Einleitung
Als das Messsystem „HOSY“ zu Beginn der 1980er Jahre etabliert wurde, ging es im Wesentlichen darum, die Kompressionswirkung medizinischer Kompressionsstrümpfe an einem Stück zerstörungsfrei und reproduzierbar messen zu können. Die Anforderungen des RAL-Gütezeichens 387 (Beinstrümpfe) wurden in der Folge an die neuen technischen Möglichkeiten des „HOSY“-Prüfgeräts angepasst. Das „HOSY“-Verfahren zur Ermittlung der Kompressionswirkung von Textilien ist bis heute durch diesen Standard bis ins Detail definiert und wird von Industrie, Krankenkassen und offiziellen Stellen als einziges Verfahren in diesem Zusammenhang anerkannt.
Das Segment komprimierender Textilien für den medizinischen Bereich ist im Laufe der Zeit schnell angewachsen: Bandagen für Arme und Beine sowie Bekleidung für die postoperative Verpflegung ergänzen heute die klassischen Arm- und Beinstrümpfe. Gleichzeitig boomt die Nachfrage in zusätzlichen Sparten wie Sport, Wellness und der sogenannten Shapewear. Diese neuen Anwendungen stellen gleichzeitig höhere Anforderungen an die Messtechnik – zum Beispiel bestehen bei den zu prüfenden Textilien wesentlich größere Umfänge, weil die Anwendung der Kompression für Körperpartien wie Oberkörper und Rumpf (bis hin zu Ganzkörperanzügen) zunimmt.
Neben der Erfüllung von Standards geht es bei der Messung der Kompressionswirkung heute zunehmend um detaillierte Erkenntnisse über die geprüften Textilien und Materialien, um Produktentwicklungen zielgerichtet vorantreiben zu können: Fragen zu Materialeigenschaften wie Lang- oder Kurzzügigkeit, eine mögliche Materialermüdung durch konstante oder wechselnde Beanspruchung, der Einfluss des Relaxationsgrades bei zyklischen Belastungen sowie das Kompressionsverhalten während der Bewegung sind nur einige Beispiele aus der Praxis. Das Belegen eigener oder das Widerlegen von Werbeaussagen der Wettbewerber ist aus Marketingsicht ebenfalls ein Aspekt von wachsender Bedeutung– dies trifft vor allem auf den nichtregulierten Bereich der Sport- und Wellnesstextilien zu.
Das neue Prüfgerät „HOSYcan“ – hard- und softwareseitige Charakteristika
Die oberste Prämisse bei der Weiterentwicklung des „HOSY“-Prüfgeräts lautete, dass das bewährte Messprinzip nicht verändert werden sollte. Darüber hinaus wartet das neue „HOSYcan“-Prüfgerät aus technischer Sicht jedoch mit vielen zusätzlichen Funktionen auf: Wesentliche Modifikationen bei der Hardware sind eine digitale Mess- und Antriebstechnik in Verbindung mit einer CAN-Bus-Technologie sowie die Vergrößerung des maximal prüfbaren Umfangs eines Textils. Vorteil der digitalen Technik ist eine aktive und passive Störunempfindlichkeit, aber vor allem die Möglichkeit, große Datenmengen zu verwalten und zu verarbeiten. Dadurch sind auch komplexe Abläufe und die Generierung von Messwerten in dicht gestaffelter Reihenfolge möglich. Die Erweiterung des maximalen Prüfumfangs ermöglicht nun die Messung der zu prüfenden Textilien („Prüflinge“) mit Umfängen zwischen 12 und 150 cm (Abb. 1).
Die neue Software „CompresSure Pro“ erlaubt neue Freiheitsgrade bei der Gestaltung der Prüfprozesse. So lässt sich die Geschwindigkeit für Be- und Entlastungsphasen unterschiedlich auswählen. Die Achsengeschwindigkeit der Klemmvorrichtung beträgt dabei maximal 1.500 mm/min, was einer Umfangsänderung von rund 3.000 mm/min entspricht. Der Grad der Entlastung bzw. Relaxation kann frei und auf unterschiedlicher Grundlage, z. B. absolut in Zentimetern oder prozentual zu Umfang oder praktischer Dehnung, gewählt werden. Anstelle der Relaxation lassen sich auch weitere beliebige Größenmaße prüfen. Die Messwerte lassen sich zudem zeitlich verzögert – wie nach einer Ruhephase – erfassen (Abb. 2).
Die Kombination der neuen Freiheitsgrade von Hard- und Software ermöglicht die Gestaltung von Prüfprozessen, die es in dieser Form bisher nicht gab, und damit die Gewinnung neuer Erkenntnisse, z. B. über bestimmte Materialeigenschaften – und zwar nun auch für Kleidungsstücke, die aufgrund ihrer Größe bis dato nicht oder nur bedingt prüfbar waren. Mit „HOSYcan“ lassen sich nun individuelle, auf Prüfling, Material und Fragestellung zugeschnittene Prüfprozesse realisieren. Die Performance von Kompressionstextilien lässt sich somit nun unter praxisrelevanten Bedingungen messen, natürliche Bewegungsabläufe simulieren und mögliche Veränderungen der Kompression in Ruhephasen bestimmen.
Praxisbeispiele
Bestimmung von Lang- bzw. Kurzzügigkeit
„Wie viel Widerstand bietet das Kompressionstextil gegen Querverdehnung auf?“
Der Begriff „Lang- bzw. Kurzzügigkeit“ bezieht sich auf die Kraft, die dazu benötigt wird, Textilien um ein bestimmtes Maß weiter zu dehnen. Je größer die dazu benötigte Kraft ist, umso stärker erhöht sich der auf den Körper oder die Gliedmaße ausgeübte Druck bei Umfangszunahme. Je höher der Wert, umso kurzzügiger – je niedriger, umso lang- oder weichzügiger ist das Textil. Übliche Einheiten in diesem Zusammenhang sind kPa/cm, hPa/cm oder mmHg/cm.
Medizinische Textilien sollen je nach Zweck, Indikation und auch individueller Einschätzung der verordnenden Stelle eher kurz- oder eher langzügig sein. Anders als für Bandagenmaterial für Wickeltherapien gibt es für komplexere Textilien keine entsprechenden Angaben zu Größenordnungen oder gar Soll-Werte zur Klassifizierung. Das heißt, anhand eines Zahlenwertes kann kein medizinisches Textil eindeutig einer Kategorie „langzügig“ oder „kurzzügig“ zugeordnet werden. Ebenso wenig ist es möglich, diese Werte als Nachweis für eine bestimmte Funktion oder Wirksamkeit zu verwenden. Aber zumindest ist es möglich, Muster auf objektiver Basis zu vergleichen (siehe Abb. 3 u. 4).
Bei Textilien für Sport, Shapewear und Wellness kann der Wert für die Kurz- oder Langzügigkeit als Vergleichsgröße, beispielsweise für den Komfort während des Tragens der Kleidung, interpretiert werden. Dabei steht, zumindest auf den ersten Blick, ein niedriger Wert für einen geringeren „Widerstand“ des Textils während einer Bewegung und damit für einen höheren Komfort.
Unabhängig vom späteren Verwendungszweck eines Textils ist die Kenntnis des Materialparameters „Lang- bzw. Kurzzügigkeit“ jedoch für Design und Produktentwicklung hilfreich, etwa hinsichtlich der Materialauswahl und damit der Charakteristik des Textils oder der Entwicklung von Größensystemen.
Lang- bzw. Kurzzügigkeit wird über die Druckdifferenz zweier nahe nebeneinanderliegender Umfänge bestimmt, meist im Bereich deklarierter Größenangaben. Das heißt, dass man die Kompression bei Umfang a sowie a + x misst, wobei x in der Regel 1 bis 2 cm nicht überschreitet. Vor der eigentlichen Messung pendelt der Prüfling zwischen den Umfangsmaßen mehrmals hin und her (Abb. 5). Auf diese Weise werden die wechselnden Beanspruchungen des Textils während ausgeübter Bewegungsabläufe simuliert und mögliche Ermüdungserscheinungen oder typische Veränderungen des Druckverhaltens bei Be- und Entlastungsabläufen mitberücksichtigt.
Dynamische Prüfungen – Simulation von Bewegungsabläufen
Messung der Kompression, die das Textil während des Tragens auf den Körper ausübt
Völlig neue Möglichkeiten bietet die modifizierte „HOSYcan“-Messtechnik im Bereich dynamischer Prüfungen: Neben einer gleichmäßigen zyklischen Belastung lassen sich auch komplexere Bewegungsabläufe wie die Beugung eines Arms oder Beins simulieren. Führt man den gewünschten Bewegungsablauf mehrfach nacheinander durch, werden die Kompressionswerte unter gebrauchsrelevanten Bedingungen ermittelt. Abbildung 6 visualisiert den Bewegungsablauf einer Armbeugung mit ausgeprägter Muskelanspannung in insgesamt vier Abschnitten (die entsprechenden Messwerte gibt Tabelle 1 wieder). Diese sind für die Bestimmung der Kompression so angeordnet, dass das Beugen und Strecken des Arms in korrekter Abfolge wiederholt simuliert wird. Die Haltepositionen (Abschnitte) wiederum dienen dazu, die Maße an relevanten Stellen (Messstellen) zu ermitteln (hier mittels 3D-Scanner) und mit diesen Umfangsdaten die Bewegung in einzelne Abschnitte zu unterteilen.
Die generelle Idee hinter einer solchen Messreihe besteht darin, das Kompressionsverhalten eines Kleidungsstücks während des Gebrauchs und so nah wie möglich an der Realität zu ermitteln, z. B. bei sportlicher Aktivität. Dabei sollen auch Effekte berücksichtigt werden, die durch wiederholt auftretende Be- und Entlastungen des Textils entstehen. Das kann z. B. ein ausgeprägterer Druckabfall in Sequenzen mit größeren Dimensionsänderungen sein, aber auch gegenseitige Beeinflussungen nebeneinanderliegender Messpositionen durch sich verändernde Umfangsdifferenzen- Das Relaxationsverhalten verschiedener Materialien und Konstruktionen kann ebenfalls bestimmt werden. Nutzen lassen sich solche Resultate etwa dazu, angestrebte Mindestdruckwerte sicherzustellen, Maximalwerte nicht zu überschreiten oder den Tragekomfort für den Nutzer im Alltag zu optimieren.
In mindestens zweierlei Hinsicht sind die in Abbildung 5 und Tabelle 1 gezeigten Ergebnisse bemerkenswert: Zum einen verdeutlichen sie, dass auch relativ geringe Veränderungen von Umfangsmaßen gut messbare Unterschiede hinsichtlich der Kompression bedeuten können. Zum anderen legen sie nahe, dass eine Veränderung des Umfangs an einer Position auch einen messbaren Einfluss auf die benachbarten Bereiche haben kann (siehe die Messstellen C1 und D in den Positionen 3 und 4).
Fazit
Die umfangreichen Modifikationen des „HOSYcan“-Systems eröffnen sowohl hardware- als auch softwareseitig neue Möglichkeiten und Erkenntnisse im Bereich der Kompressionsprüfung an Textilien. Neben großen Umfängen können individuell zugeschnittene Prüfprozesse frei gestaltet und damit z. B. Bewegungen simuliert und neue Materialeigenschaften geprüft werden. Die zahlreichen Freiheitsgrade der Software sowie die hardwaretechnischen Modifikationen stellen die Zukunftsfähigkeit des Messsystems sicher. Besonders die einfach zu handhabende Software bietet die Möglichkeit, bestehende Prüfprozesse mit minimalem Aufwand möglichen zukünftigen Anforderungen in Standards anzupassen. Dies ist auch und besonders im Bereich der medizinischen Kompressionstextilien von großer Bedeutung.
Der Autor:
Florian Girmond
Geschäftsführer
Hohenstein Laboratories GmbH & Co. KG
Schlosssteige 1
74357 Boennigheim
f.girmond@hohenstein.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Girmond F. „HOSYcan“ – ein Prüfgerät zur Messung des Druckverlaufs von Kompressionstextilien. Orthopädie Technik. 2018; 69 (12): 54–57
Position | Umfang (cm) | Druck (kPa) | Umfang (cm) | Druck (kPa) | Umfang (cm) | Druck (kPa) | Umfang (cm) | Druck (kPa) |
C1 | 24,2 | 0,77 | 24,8 | 0,88 | 25,2 | 0,96 | 24,3 | 0,96 |
D | 30,2 | 0,86 | 30,4 | 0,99 | 30,9 | 1,14 | 33,2 | 1,36 |
E | 31,4 | 0,82 | 32,2 | 0,93 | 35,1 | 1,17 | 39,5 | 1,50 |
F | 40,3 | 0,89 | 40,7 | 1,05 | 42,0 | 1,22 | 42,3 | 1,38 |
G | 40,1 | 0,62 | 41,9 | 0,78 | 40,9 | 0,71 | 43,8 | 0,87 |
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