OT: Bis zu 250.000 unbesetzte Stellen im Handwerk soll es nach Angaben des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks 2022 gegeben haben. Warum will sich niemand mehr die Hände schmutzig machen?
Olesja Mouelhi-Ort: Das hat zum Teil damit zu tun, dass die berufliche Bildung gegenüber der akademischen Bildung nach wie vor nicht als gleichwertig in der Gesellschaft angesehen wird. Ein Studium gilt als erstrebenswerter. Das hat natürlich Einfluss auf die Wahl der Karrierewege. Zudem hat das Handwerk oft mit einem negativen Image zu kämpfen. Dabei wird übersehen, wie modern und digitalisiert die Branche ist. Auch die Bedeutung des Handwerks als Umsetzer der Energiewende ist in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend bekannt. Egal ob Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, nachhaltiges Bauen oder Smart Home: All diese Themen lassen sich nur mit genügend Handwerker:innen bewältigen. Wer etwas für das Klima tun will, der ist im Handwerk genau richtig. Diese Botschaft müssen wir noch viel stärker in die Öffentlichkeit tragen.
OT: Die Zahl der benötigten Fachkräfte steigt. Wie nehmen Sie die Entwicklung in den vergangenen Jahren wahr?
Mouelhi-Ort: Mehr als die Hälfte der Handwerksunternehmen im Kammerbezirk Dortmund ist derzeit auf der Suche nach qualifiziertem Personal. Laut der HWK-Konjunkturumfrage im Herbst 2022 findet fast jeder zweite Betrieb trotz Bemühungen keine geeigneten Mitarbeiter:innen und weitere 20 Prozent müssen mit erhöhtem Aufwand längere Zeit suchen. Diese Entwicklung bekommen auch die Kund:innen zu spüren, denn viele Handwerker:innen sind auf Monate ausgebucht oder müssen Aufträge ablehnen, weil Mitarbeiter:innen fehlen. Diese Situation wird sich noch zuspitzen, da aufgrund der Berufsaustritte der geburtenstarken Jahrgänge in die Rente künftig mehr Erwerbstätige benötigt werden, als Nachwuchs zur Verfügung steht. Zusätzlich haben sich in den vergangenen Jahren zugunsten eines Studiums zu wenige junge Menschen für eine Ausbildung im Handwerk entschieden. Eine brisante Entwicklung, denn der Fachkräftemangel gefährdet auch den Betriebsbestand im Handwerk: Fast ein Viertel aller Betriebe im Kammerbezirk Dortmund muss in den nächsten Jahren übergeben werden. Viele haben deutliche Probleme, geeignete Nachfolger:innen zu finden. Um die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Handwerksbetriebe in der Region zu sichern, ist ein Umdenken in Politik, Gesellschaft und auch Handwerk gefragt.
OT: Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe für den Fachkräftemangel im Handwerk?
Mouelhi-Ort: Ein Grund für diese Entwicklung ist der demographische Wandel. Während der Anteil der älteren Menschen in Deutschland steigt, nimmt die Zahl der Jugendlichen und damit derer, die eine Ausbildung beginnen können, immer mehr ab. Als Folge müssen Betriebe immer stärker um den weniger werdenden Berufsnachwuchs werben. Zusätzlich haben sich, wie bereits angesprochen, zu wenige junge Menschen für eine Ausbildung im Handwerk entschieden. Auch sind viele Jugendliche nicht ausreichend über die guten Karriereperspektiven im Handwerk – und seinen Nachhaltigkeitscharakter – aufgeklärt. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, wie der Ausfall von Infoveranstaltungen und Karrieremessen sowie eine große Unsicherheit bei den Schüler:innen, haben dazu beigetragen, dass weniger Jugendliche in den vergangenen Jahren eine Ausbildung begonnen haben.
Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung als Ziel
OT: Was muss sich für eine Trendwende ändern?
Mouelhi-Ort: Wir brauchen zum Beispiel eine intensivierte Berufsorientierung an allen Schulformen, damit junge Menschen die guten Karriereperspektiven im Handwerk kennenlernen können und verstehen, dass man nicht nur mit einem Studium Erfolg haben kann. Im Bereich der Bildung ist die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung das oberste Ziel der Handwerksorganisation. Dazu gehört eine Attraktivitätssteigerung der dualen Bildung – zum Beispiel durch Veränderungen im öffentlichen Tarifrecht, beim Azubi-Ticket, beim Azubi-Wohnen sowie bei der Förderung der Aufstiegsfortbildung. Auch die Bildungszentren des Handwerks müssen modernisiert und damit gesichert sowie gestärkt werden. Ohne eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und hohe Wertschätzung wird die berufliche Bildung weiter an Bedeutung verlieren. Dafür braucht es mehr Informations- und Aufklärungskampagnen.
OT: Inwiefern haben es Betriebe selbst in der Hand, Nachwuchs zu akquirieren?
Mouelhi-Ort: Eine wichtige Möglichkeit zur Nachwuchsgewinnung ist eine gute Präsenz in den digitalen Medien. Das heißt die Nutzung von z. B. Instagram oder Tiktok, aber auch eine übersichtliche und aktuelle Homepage mit relevanten Informationen rund um den Betrieb und die Ausbildung. Mit Hilfe kurzer Videos kann man Auszubildende aus dem Betrieb und den Beruf auf den verschiedenen Plattformen vorstellen und so in den direkten Austausch mit jungen Menschen kommen. Außerdem braucht es gute Rahmen- und Arbeitsbedingungen im Betrieb. Dazu gehören eine gute Ausstattung, die Möglichkeit für Weiterbildungen oder flexible Arbeitszeitmodelle. Das alles muss selbstverständlich mit dem betrieblichen Ablauf zusammenpassen. Klar ist auch, dass Betriebe ihre Zielgruppen erweitern, z. B. Frauen, Quereinsteiger:innen oder Fachkräfte aus dem Ausland. Den Zielgruppen entsprechend müssen dann auch die Ansprache und das Angebot angepasst werden.
OT: Apropos Fachkräfte aus dem Ausland: Welche Voraussetzungen müssen Betriebe und Politik schaffen, damit die Integration in das Handwerk gelingt?
Mouelhi-Ort: Zuwanderungen können den anwachsenden Fachkräftebedarf zumindest teilweise und dabei zugleich auch relativ zeitnah decken. Allerdings besteht an einigen Stellen noch Optimierungsbedarf. Die Verfahren zur Zuwanderung ausländischer Fachkräfte müssen beschleunigt werden. Dazu bedarf es einer Verkürzung der Beantragungsfristen und Beschleunigung der Bearbeitung von Visaanträgen vor allem an den migrationspolitisch relevanten deutschen Auslandsvertretungen. Weil viele verschiedene Akteure am Integrationsprozess beteiligt sind, empfiehlt es sich zudem, regionale Netzwerke zu organisieren. Auch im Bereich der Integration lohnt es sich, den Zuwanderungsprozess wie beschrieben bürokratieärmer zu gestalten, denn mit seinem ganzheitlichen Ausbildungsansatz bietet das Handwerk Geflüchteten nicht nur eine langfristige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch die Grundlage für Aufstiegsfortbildungen und entsprechende Karrierewege – bis hin zur Selbstständigkeit als Unternehmer:in.
Zielgruppen direkt ansprechen
OT: Wie unterstützt die Handwerkskammer Dortmund Betriebe dabei, junge Menschen für das Handwerk zu gewinnen und auch dort zu halten?
Mouelhi-Ort: Wir bieten eine breit gefächerte Beratung für Unternehmen und Schüler:innen an, in deren Rahmen wir potentielle Auszubildende an Unternehmen vermitteln. Dazu führen wir unter anderem verschiedene Projekte zur Ausbildungsstellenvermittlung sowie zur Beratung von Unternehmen zur Besetzung freier Lehrstellen durch. Darüber hinaus halten die Mitarbeiter:innen unserer Ausbildungsberatung Kontakt zu wichtigen Netzwerken rund um die Berufsbildung in unserer Region. Dazu gehört auch die Teilnahme an Job- und Ausbildungsmessen, um das Handwerk und die damit verbundenen Karrierechancen zu präsentieren. Außerdem beteiligen wir uns an Veranstaltungen wie den Azubi-Speed-Datings, bei denen Jugendliche verschiedene Arbeitgeber kennenlernen und Kontakte knüpfen können. Darüber hinaus werden unterschiedliche Fokusgruppen, wie z. B. Studienabbrecher:innen oder auch junge Frauen, direkt angesprochen. Dafür hat die HWK Anfang März 2022 die Kampagne „Starke Frauen. Starkes Handwerk.“ ins Leben gerufen.
OT: 2023 vergibt die HWK erneut das Ausbildungssiegel. Inwiefern soll die Vergabe dazu beitragen neue Fachkräfte zu gewinnen?
Mouelhi-Ort: Geehrt werden Betriebe, die sich in vorbildlicher Weise für die Ausbildung und Gewinnung neuer Fachkräfte engagieren. Damit sollen sie bestärkt werden, auch weiterhin gut auszubilden. Aktuell bekommen rund 30 Betriebe pro Jahr das Ausbildungssiegel, das für drei Jahre befristet ist, verliehen. Mit der Auszeichnung können Betriebe für ihre zu vergebenen Ausbildungsplätze werben und sich somit besser positionieren. Es soll auch ein Ansporn für andere Betriebe sein, sich darauf zu bewerben.
OT: Wie gehen Sie bei der Auswahl vor?
Mouelhi-Ort: Das erste Kriterium ist das Motivationsschreiben, anschließend erfolgt ein persönliches Interview. Das Siegel bekommen Ausbildungsbetriebe, die über das normale Maß hinaus ausbilden und ihren Auszubildenden Zusatzangebote während der Ausbildung ermöglichen, wie Auslandsaufenthalte, Mitgliedschaft in einem Sportstudio oder soziales Engagement. Auch die Bereitschaft, in der Ausbildung neue Wege zu gehen, wird belohnt. Dazu kann z. B. das Angebot einer Teilzeitausbildung gehören.
OT: Welche Kriterien definieren Sie für eine gute Ausbildung?
Mouelhi-Ort: Dazu zählen Folgende: Ausbildung vielseitig und ansprechend gestalten, Übernahme nach der Ausbildung, individuelle Betreuung und Beratung von Auszubildenden, z. B. durch Zielvereinbarungs‑, Beurteilungs- und Feedbackgespräche, Anregungen zum selbstständigen Denken schaffen, sprich Hilfe zur Selbsthilfe, wertschätzender, respektvoller und vertrauensvoller Umgang miteinander, ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, Vermittlung der Ausbildungsinhalte nach aktuellem Stand, da insbesondere digitale Aufgaben zunehmen, Kompetenz(-entwicklung) der Ausbilder:innen, z. B. im Sinne der Digitalisierung, Transformation, Didaktik und Methodik, gerechte Entlohnung und damit ggf. die Einhaltung der Tarifregelungen, Erstellen eines betrieblichen Ausbildungsplans, um die Ausbildung zu strukturieren und klar zu gliedern, Zusatzangebote zur Motivation der Auszubildenden, pädagogische Begleitung der Auszubildenden nach dem Prinzip des Förderns und des Forderns sowie Unterstützung bei den Prüfungsvorbereitungen.
Work-Life-Balance im Fokus
OT: Womit lassen sich junge Menschen in der heutigen Zeit überzeugen?
Mouelhi-Ort: Darauf kann man nicht pauschal antworten, da es nicht „die“ jungen Menschen gibt. Jede und jeder legt andere Schwerpunkte. Trotzdem lässt sich festhalten, dass man potenzielle Fachkräfte durch Sinngebung, Beteiligung, gute Kommunikation, interessante Aufgaben und eine angenehme Atmosphäre im Betrieb erreichen und halten kann. Die sogenannte Work-Life-Balance rückt mehr und mehr in den Fokus. Dazu gehören flexible Arbeitszeitmodelle und auch der Aspekt, dass ein Job Sinn stiften und Platz zur Entfaltung bieten sollte. Genau diese Aspekte finden im Handwerk Berücksichtigung, da es sich häufig um familiengeführte Betriebe handelt, die es Mitarbeiter:innen ermöglichen, Job und Privatleben in Einklang zu bringen. Darüber hinaus ist die Auftragslage im Handwerk gut und es bieten sich sichere Zukunftsperspektiven.
OT: Mit 15 oder 16 Jahren in die berufliche Ausbildung zu starten, ist nicht mehr selbstverständlich. Was raten Sie Betrieben, wenn sich fachfremde Berufserfahrene um den Einstieg in das Gewerk bemühen und sich um einen Ausbildungsplatz bewerben?
Mouelhi-Ort: In erster Linie geht es darum, offen gegenüber den Interessierten zu sein. Dazu gehört es, Wege und Chancen aufzuzeigen, wie sich die Interessierten einbringen und ihren Weg ins Handwerk finden können. Denn wenn jemand motiviert ist, sollten ihr oder ihm alle Wege geebnet werden. Dazu gehört z. B., dass ein Einstieg in eine Ausbildung im Handwerk mittlerweile nicht mehr nur zum Stichtag am 1. August möglich ist, sondern auch in den Monaten danach. Gerade für Kurzentschlossene und noch unentschlossene junge Menschen ist das eine gute Möglichkeit, in das Berufsleben einzusteigen.
OT: Mit Blick auf die Zukunft: Wird dem Handwerk der Wandel gelingen?
Mouelhi-Ort: Es liegen weiterhin viele Herausforderungen vor uns und wir werden nicht alle innerhalb weniger Monate bewältigen können. Noch sind die zahlreichen Krisen nicht überwunden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir gute Lösungen finden werden. Das Handwerk hat sich schon immer als sehr anpassungsfähig erwiesen und wird auch die großen Transformationsprozesse der kommenden Jahre meistern.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Interessierte Betriebe können sich noch bis zum 28. Februar 2023 für das Ausbildungssiegel 2023 bis 2026 bewerben. Weitere Informationen sind auf der Website der HWK Dortmund zu finden.
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