Teure Versorgung
OT: Frau Meyerhoff-Grienberger, wie ist die Hilfsmittelversorgung in Deutschland derzeit aufgestellt? Erhalten die Versicherten die ihnen zustehenden Leistungen?
Carla Meyerhoff-Grienberger: Die Hilfsmittelversorgung in Deutschland basiert auf einem zuverlässigen und leistungsfähigen, aber auch teuren System. Pro Jahr werden rund 30 Millionen Hilfsmittelversorgungen in der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt. Ergebnisse von Versichertenbefragungen bescheinigen den Krankenkassen vielfach eine hohe Versorgungszufriedenheit. Damit dies so bleibt, bedarf es regelmäßig einer Überprüfung des Versorgungsstandards und der ‑prozesse, um daraus den versorgungspolitischen Handlungsbedarf abzuleiten.
OT: Stellen Sie sich dabei eher korrigierende Anpassungen vor oder würden Sie das System radikaler verändern?
Meyerhoff-Grienberger: Der Appell an eine fundamentale Umstrukturierung und Neuorientierung der Hilfsmittelversorgung wird seit den 1990er-Jahren bei jeder Reformdiskussion laut. Seitdem wurde aber viel Gutes für die Versicherten bewirkt, sodass meines Erachtens nicht alles infrage gestellt werden muss. Wir haben im internationalen Vergleich eine hohe Qualität sowohl bei den Produkten als auch Dienstleistungen erreicht, was nicht zuletzt dem fortlaufend aktualisierten Hilfsmittelverzeichnis (HMV) und dem weiterentwickelten Präqualifizierungsverfahren zu verdanken ist. Das klassische Gesundheitshandwerk ist in seiner Art ebenfalls einzigartig und sorgt für individuelle sowie hochwertige Versorgungen.
Mehr Wettbewerb, weniger Bürokratie
OT: Worin sehen Sie unter diesen Voraussetzungen die wichtigsten Punkte, die eine Reform im Sinne einer zukunftssicheren Hilfsmittelversorgung angehen muss?
Meyerhoff-Grienberger: Trotz der insgesamt positiven Entwicklung wurden bewährte Wettbewerbsinstrumente durch politische Entscheidungen und die Rechtsentwicklung zunehmend zurückgedrängt. Allem voran können Festbeträge für Hilfsmittel nicht mehr rechtssicher festgesetzt werden. Weiterhin ist der Vertragswettbewerb durch den Wegfall von Ausschreibungen und das Verhalten der Marktteilnehmer partiell zum Erliegen gekommen. Dies hat zu einem Vergütungsniveau geführt, das in dem gewohnten Maße auf Dauer in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem nicht gehalten werden kann. Daher bedarf es geeigneter und rechtssicherer Wettbewerbsinstrumente. In punkto Bürokratie gibt es ebenso einiges zu tun.
OT: Wo liegen hier die größten Probleme?
Meyerhoff-Grienberger: Mit Blick auf die Vielzahl und Vielfalt der Hilfsmittel sind die Prozesse um die Versorgung und die Maßnahmen zur Qualitätssicherung zunehmend komplexer und bürokratischer geworden. Zudem stellt die Einführung der europäischen Medizinprodukteverordnung Krankenkassen und Wirtschaftsakteure vor große Herausforderungen. Da europäisches Recht nicht ohne Weiteres revidiert werden kann, gehören flankierende medizinprodukterechtliche Vorschriften auf nationaler Ebene – Stichwort Betreiberpflichten – mehr denn je auf den Prüfstand. Sie erzeugen zusätzliche Bürokratie und Mehrkosten, ohne dass ihnen ein Nutzen oder eine Qualitätsverbesserung gegenüberstehen. Ähnliches gilt für die den Krankenkassen aufgegebenen Informationspflichten über die Vertragsinhalte, die häufigen Überwachungen im Rahmen der Präqualifizierung und unnötige Dokumentationspflichten.
OT: Sie erwähnten, dass Festbeträge nicht mehr rechtssicher festgesetzt werden könnten – warum? Marktrecherchen zum Beispiel könnten doch entsprechende Daten liefern?
Meyerhoff-Grienberger: Festbeträge im Hilfsmittelbereich limitieren die Vertragspreise. Deshalb existieren keine tatsächlichen Abgabepreise, die laut Bundessozialgericht (BSG) aber heranzuziehen sind, um Festbeträge zu ermitteln. Vielfach enthalten die in der Vergangenheit in Rechnung gestellten Preise auch Mehrkosten, die gerade für nicht von den gesetzlichen Krankenkassen zu tragende Leistungen entstehen und die über das Maß des Notwendigen hinausgehen. Vertragspreise, die mit anderen Sozialleistungsträgern oder der privaten Krankenversicherung vereinbart wurden, können auch nicht als Referenz herangezogen werden, weil dort andere Versorgungsansprüche bestehen. Daher können auch Marktrecherchen keine entsprechenden Daten liefern.
HMV bestimmt den Qualitätsstandard
OT: Im Frühjahr legte der GKV-Spitzenverband seinen 6. Bericht zur Fortschreibung des HMV vor. Bis Ende 2023 sollen alle 41 bestehenden Produktgruppen (PG) überarbeitet sein. Setzen Sie in der Fortschreibung neue Akzente, die im Reformprozess besondere Bedeutung haben?
Meyerhoff-Grienberger: Die Produktgruppen des HMV werden turnusmäßig mindestens alle fünf und die des Pflegehilfsmittelverzeichnisses alle drei Jahre überprüft und fortgeschrieben. Darüber hinaus finden bedarfsweise Fortschreibungen statt – beispielsweise infolge neuer medizinischer Leitlinien, Fertigungstechniken oder rechtlicher Normen. Schwerpunkt jeder Fortschreibung ist es, den aktuellen medizinisch-technischen Versorgungsstandard abzubilden. Dies wird auch in Zukunft so gehandhabt werden. Weiterhin bleibt das Ende des aktuellen Reformprozesses abzuwarten, um festzustellen, ob Prioritäten und Schwerpunkte verschoben werden müssen.
OT: Verändert sich die Bedeutung und Ausrichtung des HMV? Im Positionspapier des GKV-Spitzenverbands wird zum Beispiel auf seine qualitätssteuernde Rolle verwiesen. Kann das HMV die Funktion eines Qualitätsstandards in der Hilfsmittelversorgung erfüllen – oder ist es in erster Linie ein Produktverzeichnis?
Meyerhoff-Grienberger: Im HMV werden seit geraumer Zeit auch Versorgungsanforderungen festgelegt, wodurch es über die Rolle eines reinen Produktverzeichnisses hinausgewachsen ist. Seine Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen sind den Versorgungsverträgen mit den Krankenkassen mindestens zugrunde zu legen. So sagt es das Gesetz. Dadurch hat das Verzeichnis einen hohen Stellenwert und rückt ins Zentrum der meisten Versorgungen. Alle am Versorgungsprozess beteiligten Stellen können ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Qualitätsanforderungen leisten. Proaktiv erhalten wir dazu leider nur vereinzelt Hinweise von Hersteller- und Leistungserbringerorganisationen, Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten, Fachexpertinnen und Fachexperten oder Sachverständigen. Allerdings wird der Fortschreibungsbedarf regelmäßig vom GKV-Spitzenverband abgefragt. Außerdem gibt es umfassende Stellungnahme- bzw. Mitwirkungsverfahren. Damit bündelt das HMV viele unterschiedliche Interessen und gründet sich auf profundes Wissen und umfassende Erfahrungen aller Disziplinen. Es entfaltet seine Wirkung bundesweit. Alle Krankenkassen nutzen das HMV im Rahmen ihrer Vertragsgestaltung. Somit markiert es die Mindestanforderung an eine Versorgung – unabhängig davon, ob die Verträge auf Verbandsebene oder Einzelebene geschlossen werden. Dem HMV kommt damit unzweifelhaft die Funktion eines Qualitätsstandards zu, und zwar eines sehr hohen.
Qualität der Argumente entscheidend
OT: Inwieweit ist die Fortschreibung des HMV insbesondere bei der Festlegung von Qualitätsparametern verbindlich an Leitlinien, Versorgungspfaden sowie Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften orientiert bzw. inwieweit beeinflussen Sachverständigenvoten und Anregungen von Interessenvertretungen die Schwerpunktsetzung?
Meyerhoff-Grienberger: Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Dies gilt genauso für die Festlegung von Qualitätsparametern im HMV. Leitlinien, Normen, Empfehlungen u. Ä. können Indizien hierfür sein. Allerdings dürfen neue Qualitätsanforderungen nur festgelegt werden, wenn sie auch eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung sicherstellen. Soweit konkret Anforderungen an die Produkte betroffen sind, muss deren risikolose Anwendung im häuslichen Bereich sowie in vielen Fällen ihr medizinischer Nutzen nachgewiesen sein. Hierfür reichen einzelne Meinungen nicht aus. Vielmehr muss sich die Mehrheit der einschlägigen wissenschaftlichen Studien und Analysen für den medizinischen Nutzen des Hilfsmittels im Rahmen der ärztlichen Krankenbehandlung ausgesprochen haben. Die Studien müssen zudem in einer ausreichenden Zahl von Fällen durchgeführt worden sein. Bei allgemeinen Fortschreibungen werden die Stellungnahmen und Hinweise externer Stellen nach diesen Maßstäben fachlich ebenso ausgewertet – unabhängig davon, wer sie vorgebracht hat. Entscheidend ist die Qualität der Argumente und Nachweise, die den medizinisch-technischen Standard darlegen.
OT: Wie wird die gesetzliche Pflicht umgesetzt, die Anmerkungen der stellungnahmeberechtigten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen?
Meyerhoff-Grienberger: Neben schriftlichen Stellungnahmen sind ergänzende Gespräche mit den Stellungnahmeberechtigten an der Tagesordnung. Die Stellungnahmen werden individuell beantwortet. Die wesentlichen Gründe für die Fortschreibung und das Protokoll der mündlichen sowie die schriftlichen Stellungnahmen werden online veröffentlicht.
Innovationen berücksichtigt
OT: Die gesetzlich Versicherten haben gemäß § 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) einen Anspruch auf Leistungen, die in Qualität und Wirksamkeit „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“ haben. Dieser Stand ist immer in Entwicklung begriffen …
Meyerhoff-Grienberger: Deshalb wird das HMV ja ständig fortgeschrieben. Dabei ist stets zu beachten, dass sich das HMV auf fundierte Daten, Fakten sowie wissenschaftliche Erkenntnisse stützen muss und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung mit ins Kalkül zu ziehen ist. Werden neuartige Produkte zur Aufnahme angemeldet, obliegt es dem Hersteller, geeignete Nachweise zur Qualität und ggf. zum Nutzen zu erbringen. Alle Akteure in der Hilfsmittelversorgung sind verantwortlich dafür, die in ihren jeweiligen Bereichen gewonnenen Erkenntnisse dem GKV-Spitzenverband mitzuteilen.
OT: Kann das HMV Innovationen ausreichend berücksichtigen?
Meyerhoff-Grienberger: Ja, vorausgesetzt, dass die Qualitäts- und Nutzenanforderungen erfüllt und angemessen nachgewiesen werden. Dann erfolgt die Aufnahme sehr zügig in einem beschleunigten Verfahren. Die Produkte werden nämlich bereits unabhängig davon gelistet, ob sie der bestehenden Systematik des HMV zugeordnet werden können. Eine Produktuntergruppe bzw. ‑art wird erst nachträglich erstellt. Denn sonst würden die für eine Bildung neuer Produktarten nötigen Stellungnahmeverfahren und weiteren Vorgangsschritte eine schnelle Aufnahme verhindern. Dieses beschleunigte Verfahren stößt allerdings an Grenzen, wenn der Einsatz des Produkts untrennbarer Bestandteil einer in der ambulanten Versorgung noch nicht anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethode ist. In diesem Fall hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) zunächst eine positive Empfehlung über deren Anerkennung abzugeben, bevor das Hilfsmittelbewertungsverfahren beim GKV-Spitzenverband geführt werden darf.
OT: Inwieweit beeinflussen gesetzliche Krankenkassen die Inhalte des HMV? Als das Konzept einer rein digitalen Online-Einlagenversorgung von gesetzlich Versicherten auf Rezept 2021 vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) aus dem Verkehr gezogen wurde, erklärte die involvierte Barmer Krankenversicherung, sie würde ggf. Anpassungen im HMV anstreben …
Meyerhoff-Grienberger: Krankenkassen gehören zu dem Kreis der Berechtigten, die neue Versorgungsformen und Erkenntnisse in das HMV einbringen können. Es ist richtig, dass die Barmer entsprechende Vorschläge zur Änderung des HMV hinsichtlich der digitalgestützten Einlagenversorgung unterbreitet hat. Allerdings gilt auch hier, dass fundierte Daten und Fakten zur Versorgungsqualität vorgelegt werden müssen, was zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich war.
Persönlicher Kontakt spielt (noch) zentrale Rolle
OT: In der Fortschreibung des HMV wurde bei den Produktgruppen 05 (Bandagen) und 17 (Hilfsmittel zur Kompressionstherapie) die Anforderung der persönlichen Beratung vor Ort gestrichen. In der Bekanntmachung heißt es: „Die Beratung der Versicherten oder des Versicherten über die für ihre oder seine konkrete Versorgungssituation geeigneten und notwendigen Hilfsmittel erfolgt im direkten Austausch – nach Möglichkeit vor Ort – durch geschulte Fachkräfte.“ Ist dies als Einstieg in eine rein digitale Versorgung zu verstehen?
Meyerhoff-Grienberger: Das wurde leider missverstanden. Mit der neuen Formulierung der Dienstleistungsanforderung zur Beratung ist kein Einstieg in eine rein digitale Versorgung zu verstehen. Dem GKV-Spitzenverband wurde allerdings im Rahmen der HMV-Fortschreibung von Leistungserbringerseite mitgeteilt, dass die frühere Begrifflichkeit „persönliche Beratung“ in der Praxis auch dahingehend ausgelegt werde, die Versicherten „persönlich“ mit jedem Mittel zu kontaktieren, also auch telefonisch oder per Video. Daher wurde die Formulierung ersetzt und stellt auf den „direkten Austausch – nach Möglichkeit vor Ort – durch Fachkräfte des Leistungserbringers“ ab. Der Einschub „nach Möglichkeit vor Ort“ ist erforderlich, weil bei den in Rede stehenden Produkten die Möglichkeit von Hausbesuchen vertraglich festgelegt ist und die Beratung dann eben nicht beim Leistungserbringer stattfindet.
OT: Zwar ist die sachgerechte, persönliche Einweisung der Versicherten in den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Hilfsmittels in der Fortschreibung der PG 05 und der PG 17 nach wie vor enthalten. Wird der persönliche Kontakt zwischen Leistungserbringenden und Versicherten jedoch in Zukunft in der Hilfsmittelversorgung weniger bedeutsam?
Meyerhoff-Grienberger: Ich denke, es kommt in erster Linie auf das der Versorgung zugrunde liegende Hilfsmittel und die Person an, die es anwendet. Bei bestimmten Produkten wird der persönliche Kontakt gerade im Rahmen der Einweisung weiterhin im Mittelpunkt stehen. Wer zum Beispiel Kompressionsstrümpfe erstmals benötigt, muss lernen, diese anzulegen. Das muss geübt werden. Bei anpassungsbedürftigen Produkten wird der persönliche Kontakt ebenfalls immer eine große Rolle spielen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Hilfsmittel verstärkt von betagten Menschen in Anspruch genommen werden. Diese Versicherten bevorzugen überwiegend eine persönliche Einweisung. Es ist letztlich auch eine Generationenfrage, wo die Präferenzen liegen. Ich kann mir schon vorstellen, dass künftige Generationen bei wenig erklärungsbedürftigen bzw. einfach anzuwendenden Produkten andere Versorgungswege wünschen. Und nichts ist unmöglich: Eine ärztliche Videosprechstunde war vor einigen Jahren noch undenkbar. Allerdings muss die Versorgungsqualität stimmen. Trotzdem sollte sich die Branche langfristig neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen zeigen. Auf Basis des derzeitigen Erkenntnisstandes hält der GKV-Spitzenverband bei vielen Hilfsmitteln grundsätzlich aber eine Einweisung beim Leistungserbringer für geeigneter.
„Apothekenübliche Hilfsmittel“: nicht glücklich
OT: Im Zusammenhang mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) sind jetzt „apothekenübliche Hilfsmittel“ zu definieren, für welche die Präqualifizierung für Apotheken wegfällt. Inwieweit wirkt sich damit das ALBVVG auf das HMV aus – und beeinflusst dies die Reformbestrebungen?
Meyerhoff-Grienberger: Inwieweit sich das ALBVVG auf das HMV auswirkt, kann noch nicht abschließend beantwortet werden, da zunächst die Verhandlungen mit dem Apothekerverband abzuwarten bleiben. Sollte ein Schiedsverfahren erforderlich sein, haben wir nicht allein Einfluss auf das Ergebnis. Ich gehe aber davon aus, dass im Zuge einer Hilfsmittelreform mit Folgewirkungen zu rechnen ist. Denn andere Leistungsanbieter solcher „apothekenüblichen“ Hilfsmittel werden versuchen, ähnliche Gesetzesänderungen für sich zu erwirken. Der GKV-Spitzenverband ist über die Neuregelung infolge des ALBVVG – auch mit Blick auf die Versicherten – alles andere als glücklich. Das Präqualifizierungsverfahren hat sich über viele Jahre entwickelt und grundsätzlich bewährt. Eine Präqualifizierung ist ein Qualitätsmerkmal und hebt die Hilfsmittel-Leistungserbringer vom allgemeinen Fachhandel ab.
Rückkehr zur Ausschreibung?
OT: Im Positionspapier des GKV-Spitzenverbands ist der Ruf nach einer Rückkehr zur Ausschreibung deutlich zu vernehmen. Andererseits haben die Qualitätskriterien in der Ausschreibungsära aber nicht gegriffen. Wie wollen Sie in Zukunft absichern, dass sie umgesetzt werden?
Meyerhoff-Grienberger: So pauschal möchte ich das nicht im Raum stehen lassen. Es gab durchaus Ausschreibungen, die zu wirtschaftlichen Ergebnissen bei bewährter Versorgungsqualität geführt haben. Dies wurde bei der politischen Entscheidung völlig ausgeblendet. Die Begründung des Gesetzgebers für das Ausschreibungsverbot wurde lapidar auf „Risiken durch Ausschreibungen für die Versorgungsqualität“ begrenzt, ohne dass dies näher erläutert wurde. Seinerzeit hatten etliche Krankenkassen gar keine Ausschreibungen durchgeführt und ausschreibungsaktive Krankenkassen gerade mal bei zwei bis fünf Prozent des gesamten Ausgabevolumens für Hilfsmittel. Überwiegend gab es also Verhandlungsverträge. Eigentlich ist dies aber auch unerheblich, da sich Verhandlungs- und Ausschreibungsverträge inhaltlich grundsätzlich gar nicht unterscheiden.
OT: Also keine Probleme?
Meyerhoff-Grienberger: Versorgungsprobleme hatten sich tatsächlich bei den Inkontinenzhilfen gezeigt. Diese waren aber auch darauf zurückzuführen, dass das Wahlrecht der Versicherten faktisch entfallen war. Erst nachträglich wurde das Mehrvertragspartnermodell eingeführt, bei dem mehrere Leistungserbringer den Zuschlag erhalten können. Dieses Modell erlaubt eine breitere Streuung der Anbieter und damit mehr Wahlmöglichkeiten. Das könnte für die Qualitätsausschreibungen der Zukunft intensiviert werden. Auch weiteren Kritikpunkten ist der GKV-Spitzenverband insbesondere im Bereich der Inkontinenzhilfen entschieden entgegengetreten, indem er den Mindeststandard der Produkte deutlich angehoben hat. Weiterhin ist es laut HMV nicht mehr möglich, an der Abgabemenge zu sparen oder unangemessene Halbjahresbedarfe auszuliefern. Nicht neutrale Verpackungen, die im Übrigen der Ausschreibung zu Unrecht angelastet wurden, dürften gleichfalls der Vergangenheit angehören.
OT: In seinem Positionspapier beklagt der GKV-Spitzenverband, dass es nach Ende der Ausschreibungen massive Kostensteigerungen bei den Hilfsmittelausgaben in der GKV gegeben hätte. Dabei wurde der Preis von TENS-Geräten genannt. Welche weiteren Beispiele gibt es – und inwieweit sind hier Preiseinbrüche während der Ausschreibungsära, allgemeine Kostensteigerungen etc. berücksichtigt?
Meyerhoff-Grienberger: Die Ausschreibung ist ein klassisches Wettbewerbsinstrument, speziell dort, wo die üblichen Marktkräfte nicht greifen. Infolge des sozialversicherungsrechtlichen Dreiecksverhältnisses trifft dies auf den Hilfsmittelbereich zu. Ausgangspunkt der erwähnten Preissteigerungen ist der per Ausschreibung zustande gekommene Vertragspreis, weil in seriösen Angeboten der Leistungserbringer allgemeine Kostensteigerungen und alle Aufwände berücksichtigt sein müssten. Ob dies bei den Angeboten für Inkontinenzhilfen durchweg der Fall war, können am ehesten die Vertragspartner beurteilen. Generell wurden Ausschreibungen nur in einzelnen Produktbereichen durchgeführt, sodass es nicht viele weitere Beispiele gibt. Gesundheitshandwerkliche Versorgungen waren von Ausschreibungen per se ausgenommen. Erhebliche Preissteigerungen, wenn auch nicht so eklatant wie bei den TENS-Geräten, gab es zum Beispiel bei Dekubitushilfen, Sauerstoffkonzentratoren und bestimmten Rehahilfsmitteln. Hier waren es Steigerungen bis zu 50 bis 60 Prozent.
OT: Gilt die Formel „Mehr Wettbewerb = weniger Ausgaben“ uneingeschränkt? Ist eine sinkende Versorgungsqualität letztlich Teil dieser Gleichung?
Meyerhoff-Grienberger: Nein, weniger Versorgungsqualität ist nicht akzeptabel. Genau das ist aber bei den Ausschreibungen für Inkontinenzhilfen passiert, ohne dass dies in den Verträgen so geregelt war. Und hier müssten die Krankenkassen bei künftigen Qualitätsausschreibungen ansetzen. Wer die vertraglich vereinbarte Leistung nicht vertragskonform erbringt, muss stärker sanktioniert werden können.
Vertrauen in die Vertragspartner
OT: Vom BAS wurde im „Sonderbericht über die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ von 2022 fehlendes Controlling, die fehlenden Überprüfungen seitens der Krankenkassen, als eine der Ursachen für große Defizite bei der Hilfsmittelversorgung für gesetzlich Versicherte festgestellt. Wie wollen Sie gewährleisten, dass Qualitätskriterien durch entsprechendes Controlling flankiert werden?
Meyerhoff-Grienberger: Jetzt aber mal Hand aufs Herz! Haben wir denn wirklich so „große Defizite“ in der Hilfsmittelversorgung, dass die Leistungserbringer noch mehr kontrolliert werden müssen als bisher? Und dann reden wir über Bürokratieabbau. Offensichtlich haben die Krankenkassen mehr Vertrauen zu ihren Vertragspartnern als andere Stellen – und führen ihr Vertragscontrolling mit Augenmaß sowie angemessenen Mitteln durch. Und dabei sollte es auch bleiben. Die Feststellungen des BAS sowie eine Korrelation zwischen Versorgungsdefiziten und mangelnder Kontrolle durch die Krankenkassen sind durch nichts belegt. Sie diskreditieren nicht nur die Krankenkassen, sondern die Hilfsmittelbranche insgesamt.
OT: Entbürokratisierung ist eine der großen Herausforderungen, die von allen Seiten benannt wird. Wo sehen Sie hier die größten Stellschrauben?
Meyerhoff-Grienberger: Um 30 Millionen Versorgungen im Jahr qualitätsgesichert und solidarisch zu managen, ist ein gewisses Maß an Bürokratie unvermeidbar. Und manche Instrumente, die als bürokratielastig empfunden werden, bewirken bei näherem Hinsehen sogar das Gegenteil. Beispiele sind das HMV und die Präqualifizierung. Wenn jeder Krankenkasse Nutzen und Qualität eines Hilfsmittels im Einzelfall nachgewiesen werden müssten, statt einmalig und bundesweit gegenüber dem GKV-Spitzenverband, wäre der Aufwand nicht zu bewältigen. Anstelle der Präqualifizierung müsste vor jedem Vertragsschluss die Eignung im Einzelfall überprüft werden. Aber ich will die Bürokratie nicht schönreden und habe mich bereits kritisch dazu geäußert. Insbesondere brennen uns die Betreiberpflichten unter den Nägeln. Weiterhin sollte bei allen Dokumentations- und Berichtspflichten geprüft werden, ob und in welchem Umfang sie weiterhin erforderlich sind. Die Notwendigkeit neuer Bürokratieanforderungen muss sorgfältig beleuchtet werden. Das gilt genauso für das „Vertragscontrolling“ der Krankenkassen, sollte hier eine Erweiterung vorgesehen sein.
OT: Der GKV-Spitzenverband richtet in seinem Positionspapier starke Kritik an die Leistungserbringer, verlangt mehr Wettbewerbsausrichtung und Transparenz. Wenn ich es richtig interpretiere, wird zum Beispiel eine deutliche Ausweitung der Mehrkostendokumentation gefordert.
Meyerhoff-Grienberger: Zunächst wird im Positionspapier gefordert, dass der Umfang von Dokumentationspflichten auf den Prüfstand zu stellen ist. Die eigentliche Mehrkostendokumentation soll auch nicht ausgeweitet werden. Vielmehr sollen die Leistungserbringer in den Abrechnungsverfahren zur Angabe über die Gründe für Mehrkosten im Wege elektronischer und digital auswertbarer Daten verpflichtet werden. Dieses Verfahren würde schlank ausgestaltet sein. Damit wäre der Mehrkostenbericht aussagekräftiger und könnte die Leistungserbringer entlasten, die immer wieder mit der Pauschalkritik konfrontiert werden, ungerechtfertigt Mehrkosten zu erheben.
Keine umwälzenden Veränderungen
OT: Wie misstrauisch sind Sie gegenüber Positionen seitens der Leistungserbringer, die beispielsweise vorgeschlagen haben, statt über 1000 Einzelverträge künftig Leitverträge zwischen Krankenkassen und maßgeblichen Spitzenorganisationen der Leistungserbringer abzuschließen?
Meyerhoff-Grienberger: Misstrauisch ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Ich sehe allerdings keine Notwendigkeit für eine solche Einschränkung der vertraglichen Möglichkeiten. Eine Bündelung von Vertragshoheiten kann zwar durchaus hilfreich sein, ist aber aufgrund der heutigen Rechtslage bereits machbar. Wir kennen im Hilfsmittelversorgungssystem Kollektiv- und Selektivverträge. Soweit erforderlich, können dadurch ebenso regionale Besonderheiten in Verträgen abgebildet werden. Und allen Verträgen kann jeder vertragsungebundene Leistungserbringer beitreten. So haben wir bessere vertragliche Gestaltungsspielräume. Die Anforderungen des HMV sind den Verträgen mindestens zugrunde zu legen. Damit existiert bereits ein einheitlicher Mindeststandard bei den Versorgungen. Auch hier bieten Leitverträge keinen Mehrwert. Nach heutiger Rechtslage können die Verträge über diesen Mindeststandard aber hinausgehen, sodass trotzdem ein Vertragswettbewerb bestehen bleibt.
OT: Geht es nach dem GKV-Spitzenverband, sollten Vertragsinhalte – das wären nach meinem Verständnis Vertragspartner, Preis, Umfang der Leistung – nicht im Internet veröffentlicht werden. Doch gerade für Versicherte wäre das doch die Möglichkeit, sich umfassend über die Angebote ihrer Krankenkasse zu informieren und diese vor allem zu vergleichen?
Meyerhoff-Grienberger: Die Informationsrechte und ‑notwendigkeiten für die Versicherten sind aus meiner Sicht etwas anders, aber ausreichend und transparent geregelt. Nach dem Gesetzeswortlaut haben die Krankenkassen ihre Versicherten über die zur Versorgung berechtigten Vertragspartner und über die wesentlichen Inhalte der Verträge zu informieren. Dies bedeutet, dass gerade die Vertragspartner nicht zu den Vertragsinhalten gehören, die allein der Veröffentlichungspflicht unterliegen. Eine Sichtbarmachung der Vertragspartner und Preise im Internet für die Konkurrenz hebelt den Vertragswettbewerb aus. Aufgrund des Sachleistungsprinzips ist die Preisinformation für die Versicherten zudem ohne Belang. Gegen eine Bekanntmachung des generellen Leistungsumfangs im Internet bestehen keine Bedenken. Was im Einzelfall erforderlich ist, steht auf einem anderen Blatt.
OT: Zum Schluss ein Ausblick: Wie wird die Hilfsmittelversorgung 2025 aussehen? Werden Reformen bis dahin schon greifen?
Meyerhoff-Grienberger: Ich gehe davon aus, dass einige Reformmaßnahmen im Hilfsmittelbereich in zwei Jahren erste Wirkungen entfalten. Zu umwälzenden Veränderungen der Aufgaben wird es meines Erachtens dadurch weder bei den Krankenkassen noch bei den Leistungserbringern kommen. Die Weiterentwicklung der Präqualifizierung wird aus meiner Sicht die politische Agenda in nächster Zeit dominieren, ebenso wie die Umgestaltung des Festbetragsinstruments. Im Übrigen werden sich mittelfristig neue Herausforderungen durch die zunehmende Digitalisierung ergeben, insbesondere durch die E‑Verordnung. Konstruktiv wäre, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, damit den Versicherten die notwendigen Hilfsmittel mit allen damit zusammenhängenden Dienstleistungen langfristig weiterhin in der gebotenen Qualität und im notwendigen Umfang zur Verfügung stehen. Gleichzeitig muss die Finanzierbarkeit vor dem Hintergrund der Ausgabendynamik gesichert sein. Davon profitieren am Ende alle.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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