Geändert hatte sich das Leben des Schweizers von Grund auf, als er sich entschied, mit einer hochmodernen bionischen Handprothese den Weg nach vorne anzutreten und eine vermeintliche Schwäche in eine Stärke umzuwandeln. Um auch anderen Mut zu machen, selbstbewusst mit ihren Besonderheiten umzugehen, entwickelte der gelernte Finanzfachmann vor zwei Jahren zusammen mit dem Zeichner David Boller die Comicserie „Bionicman“. Der dritte Band ist im Dezember 2020 erschienen und auch Netflix hat schon Interesse an einem Bionicman-Cartoon für sein Streamingportal bekundet. Seit der Geburtsstunde von „Bionicman“ schlüpft der 43-Jährige auch selbst in das Kostüm des Superhelden, um die Welt zu „enthindern“. „Rise and be Nice“ (2019 als „Enthinderungstour“ gestartet) lautet die Botschaft der Tour durch Schulen, Kindergärten und Sportcamps, bei der Kinder spielerisch zu Menschlichkeit und Akzeptanz motiviert werden. Nicht nur die Mobbingprävention ist sein Herzensanliegen. 2016 gründete Fornasier die gemeinnützige Stiftung „Give Children a Hand“, die in Zusammenarbeit mit Universitäten und der ETH Zürich körperlich beeinträchtigten Kindern mithilfe von maßgeschneiderten 3D-Druck-Handprothesen neue Möglichkeiten eröffnen soll, ihren Alltag zweihändig zu meistern. Im Interview spricht der „Superheld“ über seine Mission, Brücken zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zu schlagen.
OT: Wie ist aus Michel Fornasier der Bionicman geworden?
Michel Fornasier: Seit knapp fünf Jahren trage ich eine bionische Handprothese, jetzt neu die i‑Limb Quantum von Össur. Oft fragten mich die Kinder, ob diese Hand Superkräfte hätte. Anfangs verneinte ich die Frage. Daraufhin meinten die Kinder enttäuscht: „Eine Science-Fiction-mäßig aussehende Hand und nicht einmal Superkräfte.“ Irgendwann habe ich angefangen zu antworten: Man weiß es nicht so genau. Daraufhin waren die Kinder begeistert und sagten: „Wenn ich groß bin, möchte ich auch so eine Zauberhand haben.“ Den Bionicman-Comic entwickelte ich dann mit einem guten Kollegen, dem Schweizer David Boller, der lange Zeit in den USA lebte und für DC-Comics und Marvel-Charaktere wie Wonder Woman, Superman, Batman und Hulk zeichnete. Doch wollten wir einen Superhelden mit einem Handicap erschaffen. Seine Beeinträchtigung ist nicht seine Schwäche, sondern seine Superkraft. Dies ist ein anderes Mindset (Denkweise, Anm. d. Red.), denn normalerweise werden Superhelden zu Superhelden durch eine Gabe bzw. ein Talent. Sinnbildlich steht die fehlende Hand von Bionicman für alle Zahnlücken, abstehenden Ohren, große Nasen usw., sprich für alle Besonderheiten, die uns schlussendlich ausmachen. Mobbingprävention steht dabei im Fokus. Kinder sollen auf eine spielerische Art mit Comicbüchern und Cartoons für dieses Thema sensibilisiert werden.
Moderne Handprothese weckt Neugier
OT: Über den Bionicman sagen Sie: „Sein Herz ist der wichtigste Muskel“. Inwiefern spielt seine Einhändigkeit noch eine besondere Rolle? Wie hilft sie bei der „Enthinderungsmission“?
Fornasier: Die bionische Handprothese unterstützt Bionicman sehr. Die Comicfigur Michel ist stets einhändig unterwegs, sprich nie mit der künstlichen Hand. Durch die Handprothese wird Michel erst zu Bionicman. Seine Zauberhand ermöglicht ihm beispielsweise das Fliegen. Oder wenn er sein Handgelenk bewegt, kann er die Zeit zurück- oder vorwärtsdrehen. Der Horizont erweitert sich dadurch massiv, wenn Zeitreisen möglich sind. Weil Kinder Dinosaurier, Piraten, Einhörner und Cowboys lieben, mussten wir kreativ werden. Aber auch in der Tierwelt gibt es Tiere mit Handicaps. So rettet beispielsweise Bionicman in einer Geschichte ein dreibeiniges Rehkitz vor dem Mähdrescher. Die Bionicman-Comicbücher sind Popkultur mit Inhalt und absolut gewaltfrei. Themen wie Beeinträchtigungen und Mobbingprävention sind oft schwierig für Kinder. Daher sollte man dies spielerisch angehen und nicht schulmeisterlich mit erhobenem Zeigefinger.
Früher, als die Mitmenschen meinen Armstumpf entdeckten, wurde ich immer bemitleidet. Als ich dann die moderne Handprothese trug, war die Optik eine komplett andere. Das sieht faszinierend aus und so innovativ. Damit wurde Neugier geweckt. Ein komplett anderer Fokus. Und beim Bionicman ist es auch so. Eine Besonderheit ist dann nicht mehr fremd oder seltsam, sondern positiv und spannend.
OT: Glauben Sie, dass es Kinder heute leichter haben als Sie früher?
Fornasier: Die Gesellschaft ist feinfühliger geworden. Tabus werden gebrochen und ein reger Dialog findet statt. Social-Media-Plattformen sowie Selbsthilfegruppen haben da sicherlich geholfen. Gruppen, in denen sich Leute austauschen, z. B. Eltern von Kindern mit einer körperlichen Beeinträchtigung beraten sich: Wie macht ihr das mit dem Fahrradfahren oder mit den zu langen Pulloverärmeln? Wichtig sind auch Events wie z. B. Paralympics oder Cybathlon (Michel Fornasier ist Cybathlon-Botschafter, Anm. d. Red.) Diese tragen dazu bei, dass nicht Mitleid, sondern Bewunderung im Mittelpunkt steht. Bei den Paralympics hat sich seit London 2012 viel verändert. In Brasilien waren die Stadien vier Jahre später voller begeisterter Zuschauer. Das Publikum feuerte die Athletinnen und Athleten an und würdigte ihre großartigen Leistungen. Die Teilnehmer trainieren hart und haben die Anerkennung mehr als verdient. Menschen mit Beinprothesen laufen einen Marathon oder rennen die 100-Meter-Distanz unter elf Sekunden.
Künstliche Hand als Schutzschild
OT: Inwiefern können Sie mit Ihrer Stiftung der Inklusion weiter Vorschub leisten?
Fornasier: Unsere Stiftung „Give Children a Hand“ fertigt zusammen mit Spezialistenteams innovative 3D-Drucker-Handprothesen für Kinder. Wichtig ist, die Kinder dürfen ihre „Zauberhand” mitdesignen. Meine erste Handprothese erhielt ich mit sieben Jahren. Leider ein Erlebnis wie aus einem Horrorfilm. Bei der Anprobe lagen überall Bein- und Handprothesen rum – Hautfarben und „menschenähnlich“. Als kleiner Junge machte mir dies Angst, ich war traumatisiert. Schon damals manifestierte sich der Wunsch in mir, als Erwachsener den Kindern Hände zu schenken, welche bunt sind, glitzern und aussehen wie ein Spielzeug. Für Mädchen drucken wir oft Hände mit Elsa und Anna von Disneys „Die Eiskönigin“ oder mit Regenbogen- und Einhörner-Motiven. Die Jungs interessieren sich da mehr für Autos, Superhelden oder Fußball. Alle unsere Hände haben eine rudimentäre Funktion. Die Kinder können die Finger auf und zu bewegen, Dinge greifen und von A nach B bewegen oder damit Fahrradfahren. Das Design ist dabei ganz wichtig. Ein Junge wünschte sich seine Hand in Hulk-Grün. Als wir dann noch Elemente eingebaut haben, die im Dunkeln leuchten, war die Überraschung perfekt. Der Junge war mit Stolz erfüllt, als er am Abend allen zeigen konnte, wie cool seine Hand leuchtet. Für Kinder ist diese künstliche Hand viel mehr als ein Stück Kunststoff, es ist eine Art Schutzschild, welches sie vor Mobbing schützt und ihr Selbstvertrauen stärkt. Eine Mutter hat uns geschrieben, dass ihre Tochter ihre künstliche Hand abends mit ins Bett nimmt, dass sie sich mit ihr auch im Schlaf beschützt fühlt. Morgens ziehen die Kinder ihre Hand an und sagen sich: „Mir kann nichts passieren, denn ich bin beschützt von Bionicmans „Zauberhand“. Andere Kinder in der Schule respektieren sie, weil sie glauben, sie haben Superkräfte.
OT: Werden dadurch auch die Wahrnehmung und der Umgang mit Behinderung in der Gesellschaft beeinflusst?
Fornasier: Wenn Menschen das Wort Handprothese hören, denken sie oft an eine Schaufensterpuppenhand oder einen Käpt’n‑Hook-Haken. Wir möchten in Zusammenarbeit mit Universitäten und der ETH Zürich aufzeigen, dass Handprothesen sehr innovativ und faszinierend daherkommen können. Wir möchten die Denkweise, eine Prothese hat was Schauriges, verbannen. Dies geschieht nicht von heute auf morgen. Aber Geduld bringt bekanntlich Rosen.
OT: Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf? Welche Empfehlungen können Sie Erwachsenen geben, um die Welt zu „enthindern“?
Fornasier: Das Wort „Enthinderung“ steht für einen Brückenschlag zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Wie gehe ich auf Menschen mit einem Handicap zu? Soll ich Hilfe anbieten oder nicht? Wie gehe ich mit Berührungsängsten um? Berührungsängste sind auch ein Handicap, welches uns behindert, auf Mitmenschen zuzugehen. Am Ende des Tages sind wir alles Menschen – mit oder ohne Beeinträchtigung. Alle gleich und alle besonders.
Die Fragen stellte Jana Sudhoff.
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