Inter­pro­fes­sio­nel­le Zusam­men­ar­beit gefragt

Kompressionsversorgung bei Adipositas-assoziierten Lymphödemen: Bandagistenmeisterin Christine Hemmann-Moll über individuelle Lösungen, interdisziplinäre Zusammenarbeit und neue Materialentwicklungen.

Laut der Deut­schen Adi­po­si­tas-Gesell­schaft (DAG) sind in Deutsch­land rund zwei Drit­tel der Män­ner und die Hälf­te der Frau­en über­ge­wich­tig, ein Vier­tel der Erwach­se­nen gilt als stark über­ge­wich­tig – Ten­denz stei­gend. Damit ein­her­ge­hend steigt auch die Zahl von Pati­en­ten mit Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­ten Lymph­öde­men sowie der Bedarf an geeig­ne­ter Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung. Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on beleuch­tet Ban­da­gis­ten­meis­te­rin Chris­ti­ne Hem­mann-Moll aktu­el­le For­schungs­er­geb­nis­se und spricht über die Bedeu­tung indi­vi­du­ell ange­pass­ter Ver­sor­gun­gen sowie die Not­wen­dig­keit einer inter­pro­fes­sio­nel­len Zusammenarbeit.

Frau Hem­mann-Moll, Sie sind seit 1985 als Ban­da­gis­ten­meis­te­rin tätig. Wie hat sich die Ver­sor­gungs­si­tua­ti­on adi­pö­ser Pati­en­ten mit Lymph­ödemen in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten verändert?
Chris­ti­ne Hem­mann-Moll: Die Kom­pres­si­ons­be­hand­lung von Lymph­öde­men hat an Bedeu­tung gewon­nen. Pati­en­ten mit onko­lo­gi­schen Erkran­kun­gen pro­fi­tie­ren von ver­bes­ser­ten The­ra­pien und leben län­ger. Damit bil­det sich auch bei Ödem­pa­ti­en­ten die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung ab, das bedeu­tet mehr adi­pö­se Men­schen. In Deutsch­land ist Adi­po­si­tas seit 2020 offi­zi­ell als Krank­heit aner­kannt und das Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­te Lymph­ödem sym­pto­ma­tisch. Ver­mehr­te Kom­or­bi­di­tä­ten, mehr Auf­merk­sam­keit und Erkennt­nis­se über Krank­heits­bil­der wie Lipö­dem machen einen immer grö­ßer wer­den­den Pati­en­ten­an­teil aus.

Wel­che Her­aus­for­de­run­gen brin­gen die Erkran­kun­gen für die Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung mit sich?
Vor­aus­set­zung für eine opti­ma­le Bestrump­fung und somit erfolg­rei­che lym­pho­lo­gi­sche Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung von adi­pö­sen Pati­en­ten sind aus­ge­zeich­ne­te Mate­ri­al- und Pro­dukt­kennt­nis­se der Fach­be­ra­ter im Sani­täts­haus. Zudem braucht es Exper­ti­se im Abmes­sen der Umfän­ge und Län­gen bei gro­ßen Weich­teil­über­hän­gen. Eine Wick­lung mit Folie kann das Abmes­sen von sehr wei­chen Gewe­be­an­tei­len erleich­tern. Um Pati­en­ten lym­pho­lo­gisch ver­sor­gen zu dür­fen, sind qua­li­fi­zier­te, von den Kos­ten­trä­gern gefor­der­te Aus­bil­dungs­kur­se zu absol­vie­ren, die in regel­mä­ßi­gen vor­ge­schrie­be­nen Zeit­ab­stän­den erneu­ert wer­den müs­sen. Das Anmes­sen, Ein­wei­sen und Anpro­bie­ren der lym­pho­lo­gi­schen Kom­pres­si­on erfor­dert bei adi­pö­sen Pati­en­ten mit oft­mals ein­ge­schränk­ter Mobi­li­tät einen wesent­li­chen höhe­ren Zeit­auf­wand und geeig­ne­te Räum­lich­kei­ten, die genü­gend Platz bieten.

Tiefe Gewebefalten und -überhänge müssen bei der Versorgung berücksichtigt werden. Foto: Juzo
Tie­fe Gewe­be­fal­ten und ‑über­hän­ge müs­sen bei der Ver­sor­gung berück­sich­tigt wer­den. Foto: Juzo

Gibt es beim Mes­sen und Anpas­sen wei­te­re Beson­der­hei­ten, auf die geach­tet wer­den muss?
Gene­rell soll­te dar­auf geach­tet wer­den, dass an ent­stau­ten Extre­mi­tä­ten die Kör­per­ma­ße genom­men wer­den. In die­sem Zusam­men­hang ist eine enge inter­pro­fes­sio­nel­le Zusam­men­ar­beit mit den behan­deln­den Lymph­the­ra­peu­ten von ele­men­ta­rer Bedeu­tung, um zum rich­ti­gen Zeit­punkt den Pati­en­ten ver­mes­sen zu können.

In der rei­nen Leh­re gilt es, die Kör­per­ma­ße der ent­stau­ten Extre­mi­tät im Lie­gen zu neh­men, um eine Zunah­me des Ödem­vo­lu­mens beim Ste­hen ohne Kom­pres­si­on zu ver­mei­den – zum Bei­spiel bei pri­mä­ren Lymph­öde­men oder bei mas­si­ven sekun­dä­ren Lymph­öde­men. Bei adi­pö­sen Pati­en­ten ergibt es Sinn, die Maße im Ste­hen bezie­hungs­wei­se im Sit­zen zu neh­men, da bin­de­ge­web­i­ge Über­hän­ge und Posi­ti­ons­ver­än­de­run­gen der Gewe­be­fal­ten berück­sich­tigt wer­den müs­sen und gege­be­nen­falls die Län­gen­ma­ße ange­passt wer­den kön­nen. Sehr häu­fig wird durch zu viel Umfangs­re­duk­ti­on beim Mes­sen die Kom­pres­si­on zu eng gefer­tigt. Das führt zu einer pro­xi­ma­len Ver­schie­bung der wei­chen Gewe­be­an­tei­le beim Anzie­hen der Kom­pres­si­on. Bei Bewe­gung wer­den der Strumpf oder die Hose nach unten rut­schen und even­tu­ell vor­han­de­ne Haft­rän­der umklap­pen, da wei­che Gewe­be­sä­cke der Schwer­kraft fol­gen und vom Gestrick nicht gehal­ten wer­den kön­nen. Außer­dem sind eine sorg­fäl­ti­ge Inspek­ti­on und Pal­pa­ti­on der Gewe­be­si­tua­ti­on und der Haut­fal­ten wich­tig, um auf Inter­t­ri­go und Myko­sen reagie­ren zu können.

Vie­le adi­pö­se Pati­en­ten haben ­Dia­be­tes, eine peri­phe­re arte­ri­el­le Ver­schluss­krank­heit (pAVK) oder kar­dio­vas­ku­lä­re Erkran­kun­gen. ­Inwie­fern beein­flus­sen die­se Be­gleiterkrankungen die Versorgung?
Bei Kom­or­bi­di­tä­ten gibt es eine Viel­zahl von Publi­ka­tio­nen, die bestä­ti­gen, dass gege­be­nen­falls unter eng­maschiger medi­zi­ni­scher Kon­trol­le Pati­en­ten von Kom­pres­si­on pro­fi­tie­ren. In vie­len Fäl­len kann zumin­dest mit der Kom­pres­si­ons­klas­se (CCL) 1 ver­sorgt wer­den. Wich­ti­ge Wirk­me­cha­nis­men in die­sem Zusam­men­hang sind Ver­bes­se­rung der Mikro­zir­ku­la­ti­on, Ver­bes­se­rung des venös-lympha­ti­schen Abs­troms und – falls vor­han­den – Reduk­ti­on der inflamm­a­to­ri­schen Media­to­ren. Bei der Wahl der Kom­pres­si­on soll­te auf geeig­ne­te Materia­lien, wei­che Näh­te oder „nach außen“ ver­ar­bei­te­te Näh­te geach­tet wer­den. Flach­ge­strick­te Kom­pres­si­ons­ver­sor­gun­gen gewähr­leis­ten durch ihre Mate­ri­al­stär­ke und die Strick­tech­nik einen nied­ri­gen Ruhe­druck und ver­hin­dern somit bei kor­rek­ter Pass­form ein Ein­schnei­den in wei­che Gewe­be­an­tei­le und Haut­fal­ten. Bei peri­phe­rer Neu­ro­pa­thie mit Sen­si­bi­li­täts­stö­run­gen soll­te der Pati­ent regel­mä­ßig die Füße plant­ar und inter­di­gi­tal kon­trol­lie­ren, um früh­zei­tig Haut­rei­zun­gen oder Druck­stel­len zu erken­nen. Bei einer pAVK ist der Knö­chel-Arm-Index ein gutes Ent­schei­dungs­kri­te­ri­um, die­ser soll­te bei einer CCL 2 zwi­schen 0,7 und 0,9 sein, bei einem Wert von 0,6 bis 0,7 ist
CCL 1 mög­lich. Dies sind all­ge­mei­ne Erfah­rungs­wer­te, die immer kli­nisch über­prüft wer­den müssen.

Wel­che Arten von Kompressions­versorgungen sind für die Pati­en­ten beson­ders geeignet?
Mehr­tei­li­ge Kom­pres­si­ons­ver­sor­gun­gen bie­ten eine indi­vi­du­el­le Lösungs­viel­falt für Pati­en­ten mit unter­schied­li­chen Bedürf­nis­sen: Egal, ob leich­te­res Anle­gen und Aus­zie­hen, eine Varia­ti­on der Kom­pres­si­ons­klas­sen oder die Inte­gra­ti­on tages­ab­hän­gi­ger Fak­to­ren – Mehr­tei­ler las­sen sich jeder Situa­ti­on anpas­sen. Je nach Bedarf kön­nen so etwa im Som­mer bei extrem hohen Tem­pe­ra­tu­ren nur Strümp­fe getra­gen wer­den. Die meis­ten Her­stel­ler berech­nen bei der Über­lap­pung zwei­tei­li­ger Kom­pres­si­on mehr Quer­deh­nung, sodass kei­ne Druck­erhöhung in den jewei­li­gen Berei­chen ent­steht. Durch indi­vi­du­el­le Mess­tech­ni­ken eröff­net sich hier ein brei­tes Gestal­tungs­feld, um loka­le Öde­me, wie sie bei Adi­po­si­tas Grad III auf­tre­ten kön­nen, posi­tiv zu beein­flus­sen. Aus der prak­ti­schen Erfah­rung der ver­gan­ge­nen Jah­re hat sich gezeigt, dass ein „Zuviel“ an Fes­tig­keit und Druck sich eher nach­tei­lig aus­wirkt. Viel­mehr gilt es, Pati­en­ten in ihrer Mobi­li­tät zu unter­stüt­zen, Bewe­gung zu för­dern und damit eine Ödem­pro­gre­di­enz zu ver­mei­den. Das kann nur gelin­gen, wenn die Kom­pres­si­on akzep­tiert und getra­gen wird.

In der Ent­stau­ungs­pha­se kom­men jetzt immer häu­fi­ger medi­zi­nisch adap­ti­ve Kom­pres­si­ons­sys­te­me (MAK) zum Ein­satz, die eben­falls im Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis gelis­tet sind. Die­se sind durch Klett­ver­schlüs­se jus­tier­bar und wer­den mit einer Druck­wertspan­ne von 20 bis 60 Mil­li­me­ter Queck­sil­ber­säu­le (mmHg) ange­bo­ten. MAKs erleich­tern den Ein­stieg in die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie bei adi­pö­sen Pati­en­ten, spe­zi­ell wenn zusätz­lich Wun­den vor­han­den und zu behan­deln sind.

Mehrteiler eignen sich besonders, da sie sich jeder Situation anpassen lassen. Foto: Juzo
Mehr­tei­ler eig­nen sich beson­ders, da sie sich jeder Situa­ti­on anpas­sen las­sen. Foto: Juzo

Wel­che For­schungs­er­geb­nis­se im Bereich der Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung bewer­ten Sie mit Blick auf die ver­gan­ge­nen Jah­re als beson­ders wert­voll und wegweisend?
Wich­ti­ge Erkennt­nis­se erge­ben sich aus Stu­di­en, die bele­gen, dass ein hoher Kom­pres­si­ons­druck nicht immer zwangs­läu­fig zu einem bes­se­ren Ergeb­nis führt. Die Bedeu­tung der Mus­kel­ak­ti­vi­tät und Bewe­gung sind für die Ent­stau­ung wich­ti­ge Fak­to­ren. Das bedeu­tet, wir brau­chen Kom­pres­si­on, die die Pati­en­ten in ihrer Mobi­li­tät unter­stützt, Bewe­gung zulässt und trotz­dem die erwünsch­te Wir­kung auf das Ödem gewähr­leis­tet. So viel wie nötig – so wenig wie möglich!

In der Ent­stau­ungs­the­ra­pie sind der Ein­satz und die Wei­ter­ent­wick­lung von MAKs ein wich­ti­ge Bau­stei­ne, denn sie bie­ten eine wesent­li­che Ent­las­tung für die Pati­en­ten im ambu­lan­ten Bereich. Vie­le Pati­en­ten set­zen die Seg­men­te noch wei­ter in der Erhal­tungs­pha­se ein und haben somit ein nach­hal­ti­ges Tool, um schnell auf Ödem­ver­än­de­run­gen reagie­ren zu kön­nen. Die­se kön­nen gege­be­nen­falls mit der Kom­pres­si­ons­be­strump­fung kom­bi­niert wer­den und unter­stüt­zen die Pati­en­ten beim Selbstmanagement.

Was hat sich mit Blick auf das Mate­ri­al getan?
Die pati­en­ten­ge­rech­te Aus­wahl des Kom­pres­si­ons­ma­te­ri­als und der ‑klas­se soll mit dem Fokus erfol­gen, die Wirk­sam­keit durch regel­mä­ßi­ges Tra­gen bei guter Adhä­renz zu opti­mie­ren. Die Mög­lich­keit, im flach­ge­strick­ten Bereich mehr­tei­lig ver­sor­gen zu kön­nen, erlaubt vie­len Pati­en­ten, die sonst kei­ne Kom­pres­si­on tra­gen könn­ten, eine wir­kungs­vol­le Kom­pres­si­ons­the­ra­pie und gewähr­leis­tet somit den Grund­pfei­ler der Ödem­be­hand­lung bei größt­mög­li­cher Selbstständigkeit.

Bei der Kom­pres­si­ons­be­strump­fung hat sich eini­ges bei den Mate­ria­li­en in punc­to Tra­ge­ei­gen­schaft wie Funk­ti­ons­zo­nen und Atmungs­ak­ti­vi­tät wei­ter­ent­wi­ckelt. Im Rund­strick­be­reich erleich­tert eine inno­va­ti­ve Strick­tech­nik im Rist­be­reich das Anle­gen der Kom­pres­si­ons­strümp­fe merk­lich und hat vie­le Fans bei älte­ren Pati­en­ten, assis­tie­ren­den Ange­hö­ri­gen und Pfle­gen­den und ist somit ein rich­ti­ger „Game-Chan­ger“.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

Zur Per­son
Chris­ti­ne Hem­mann-Moll ist gelern­te Ban­da­gis­ten­meis­te­rin und Betriebs­wir­tin. 15 Jah­re hat­te sie die Lei­tung eines Sani­täts­hau­ses inne. Seit 2001 ist sie als selbst­stän­di­ge Trai­ne­rin für lei­ten­de Mit­ar­bei­ten­de und Füh­rungs­kräf­te tätig. Hem­mann-Moll hält regel­mä­ßig Vor­trä­ge auf Fach­ver­an­stal­tun­gen und Sym­po­si­en rund um die The­men Lym­pho­lo­gie und Kompression. 

 

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