Einleitung
Die Maßnahme der Teilgewichtsbelastung („partial weight bearing“, PWB) als Bestandteil der postoperativen Rehabilitationsroutine für Patienten mit Verletzungen der unteren Extremitäten trägt wesentlich zur Beschleunigung des Heilungsprozesses bei. Unter PWB versteht man die durch den Patienten aktiv ausgeübte Reduktion der Belastung des betroffenen Körperteils auf ein vom Therapeuten vorgegebenes Niveau. Studien haben gezeigt, dass die Mobilisierung mit eingeschränkter Belastung der betroffenen Seite den Heilungsprozess beschleunigt und postoperative Komplikationen reduziert 1 2 3. Dahingegen kann eine vollständige Ruhigstellung oder eine Belastung mit dem vollen Körpergewicht die Erholung verzögern bzw. chirurgische Schäden verursachen 4 5 6 7.
Trotz der Tatsache, dass die PWB-Maßnahme zahlreiche therapeutische Vorteile aufweist, ist ihre Verordnung in der Praxis noch immer nicht der Regelfall. Das liegt unter anderem daran, dass mögliche Bio-Feedback-Geräte zur Kontrolle des PWB-Grenzwertes für eine Nutzung im Alltag sehr kostspielig sind und daher nur selten zum Einsatz kommen. Ein weiterer Grund ist die schlechte Compliance (Einhaltung der Therapieanweisungen) der Patienten mit den vom Therapeuten geforderten Grenzwerten 8. Im Review von Hustedt et al. 9 wurde aufgezeigt, dass die Patienten in den einzelnen Studien nicht in der Lage waren, die geforderten PWB-Grenzwerte mit hinreichender Genauigkeit einzuhalten. Die schlecht Compliance resultiert vermutlich aus der Tatsache, dass Einweisung und Kontrolle der PWB-Maßnahme im medizinischen Umfeld üblicherweise mittels Personenwaagen und/oder verbaler Instruktionen des Therapeuten erfolgen, die teilweise für die Patienten nur schwer nachvollziehbar sind 10 11. Weiterhin ist die Einhaltung der PWB-Grenzwerte ohne akkurates Feedback kaum zu realisieren. Demgegenüber konnte von Hustedt 12 in einer Studie mit Audio-Feedback eine sehr hohe Compliance der Patienten, d. h. eine sehr gute Einhaltung der PWB-Grenzwerte, festgestellt werden.
Im vorliegenden Artikel wird daher die Entwicklung eines kostengünstigen, tragbaren und „intelligenten“ Live-Feedback-Gerätes für den Einsatz im medizinischen Umfeld skizziert, das u. a. vom Patienten dazu genutzt werden kann, die Einhaltung der PWB-Vorgaben mittels visuellen oder auditiven Feedbacks in Echtzeit zu kontrollieren.
„Intelligente“ Socke
Zu Beginn der Entwicklung wurde als wesentliche Anforderung festgelegt, dass das zu entwickelnde System die Erfassung verschiedenster physikalischer Parameter erlauben und dem Anwender die Möglichkeit eines Feedbacks bieten muss. Das Systemdesign soll einen hohen Grad an Flexibilität und Modularität aufweisen und als tragbares Gerät verwendbar sein, das den Träger nicht beeinträchtigt und damit alltagstauglich ist. Weiterhin soll das System möglichst unkompliziert mit unterschiedlichen Sensoren und Aktoren erweiterbar sein und die Fähigkeit besitzen, mehrere Geräte zu einem Sensornetzwerk zu verbinden. Als Ergebnis des Entwicklungsprozesses wurde unter anderem eine sogenannte instrumentierte Socke entwickelt. Diese besteht aus einem modularen Messsystem und einer mit drucksensitiven Sensoren bestückten Socke (Abb. 1). Das modulare Messsystem beinhaltet in einem wasserdichten Gehäuse neben einem Lithium-Akku sowohl die analoge als auch die digitale Messeinheit mit entsprechenden Modulanschlussmöglichkeiten (Abb. 2). Auf den Messeinheiten befinden sich Inertial- und Temperatursensoren. Über die Steckverbindung des Modulanschlusses sind im Falle der instrumentierten Socke zusätzlich acht resistive Drucksensoren auf einer in die Socke eingearbeiteten Sohle angeschlossen. Neben den Drucksensoren lassen sich über den Modulanschluss auch weitere physikalische Sensoren, z. B. ein Feuchtesensor und/oder Aktoren, erfassen bzw. steuern.
Mittels der verwendeten Datenerfassungshardware ist es möglich, die Spannungsbereiche der Sensoren und somit die Sensorauflösung individuell anzupassen. Zudem besteht durch die eingebettete Software die Möglichkeit, die individuell einstellbare Abtastrate automatisch und situativ an die Messanforderungen anzupassen 13. Das robuste und miniaturisierte Messsystem besitzt eine drahtlose Kommunikationsschnittstelle. Damit ist es möglich, die Sensordaten in Echtzeit zu verarbeiten, um diese entweder an ein Endgerät, z. B. einen Tablet-PC oder ein Smartphone, zu senden und visuell darstellen zu lassen oder aber als Feedback, z. B. auditiv in Form eines Signaltons, direkt an den Nutzer zurückzumelden (vgl. die Ausführungen zum Feedbacksystem unten).
Aufgrund der aufgeführten Eigenschaften der instrumentierten Messsocke ist es möglich, sowohl im Labor als auch außerhalb des Labors unter realen Bedingungen die Druckverteilung aufzuzeichnen. Darüber hinaus kann die „intelligente“ Socke mittels des implementierten Feedbacksystems die resultierende PWB beim Stehen und Gehen berechnen und zurückmelden.
Feedbacksystem
Ein Feedbacksystem stellt dem Anwender objektive und komplementäre externe Informationen über den interessierenden Parameter, z. B. die aktuelle Gewichtsbelastung des betroffenen Beines, zur Verfügung. Um die instrumentierte Socke als Live-Feed-back-Gerät im Rahmen der PWB-Maßnahme verwenden zu können, umfasst das Messsystem neben den zuvor beschriebenen Hardwarekomponenten auch Softwarelösungen zur Implementierung von Auswertealgorithmen und eines visuellen bzw. auditiven Feedbacks.
Datenprozzesierung
Zur Verwendung der instrumentierten Socke als PWB-Feedbacksystem kommen kalibrierte Sensoren zum Einsatz. Zur Gewinnung der individuellen Kalibrierkurven werden die resistiven Foliendrucksensoren dynamisch über den gesamten Arbeitsbereich belastet. Anhand der Druckwerte und unter Kenntnis der Sensorfläche lässt sich die orthogonal auf den Sensor wirkende Belastung in Form der vertikalen Bodenreaktionskraft und daraus die Gesamtbelastung auf das betroffene Bein bestimmen. Alternativ kann durch manuelle Eingabe des Körpergewichtes des Patienten und eine statische Messung der Druckwerte im Einbeinstand auf dem nicht betroffenen Bein der Referenzwert für 100 % Belastung ermittelt werden. Die Höhe der tatsächlich auftretenden Teilbelastung entspricht dem Verhältnis zwischen der tatsächlich gemessenen Belastung des betroffenen Beines und dem Referenzwert.
Grafische Benutzeroberfläche
Das Messsystem verfügt über eine grafische Benutzeroberfläche („graphical user interface“, GUI), die auf das zu verbindende Endgerät automatisch aufgespielt werden kann (Abb. 3). Über die GUI lässt sich das Körpergewicht des Probanden eingeben bzw. die statische Einbeinstandmessung zur Berechnung des Referenzwertes starten. Anschließend kann das vom Therapeuten vorgegebene Niveau der PWB, z. B. 35 %, eingestellt werden. Nachdem die Voreinstellungen abgeschlossen sind, lässt sich über die GUI die Messung starten, stoppen sowie bereits aufgezeichnete Messungen anzeigen.
Visuelles Feedback
Das visuelle Feedback erfolgt über die GUI. Mittels Farb‑, Linien- oder Balkendiagrammen lassen sich die laufende Messung und somit die aktuell auftretenden PWB über den zeitlichen Verlauf online darstellen. Weiterhin kann die Visualisierung auch genutzt werden, um eine bereits absolvierte Messung im Nachgang nochmals offline darzustellen. Dieser Modus ist insbesondere geeignet, um ein Post-Training-Feedback zu ermöglichen.
Auditives Feedback
Neben dem visuellen Feedback ermöglicht die „intelligente“ Socke auch auditives Feedback. Hierzu wird die aktuell auftretende PWB mit einem eingestellten Grenzwert abgeglichen. Bei Überschreiten des Grenzwertes wird ein akustisches Alarmsignal ausgegeben, das den Patienten darüber informiert, dass er seine Belastung reduzieren muss. Sobald der Grenzwert unterschritten ist, verstummt das akustische Alarmsignal wieder.
Diskussion
Das entwickelte Messsystem eignet sich aufgrund seines geringen Gewichtes und seiner Dimensionen hervorragend, um während der Behandlungsmaßnahme am Knöchel des Patienten getragen zu werden. Da es hierbei zu keinerlei Einschränkungen oder Beeinträchtigungen des Patienten kommt, kann dies als ein wesentlicher Vorteil der instrumentierten Socke angesehen werden. Bisherige Systeme zur Druckerfassung haben zum Teil stationären Charakter (z. B. Druckmessplatten) und sind folglich nur unter Laborbedingungen einsetzbar. Gegenüber den am Markt bereits verfügbaren mobilen Messsystemen, die in der Regel in Einlegesohlen integriert werden, bietet die instrumentierte Socke den Vorteil, dass lediglich ein grundlegender Bekleidungsbestandteil – die Socke – substituiert werden muss. Folglich kann die „intelligente“ Socke problemlos zur Erfassung des PWB unter Feldbedingungen eingesetzt werden. Hierzu trägt auch die Laufzeit des in das Messsystem integrierten Akkus bei, die bis zu sechs, zukünftig bis zu 24 Stunden beträgt.
Die mit der instrumentierten Socke erfassten Daten werden in Echtzeit verarbeitet und können unabhängig von einem externen Endgerät von der eingebetteten Software weiterverarbeitet werden. Durch die Bereitstellung einer drahtlosen Konnektivität ist es jedoch zusätzlich möglich, die Daten auch auf einem externen Endgerät, beispielsweise für visuelles oder auditives Feedback, bereitzustellen.
Das implementierte Feedback ist derzeit noch einfach gehalten und ermöglicht seinem Nutzer lediglich eine Rückmeldung bei Unter- oder Überschreiten eines Grenzwertes. Dies könnte künftig dadurch verbessert werden, dass die aktuell auftretende PWB „sonifiziert“ wird. Darunter versteht man die Anwendung synthetischer, nonverbaler Klänge zur Repräsentationnumerischer Daten zur Unterstützung der Informationsverarbeitung des Menschen 14 15. Konkret sollte künftig die Abweichung der erfassten vertikalen Bodenreaktionskräfte vom eingestellten PWB-Wert mittels der Stellgrößen des Schalls, d. h. durch Stereo-Balance, Tonhöhe und Lautstärke, sonifiziert werden. Hierdurch erhält der Anwender umfangreichere Rückmeldungen über seine aktuelleTeilbelastung und kann diese bei Unter- bzw. Überschreitung sehr gezielt anpassen.
Ein weiterer Entwicklungsschritt wird die Verbesserung des Verfahrens zur Bestimmung der vertikalen Bodenreaktionskraft anhand der gemessenen Druckwerte sein. Die Berechnung der vertikalen Bodenreaktionskraft aus dem auf den Sensorflächen gemessenen Druck führt bei unvollständigem plantarem Kontakt des Fußes mit dem Boden zu systematischen Messabweichungen. Eine Möglichkeit, diese Messabweichungen zu reduzieren, besteht in der zukünftigen Nutzung künstlicher neuronaler Netze. Künstliche neuronale Netze verkörpern die technische Realisierung biologisch motivierter Modelle der Informationsverarbeitung in Gehirn und Nervensystem 16. Verschiedenste Studien haben gezeigt, dass mittels Drucksensoren und unter Anwendung künstlicher neuronaler Netze die vertikale Bodenreaktionskraft mit hoher Genauigkeit berechnet werden konnte 17 18 19. Da in der Arbeitsgruppe bereits Erfahrungen mit künstlichen neuronalen Netzen gesammelt wurden, wird deren Implementierung auch für die „intelligente“ Socke vorgesehen.
Fazit
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es mit dem in dieser Arbeit skizzierten Messsystem möglich wird, die Bereitschaft und Fähigkeit von Patienten zur Anwendung und Einhaltung von PWB zu erhöhen. Das visuelle und insbesondere auditive Live-Feedback ist sowohl für den Patienten als auch den Therapeuten hilfreich, um ein Gefühl für die adäquate Teilbelastung zu erhalten. Weiterhin ermöglicht das Messsystem durch seinen modularen Aufbau auch einen Einsatz im Rahmen weiterer Messaufgaben aus dem medizinischen, biomechanischen oder sportiven Umfeld.
Für die Autoren
Dominik Krumm, M. A.
Technische Universität Chemnitz
Professur Sportgerätetechnik
Reichenhainer Str. 70
09126 Chemnitz
dominik.krumm@mb.tu-chemnitz.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Krumm D, Neubert M, Hill M. „Intelligente“ Socke zur Kontrolle der Teilgewichtsbelastung im medizinischen Umfeld. Orthopädie Technik. 2017; 68 (12): 26–29
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