Einleitung
Die Inhalte dieses Artikels basieren auf der Erfahrung aus über 26 Jahren Versorgungsalltag in der Kinderorthopädie. In dieser Zeit hat sich vieles verändert – nicht nur beim Versorgungsverständnis, sondern auch in der Zusammenarbeit der beteiligten Professionen. Der Verfasser ist bereits seit seiner Ausbildung in einen breiten fachlichen Austausch zwischen Ärzten, Therapeuten und Technikern eingebunden. Eine interdisziplinäre Versorgungsplanung war daher von Anfang an das Fundament jeglicher Patientenbetrachtung (Abb. 1).
Interdisziplinäre Versorgung im Team
Das Konzept der interdisziplinären Hilfsmittelsprechstunden ist inzwischen zum bewährten Standard in Sozialpädiatrischen Zentren oder Kliniken mit Hilfsmittelschwerpunkten geworden. Dabei begegnen sich alle Beteiligten auf Augenhöhe und lassen die fachspezifischen Belange in die Konzeption einfließen. Versorgungen auf diese Art zu konzipieren bedeutet zwar anfangs mehr Arbeit durch die notwendigen Abstimmungen – im zweiten Schritt führt es aber zu einem deutlich vereinfachten Versorgungsablauf sowie zu einer verbesserten Nachhaltigkeit durch gegenseitige Erfolgskontrolle.
Ein solches Team vermag die Auslöser für die zumeist komplexen Fehlhaltungen aus verschiedenen Perspektiven zu beurteilen. Der fachliche Austausch findet im Beisein der Eltern und Patienten statt, sodass diese die Hintergründe der Entscheidungen besser nachvollziehen können. Das erhöht nicht nur die Compliance, sondern führt auch dazu, dass bereits im Vorfeld mögliche Probleme auffallen und so teure Fehlversorgungen vermieden werden können.
Teamwork bedeutet darüber hinaus, genaue Absprachen zu treffen, wer zu welchem Zeitpunkt welche Aufgaben übernimmt. Beim Erreichen eines Zwischenziels ergibt sich eine neue Statussituation, und der Kreislauf beginnt erneut (Abb. 2).
Zusammenarbeit zwischen Orthopädie- Technikern und Orthopädie-Schuhtechnikern
Die Teamarbeit zwischen Orthopädie-Technikern und Orthopädie-Schuhtechnikern unterliegt besonderen Herausforderungen. Zwar sind die Zeiten überwunden, in denen der Orthopädie-Techniker bei der Statuserhebung nur die großen Achsfehlstellungen (Sprunggelenke, Knie, Hüfte, Rumpf) in den Blick nahm, während der Orthopädie-Schuhtechniker sich auf den Bereich bis zum Knie beschränkte.
Dennoch kann es weiterhin zu Interessenkonflikten zwischen den Professionen kommen. Um diese zu umgehen, sollte das Produktportfolio des beratenden Technikers (unabhängig von der Profession) weitreichend sein. Betrachtet man die Entwicklung der letzten 20 Jahre, so stellt man fest, dass die Übergänge bei der fachlichen Zuordnung vieler Produkte inzwischen ohnehin fließend sind – sowohl Materialien als auch Produktionstechniken gleichen sich immer mehr an. Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik beschreiten dabei häufig ähnliche Wege.
Fragen wie die folgenden sind geeignet, eine interdisziplinäre Sichtweise zwischen OT und OST zu forcieren:
- Welche Fähigkeiten muss der jeweilige Techniker haben, um eine adäquate Statuserhebung durchzuführen?
- Ist es zwingend notwendig, dass er das betreffende Hilfsmittel selbst von A bis Z produzieren kann?
- Welche Rolle spielt eine fundierte Kenntnis der funktionellen Wirkungen gegenüber den zur Herstellung notwendigen Fertigkeiten?
- Wie stellt man beispielsweise fest, ob der zur Zeit genutzte Rollator in Kombination mit dem orthetischen Hilfsmittel noch funktioniert und ob die Breite des Rolli-Fußbrettes noch ausreicht?
- Wie kann eine Beinlängendifferenz ausgeglichen werden (teils im Schuh, teils im Stehständer)?
- Wer legt fest, ob der Schuhtechniker seine Leisten nicht auch als Gipsmodell erstellen darf, um darüber eine DAFO („Dynamic Ankle Foot Orthosis”) in PP-Technik zu produzieren? Oder ob der Orthopädie-Techniker nicht auch eine adäquate Diabetesbettung bauen kann?
Kurzum: Wo endet die Orthopädie-Schuhtechnik und wo beginnt die Orthopädie-Technik? Eine Kombination verschiedener Herstellungsabläufe kann ebenso hilfreich wie kosteneffizient sein. Beide Bereiche können dabei voneinander profitieren und die Erfahrungen im Sinne der kleinen Patienten positiv umsetzen.
Damit dieses Ziel erreicht werden kann, bedarf es einer Kombination der einzelnen Berufssparten innerhalb eines Betriebs. Hierdurch ergibt sich die Möglichkeit, von vornherein fachübergreifend zu beraten. Leitend für die Festlegung des Hilfsmittels ist nun alleine die funktionelle Anforderung des kleinen Patienten. Bei allen Anforderungen bezüglich Kontrakturprophylaxe, Schmerzreduktion, Gangstreckenverlängerung etc. steht eines im Vordergrund: die Verbesserung der Lebensqualität unserer gehandicapten Mitmenschen.
Eigene Erfahrungen
Im Betrieb des Verfassers wird traditionell eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Professionen gepflegt. Teamarbeit bedeutet dabei, dass jeder seine Stärken ausspielen und gleichzeitig von den Fähigkeiten seines Kollegen profitieren kann, und zwar unabhängig vom Ausbildungsberuf.
Um auch die Wege zu verkürzen und die Produktionsabläufe einfacher zu koordinieren, wurde schließlich eine gemeinschaftliche Pädiatrie-Werkstatt eingerichtet, in der alle Kollegen in engem Kontakt zum Außendienst geeignete Hilfsmittel für die kleinen Patienten herstellen. Dadurch kann den komplexen Anforderungen und Besonderheiten dieser Klientel Sorge getragen werden. Mit dieser Vorgehensweise wurde erreicht, dass die Fehlerquote trotz durchschnittlich etwa 4.500 Fällen pro Jahr auf unter 3 % herabgesetzt werden konnte.
Worauf ist das zurückzuführen?
Die Kollegen der OST haben naturgemäß einen größeren Erfahrungsschatz bei der Korrektur der Füße und in der Herstellung von Leisten, zudem in der Verarbeitung von Leder und der Fertigung von Innenschuhschäften. Sie sind insofern erste Anlaufstelle bei allem, was Versorgungen mit Fußeinschluss betrifft. Die Produktion von gegossenen, gezogenen und offen laminierten Hilfsmitteln sowie die Verarbeitung von Gelenkschienen wird hingegen hauptsächlich von Kollegen der OT abgewickelt. Je nachdem, welche Anforderungen an das Endprodukt gestellt werden, wird es in unterschiedliche Produktionsschienen geleitet. Erfahrungen bzgl. Produktionsabläufen, Materialverarbeitung oder Produktneuerungen werden nun auf breiter Ebene im gesamten Werkstattbereich ausgetauscht. Es kommt zu einem natürlichen Miteinander mit gegenseitiger Akzeptanz und gegenseitigem Respekt.
Der Bereich der sensomotorischen Einlagen dagegen wird im Betrieb des Verfassers vielfach von Physiotherapeuten betreut, die den Kunden zusätzlich zur Einlagenversorgung Tipps zur Aktivierung der insuffizienten Muskulatur vermitteln. Häufig lässt sich durch die Bearbeitung der Schuhsohlen eine zusätzliche Gangbildverbesserung erreichen. Dynamisch stabilisierende Rumpforthesen oder Softbraces haben über ihre tonusbeeinflussenden Eigenschaften ebenso Auswirkungen auf die gesamte Körperstatik wie z. B. Handorthesen.
Fallbeispiel 1
Für das nachfolgende Beispiel einer interdisziplinären Versorgung wurden in einer Fachgruppe aus zwei Technikern, zwei Physiotherapeuten, einem Arzt, den Eltern und unter Mithilfe eines sehr pfiffigen und hochmotivierten Patienten verschiedene Versorgungsmöglichkeiten diskutiert. Jan hat eine bilaterale spastische Cerebralparese, GMFCS Level 3, Gangtyp 5 nach Amsterdam Gait Classification, und wird seit seinem zweiten Lebensjahr mit unterschiedlichen Hilfsmitteln betreut.
Jan wurde im Rahmen der Galileo-Therapie betreut und parallel als Demopatient bei einem der Gehen-Verstehen-Kurse im Betrieb des Verfassers vorgestellt. In diesem Zusammenhang wurde die vorhandene Maßschuhversorgung in Frage gestellt: Die Schuhe hatten ein zu hohes Gewicht; eine unterstützende Wirkung zur Streckung der Knie konnte über die vorhandene Versorgung nicht erreicht werden, sodass Jan weiterhin im Kauergang lief. Lange Strecken legte er mit dem Rollstuhl zurück, nur Kurzstrecken und Transfers schaffte er ohne Unterstützung, ansonsten nutzte er Unterarmgehstützen. Jans Wunsch war es, im Schulbereich und in der Freizeit längere Gangstrecken zurücklegen zu können. Die ärztliche Anforderung beinhaltete die kompromissfreie Korrektur der Knickfußfehlstellung.
Nach der Ganganalyse bestand der Ansatz darin, Jan mit dynamischen Unterschenkelorthesen mit tibialer Anlage in eine verbesserte Aufrichtungsposition zu bringen. Hierdurch würde er biomechanisch den Kraftaufwand des Quadrizeps verringern können, um dadurch schließlich längere Gehstrecken zu bewältigen.
Erste Tests mit Toe-off-Orthesen waren vielversprechend. Der „Initial Contact” wechselte von „Foot Flat” auf „Heel”-Kontakt, die Kniestreckung in „Terminal Stance” wurde um ca. 10° verbessert. Allerdings war eine Korrektur der massiven Knickfußposition mit den Toe-off-Orthesen nicht möglich. Daher standen die Versorgungstechniken Spring-Orthese und Neuro-Swing-Orthese zur Auswahl. Aufgrund der Variabilität der OSG-Einstellung wurde Variante 2 gewählt und die Versorgung entsprechend durchgeführt. Jan wurde im Anschluss intensiv therapeutisch betreut. Er erhielt Gangtherapie in der Schule und konnte parallel auf dem Galileo seine Muskelkraft verbessern.
Trotz hoher Motivation seinerseits ist es leider nicht gelungen, die notwendige Gangsicherheit zu erreichen: Die verbesserte Kniestreckung führte zu Ausgleichsbewegungen im Oberkörper, die einen verstärkten Einsatz der Unterarmgehstützen erforderlich machten. Dies wiederum führte dazu, dass Jan seine Hände für Alltagssituationen nicht mehr frei hatte, sodass nach acht Monaten Training in Abstimmung mit dem gesamten Versorgungsteam von einer wachstumsbedingten Neuversorgung Abstand genommen wurde. Jan hat nun Leichtgewichtsmaßschuhe – mit dem Nachteil, dass die Sohle alle zwei Monate erneuert werden muss.
Fallbeispiel 2
Bei diesem Fallbeispiel steht die Produktionskoordination im Vordergrund. Benedict hat eine unilaterale spastische Cerebralparese links. Er wurde wie folgt versorgt: Zur Verbesserung der Fußhebung sowie Kraftgenerierung im „Terminal Stance” erhielt er eine Kiddie-Gait-Orthese links. Der Knickfuß weist inzwischen eine dezente Spitzfußtendenz auf, sodass die integrierte Einlagenversorgung gegen eine kombinierte Versorgung von Kiddie Gait mit einer DAFO ausgetauscht wurde. Die Gegenseite wurde über eine Sondereinlage mit propriozeptiver Wirkung versorgt. Dies erfolgte in Kombination mit einem Paar Orthesenschuhe als Unpaar, das heißt in unterschiedlicher Schuhweite und ‑größe sowie mit einem Verkürzungsausgleich links von 1 cm an Sohle und Absatz. Zur Redression trägt Benedict nachts eine Unterschenkellagerungsorthese.
Normalerweise würde sich der Produktionsablauf wie folgt gestalten: Der orthopädietechnische Betrieb fertigt Kiddie Gait und DAFO, Produktionszeit ca. 14 Tage. Nachdem die Orthesenversorgung geliefert wurde, fertigt der orthopädieschuhtechnische Betrieb die Sondereinlage und tätigt die Schuhbestellung, Dauer hierfür ca. 7 Tage. Anschließend erfolgt die Schuhzurichtung (nochmals ca. 2 Tage). Eventuelle Stellungsänderungen an der Kiddie-Gait-Orthese müssen dann wieder vom Orthopädie-Techniker durchgeführt werden. Der Zeitaufwand für den Kunden durch zusätzliche Termine ist erheblich. Außerdem muss er zwischen den beiden Betrieben pendeln.
In der „Kombiwerkstatt” hingegen verläuft alles Hand in Hand: Die Schuhbestellung erfolgt unmittelbar bei der Auftragsannahme. Direkt nach der kombinierten Anprobe wird die Schuhzurichtung durchgeführt. Die Produktion läuft parallel, und innerhalb von 14 Tagen ist alles fertig. Zeitgewinn für den Patienten: 9 Tage oder 40 %, zuzüglich der Ersparnis durch verringerte Wegezeit.
Fazit
Interdisziplinäre Teamarbeit ist eine wichtige Voraussetzung für eine umfassende und ganzheitliche Hilfsmittelversorgung, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. Dabei geht es nicht nur um neue Materialien oder Produktionstechniken, sondern um eine ganzheitliche Versorgung im Sinne des Kindes. Das Zusammenrücken der Berufsgruppen Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik ist somit als großer Zugewinn nicht nur innerhalb der Leistungserbringer, sondern vor allem für die Patienten zu betrachten. Wir haben in den letzten Jahren viel voneinander gelernt und sollten damit nicht aufhören.
Der Autor:
Gunnar Kandel
Orthopädie-Schuhtechniker
Iltisweg 1–3
D‑53842 Troisdorf
gunnar.kandel@rahm.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kandel G. Versorgungssynergien zwischen Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik. Orthopädie Technik, 2015; 66 (2): 56–58
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