße?
Schäfer: Ganz klar: Wer beim Wissensaustausch über die verschiedenen OT-Disziplinen die Nase vorn haben will, der muss dabei sein! Außerdem werden die Hersteller ebenfalls Kanäle bespielen und neue Technologien vorstellen. Im Mittelpunkt des digitalen Formats steht ganz klar der Wissenstransfer. Die OTWorld.connect ist sozusagen ein Prototyp, ein Labor für neue Digitalformate, von denen wir etliche sicherlich künftig wiedersehen werden.
OT: Die OTWorld.connect ist also kein Platzhalter, sondern ein Schrittmacher?
Schäfer: Das wird keine einmalige Sache! Es ist richtig, den digitalen Weg zu beschreiten, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Gerade bei internationalen Kongressen bieten sich so Chancen, weltweit Forscher zuzuschalten, die keine lange Reise auf sich nehmen wollen oder können. Digitale Formate werden die Messe- und Kongresslandschaft dauerhaft bereichern. Die Hemmschwelle, Fragen zu stellen, könnte online geringer sein als in einem vollbesetzten Vortragssaal, deshalb hoffe ich auf viele Fragen und intensive Diskussionen.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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