Hin­der­nis­se im ÖPNV überwinden

Steht ein Aufzug zur Verfügung? Ist der Weg beleuchtet? Gibt es zusätzliche akustische Informationen? Antworten auf Fragen wie diese sind für Personen mit körperlichen Einschränkungen bei der Planung und Durchführung von Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nur hilfreich, sondern notwendig.

Mobi­li­täts-Apps bie­ten Hil­fe – aber auch genug? Das haben das Insti­tut für Ver­kehrs­for­schung und das Insti­tut für Kom­mu­ni­ka­ti­on und Navi­ga­ti­on des Deut­schen Zen­trums für Luft- und Raum­fahrt (DLR) inner­halb von „MyWay – Grund­la­gen­stu­die zur Erwei­te­rung von Mobi­li­täts-Apps in Bezug auf Diver­si­täts­merk­ma­le“ unter­sucht. Die Ergeb­nis­se erläu­tert Dr. Kers­tin Stark, DLR, im Gespräch mit der OT-Redaktion.

Anzei­ge

OT: ÖPNV in Deutsch­land und Inklu­si­on – wie passt das zusammen? 

Kers­tin Stark: Der öffent­li­che Per­so­nen­nah­ver­kehr ermög­licht Mobi­li­tät und Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben zu rela­tiv nied­ri­gen Prei­sen und ohne die Vor­aus­set­zung einer Fahr­erlaub­nis oder eines eige­nen Fahr­zeugs. Der ÖPNV ist ein wesent­li­cher Bau­stein der öffent­li­chen Daseins­für­sor­ge. Er soll­te für alle Men­schen zugäng­lich und inklu­siv sein. Lei­der ist die Nut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel in der Pra­xis oft mit Her­aus­for­de­run­gen ver­bun­den, sodass Zugäng­lich­keit und das Nut­zungs­er­leb­nis ein­ge­schränkt sind. Ins­be­son­de­re ist die Schaf­fung von Bar­rie­re­frei­heit im öffent­li­chen Ver­kehr trotz gesetz­li­cher Vor­ga­ben noch nicht flä­chen­de­ckend erfolgt.

OT: Aus­gangs­punkt der Stu­die war die The­se, dass für Rei­sen­de mit kör­per­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen zu Ver­bin­dun­gen im öffent­li­chen Ver­kehr in Mobi­li­täts-Apps feh­len. Auf wel­chen Fak­ten fußt die­se Annahme? 

Stark: Auf eige­nen Erfah­run­gen beim Unter­wegs­sein sowie Erkennt­nis­sen aus ande­ren Stu­di­en. Zum Bei­spiel, war­um ich mir kei­ne Wege­aus­kunft anzei­gen las­sen kann, die nach Ein­bruch der Dun­kel­heit unbe­leuch­te­te Wege durch Parks ver­mei­det. Oder dass es zwar ver­schie­de­ne Kon­fi­gu­ra­ti­ons­op­tio­nen in Apps zur Wege- oder Ver­bin­dungs­aus­kunft gibt, die­se aber zu inak­zep­ta­blen Ver­bin­dun­gen füh­ren, weil sie etwa eine drei­mal so lan­ge Rei­se­zeit auf­wei­sen. Wir woll­ten in der Stu­die „MyWay“ unter­su­chen, wel­che Hin­der­nis­se es für ver­schie­de­ne Nut­zer­grup­pen beim Unter­wegs­sein im öffent­li­chen Raum und ins­be­son­de­re bei der Nut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel gibt und wie sich die­se Infor­ma­tio­nen nut­zen las­sen könn­ten, um Mobi­li­täts-Apps zu ver­bes­sern. Wir haben für die Stu­die ver­schie­de­ne sol­cher Apps unter­sucht, geschaut, wel­che Optio­nen sie für die Ver­bin­dungs­aus­kunft anbie­ten, und wel­che Ver­bin­dun­gen aus­ge­ge­ben wer­den für ver­schie­de­ne Test­fäl­le, z. B. mit ver­län­ger­ter Umstei­ge­zeit oder mit der Bedin­gung eines bar­rie­re­frei­en Zugangs. Ins­ge­samt haben wir fest­ge­stellt, dass es zwei Sei­ten des Pro­blems gibt: Einer­seits man­gelt es an geeig­ne­ten Ein­stel­lungs­op­tio­nen bei der Ver­bin­dungs­ab­fra­ge, die die ver­schie­de­nen Anfor­de­run­gen und Merk­ma­le von Men­schen abbil­den. Ande­rer­seits besteht der Man­gel bei der Qua­li­tät und Anzahl der mög­li­chen Ver­bin­dun­gen, wenn exis­tie­ren­de Ein­stel­lungs­op­tio­nen aus­ge­wählt wor­den sind. Oft­mals gibt es kei­ne Tref­fer oder nur wenig attrak­ti­ve Verbindungen.

Wis­sens­lü­cken schließen

OT: In die­sem Zusam­men­hang spie­len „Diver­si­ty Data Gaps“ eine wich­ti­ge Rol­le. Wel­che konn­ten Sie in der Stu­die identifizieren? 

Stark: „Diver­si­ty Data Gap“ spielt als Begriff auf das Feh­len von Daten zu den Anfor­de­run­gen und Bedürf­nis­sen von ver­schie­de­nen Grup­pen von Men­schen an, die nicht der ver­meint­li­chen Norm ent­spre­chen. Wir woll­ten beleuch­ten, wel­che unter­schied­li­chen – diver­sen – Merk­ma­le es gibt, die Men­schen dau­er­haft oder situa­ti­ons­be­dingt in ihren Anfor­de­run­gen an Ver­kehrs­mit­tel und Mobi­li­täts­diens­te beein­flus­sen. In gän­gi­gen Mobi­li­täts-Apps sowie in den Ver­kehrs­an­ge­bo­ten, über die die­se Apps Aus­kunft geben sol­len, wird die­se Diver­si­tät noch zu wenig berück­sich­tigt. In unse­rer Stu­die konn­ten wir eini­ge Wis­sens­lü­cken schlie­ßen. Wir haben Wis­sen dazu gesam­melt, wel­che Hin­der­nis­se im Zusam­men­hang mit wel­chen Merk­ma­len beim Unter­wegs­sein Pro­ble­me machen und ob sie sogar dazu füh­ren, dass Wege nicht gemacht oder abge­bro­chen wer­den müs­sen. Zudem haben wir Daten­lü­cken iden­ti­fi­ziert, die gefüllt wer­den müss­ten, damit die von uns erkann­ten Hin­der­nis­se bei der Ver­bin­dungs­aus­kunft berück­sich­tigt wer­den könn­ten, zum Bei­spiel in Bezug auf Umge­bungs­in­for­ma­tio­nen wie der Beschaf­fen­heit von Bus­hal­te­stel­len oder zur Beleuch­tung von Wegen. Eine Aus­kunft zur Bar­rie­re­frei­heit, etwa der Aus­schluss von Trep­pen oder die Anzei­ge von defek­ten Auf­zü­gen, ist bereits in vie­len Apps mög­lich. Hier gibt es weni­ger einen Infor­ma­ti­ons­man­gel als einen Man­gel an pas­sen­den bar­rie­re­frei­en Verbindungsangeboten.

OT: Wie wur­den die­se Daten erhoben? 

Stark: Unse­re Stu­die bestand aus ver­schie­de­nen Stu­fen der Daten­er­he­bung. Mit­tels Lite­ra­tur­ana­ly­se und einem Work­shop mit Expert:innen haben wir zunächst diver­si­täts­re­le­van­te Hin­der­nis­se und Merk­ma­le von Per­so­nen iden­ti­fi­ziert. Auf­bau­end haben wir mit­tels deutsch­land­wei­ter Befra­gung die Zusam­men­hän­ge von Merk­ma­len und Hin­der­nis­sen bei Ver­kehrs­mit­teln und Infra­struk­tur quan­ti­fi­ziert und rele­van­te Kom­bi­na­tio­nen von Hin­der­nis­sen und Merk­ma­len – soge­nann­te Hin­der­nis­pro­fi­le – gebil­det. In zwei wei­te­ren Work­shops haben wir die tech­ni­schen und prak­ti­schen Vor­rau­set­zun­gen zur App-Inte­gra­ti­on der Hin­der­nis­pro­fi­le sowie gesell­schaft­li­che und daten­schutz­recht­li­che Fra­gen untersucht.

Situa­ti­ons­be­dingt vs. dauerhaft

OT: Betrach­tet wur­den nicht nur die klas­si­schen Anfor­de­run­gen an Bar­rie­re­frei­heit, son­dern auch die vie­len klei­ne­ren Hin­der­nis­se, die inter­mo­da­le Mobi­li­tät je nach Situa­ti­on erschwe­ren und gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­rung aus­schlie­ßen kön­nen. Was genau ist damit gemeint? 

Stark: Wir woll­ten zei­gen, dass die Merk­ma­le von Men­schen ins­ge­samt sehr viel­fäl­tig sind, und ver­schie­de­ne Hin­der­nis­se beim Unter­wegs­sein nicht nur eine klei­ne Grup­pe betref­fen. Wir haben daher situa­ti­ons­be­ding­te von dau­er­haf­ten Merk­ma­len unter­schie­den und einen metho­di­schen Ansatz gewählt, mit dem wir die Stär­ke eines Hin­der­nis­ses bestim­men kön­nen, also, ob das Hin­der­nis noch über­wind­bar ist oder nicht. Situa­ti­ons­be­dingt wäre etwa, ein Kind im Kin­der­wa­gen oder ein Fahr­rad mit­zu­füh­ren, ein dau­er­haf­tes Merk­mal wäre im Roll­stuhl zu sit­zen oder nicht gut sehen zu kön­nen. Als Ergeb­nis zeigt sich, dass es mehr und weni­ger gra­vie­ren­de Hin­der­nis-Merk­mal-Kom­bi­na­tio­nen gibt: Eini­ge füh­ren zum Abbruch oder zur Nicht­durch­führ­bar­keit von Rei­sen. Sol­che Hin­der­nis­se soll­ten daher prio­ri­tär in den Blick genom­men wer­den. Aber auch die weni­ger gra­vie­ren­den Hin­der­nis­se kön­nen die Attrak­ti­vi­tät öffent­li­cher Ver­kehrs­an­ge­bo­te min­dern und dazu füh­ren, dass sich Rei­sen­de unwohl füh­len und irgend­wann gar nicht mehr mit Bus­sen und Bah­nen fahren.

OT: Inwie­fern las­sen sich die­se Anfor­de­run­gen in (bestehen­de) Mobi­li­täts-Apps integrieren? 

Stark: Wie unse­re bis­he­ri­gen Ergeb­nis­se zei­gen, las­sen sich die Hin­der­nis­pro­fi­le grund­sätz­lich in bestehen­de Apps inte­grie­ren. Her­aus­for­de­run­gen bestehen vor allem in der Daten­ver­füg­bar­keit sowie in der Ange­bots­ver­füg­bar­keit – wenn also die bestehen­den Ver­kehrs­mit­tel oder Ver­bin­dun­gen den Anfor­de­run­gen der Rei­sen­den nicht gerecht wer­den können.

OT: Wie reagie­ren ver­schie­de­ne App-Anbie­ter dar­auf? Stellt sie das The­ma vor Herausforderungen? 

Stark: Wir haben mit Pra­xis­part­nern, dar­un­ter auch Ver­kehrs­un­ter­neh­men, bei der Stu­die zusam­men­ge­ar­bei­tet. Wir pla­nen ein Anschluss­pro­jekt, bei dem wir exem­pla­risch für eine Mobi­li­täts-App unse­re Hin­der­nis­pro­fi­le inte­grie­ren und erpro­ben, inwie­weit dies zu einer Ver­bes­se­rung aus Sicht der Nut­zen­den führt, und wel­che tech­ni­schen oder daten­be­zo­ge­nen Her­aus­for­de­run­gen sich ergeben.

OT: Mit­te Juli haben Sie inner­halb einer Abschluss­ver­an­stal­tung, zu der Inter­es­sier­te aus dem Mobi­li­täts­be­reich ein­ge­la­den waren, die Hin­ter­grün­de und Ergeb­nis­se der Stu­die vor­ge­stellt. Wie war die Resonanz? 

Stark: Die Reso­nanz war aus unse­rer Sicht sehr gut. Wir konn­ten wei­te­re inter­es­san­te Erkennt­nis­se gewin­nen und unse­re Ergeb­nis­se wei­ter­ent­wi­ckeln, ins­be­son­de­re in Bezug auf daten­schutz­recht­li­che sowie tech­ni­sche Her­aus­for­de­run­gen. Wir haben von Teilnehmer:innen aus der Pra­xis die Rück­mel­dung erhal­ten, dass die­se nicht zuletzt durch die Ergeb­nis­se unse­rer Stu­die wei­te­re Abfra­ge­mög­lich­kei­ten und Hin­der­nis­se in ihre Mobi­li­täts-Apps inte­grie­ren möch­ten oder dies zumin­dest prü­fen wollen.

OT: Das The­ma Nach­hal­tig­keit wird in der Gesell­schaft immer rele­van­ter. Lässt sich bar­rie­re­freie mit nach­hal­ti­ger Mobi­li­tät verbinden? 

Stark: Unbe­dingt. Öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel ermög­li­chen nach­hal­ti­ge Mobi­li­tät. Sie müs­sen aber noch inklu­si­ver und attrak­ti­ver wer­den, damit mehr Men­schen sie nut­zen kön­nen und wollen.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

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