Mit „Kinderorthopädie und Neuroorthopädie verstehen – Algorithmen zur Diagnostik und Behandlung“ legen W. Strobl, M. Hübner, F. Landauer und C. Abel ein kompaktes Nachschlagewerk vor, das einen umfassenden Zugang zu einem vielgestaltigen und anspruchsvollen Fachgebiet verspricht. Das Buch, bereichert durch ein Vorwort von Prof. Dr. Reinhold Brunner, ist als Kitteltaschenbuch konzipiert und richtet sich damit gezielt an den klinisch-praktischen Alltag. Das erfahrene Autorenteam bringt nicht nur langjährige praktische Expertise in der Kinderorthopädie ein, sondern hebt insbesondere den Wert der interdisziplinären Zusammenarbeit hervor. Dieses Verständnis zieht sich als roter Faden durch das gesamte Werk. Die Vernetzung zwischen Medizin, technischer Orthopädie, Physiotherapie und weiterer relevanter Disziplinen wird nicht nur erwähnt, sondern aktiv in Behandlungsempfehlungen verknüpft. Dies ist zweifellos ein großes Plus des Buches, zumal interdisziplinäres Handeln in der Versorgung von Kindern mit komplexen Einschränkungen unerlässlich ist. Hervorzuheben ist auch die explizite Berücksichtigung seltener und weniger häufig auftretender Krankheitsbilder. Die Autorinnen und Autoren fassen dazu in prägnanter Weise die zentralen Fakten zusammen, gehen auf diagnostische Besonderheiten ein und benennen essenzielle Therapiekriterien. Insbesondere junge Kolleginnen und Kollegen, für die ein schneller Zugang zu bewährten Strukturen hilfreich ist, profitieren von diesen kompakten Übersichten. An dieser Stelle wäre jedoch eine noch stärkere Vertiefung einzelner seltener Diagnosen durchaus wünschenswert, was den Lesern die Möglichkeit bieten würde, diese anspruchsvollen Fälle fundierter einzuordnen. Die Systematik des Buches setzt auf eine farbkodierte Gliederung, bei der sowohl Symptome als auch Diagnosen, therapeutische Maßnahmen, Hilfsmittel und Interventionen/Operationen unterschiedlichen Farben zugeordnet sind.
Nach einer kurzen Einarbeitungsphase bietet dieses System tatsächlich einen sehr raschen Zugriff auf relevante Informationen. Gerade für den klinischen Alltag, in dem Zeit ein knappes Gut ist, stellt dies eine willkommene Erleichterung dar. Gleichzeitig verlangt die nicht immer intuitive Gliederung vom Nutzer jedoch die Bereitschaft, sich mit der Logik des Buches vertraut zu machen. Inhaltlich werden in den einzelnen Unterkapiteln die wesentlichsten Fakten und aktuellen Leitlinien zusammengefasst. Die Darstellung verschiedener orthopädischer Einlagen – von ausgleichenden über bettende bis zu korrigierenden und durch Stimulation wirkenden Einlagen – illustriert beispielhaft die Detailtiefe, mit der das Autorenteam einzelne Versorgungsbereiche beleuchtet.
Positive Erwähnung verdient außerdem die konsequente Verknüpfung mit aktuellen S2-Leitlinien, wie beispielsweise zur Behandlung des kindlichen Knick-Senkfußes.Ein besonders gelungenes Beispiel für Praxisnähe und Übersichtlichkeit findet sich in Abbildung 4.3, die den Hilfsmittelbedarf bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen in Abhängigkeit vom GMFCS-Level darstellt. Die langjährig beobachteten Zusammenhänge sind auf einer Seite nachvollziehbar visualisiert und bieten gerade weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen eine fundierte Basis, um den Hilfsmittelbedarf zielgerichtet im klinischen Alltag zu beurteilen.
Das Werk empfiehlt sich explizit nicht nur für Ärztinnen und Ärzte in Klinik und Praxis, sondern auch für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, SPZ-Teams sowie Mitarbeitende in Sanitätshäusern. Besonders wertvoll sind die zahlreichen Hinweise auf vertiefende Literatur, weiterführende Lehrbücher und aktuelle Studien. Die umfangreiche, nach Kapiteln gegliederte Literaturliste hebt sich trotz ihres Umfangs wohltuend von vergleichbaren Titeln ab und schafft einen robusten Ausgangspunkt für weitergehende wissenschaftliche Recherche.Kritisch anzumerken bleibt dennoch, dass die Fülle der Themen naturgemäß Grenzen in der Tiefe setzt. Einzelne, komplexere Fragestellungen können daher nur angerissen werden. Für Spezialistinnen und Spezialisten und sehr erfahrene Kolleginnen und Kollegen könnte daher mitunter ein stärkerer Fokus auf neuere evidenzbasierte Entwicklungen und differenzierte Kontroversen noch gewinnbringender sein. Ein weiteres Entwicklungspotenzial besteht im Ausbau von digitalen Ergänzungen oder interaktiven Materialien, die gerade in der modernen Lehre und klinischen Fortbildung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt ist die konsequente Einhaltung wissenschaftlicher Standards im Werk löblich. Die Autorinnen und Autoren legen Wert auf Transparenz, zitieren relevante Leitlinien und fördern damit eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung. Der höfliche und respektvolle Ton gegenüber anderen Professionen macht das Buch zudem zu einer inklusiven Ressource für alle, die im multiprofessionellen Kontext tätig sind.
„Kinderorthopädie und Neuroorthopädie verstehen“ überzeugt als praxisnahes Kompendium, das die Vorteile multiprofessioneller Zusammenarbeit eindrucksvoll vorlebt; es bietet einen schnellen Zugang zu wichtigen Themen und bleibt dennoch wissenschaftlich sauber gearbeitet. Die Struktur fordert anfangs etwas Einarbeitung, belohnt dies jedoch mit einer beeindruckenden Übersichtlichkeit im Arbeitsalltag. Für Studierende, Berufsanfänger und alle Praktiker, die sich im Bereich der Kinder- und Neuroorthopädie weiterbilden möchten, ist das Werk uneingeschränkt zu empfehlen. Insgesamt ein bereicherndes Buch, das die interdisziplinäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen evidenzbasiert unterstützt – dabei aber auch Raum für die Weiterentwicklung der eigenen fachlichen Perspektiven lässt.
Prof. Dr. med. Frank Braatz
