Gerollt und getra­gen — Die Ent­de­ckung zwei­er Tragerollstühle

K. Dittmer
Über ein Regionalmuseum in Gütersloh erfuhr der Autor vom Angebot eines Hotels in Bad Wiessee am Tegernsee, zwei „antike“ Rollstühle zu übernehmen. Ein Sammler alter Motorräder hatte dem Hotelbesitzer den Hinweis gegeben, dass es für diese Rollstühle sicher einen Interessenten gebe. Klaus Dittmer erwarb sie, und über Umwege gelangten sie schließlich zu ihm. Erst bei ihrer Restaurierung zeigte sich, dass die 100 Jahre alten Tragerollstühle auch faltbar sind – ein ungewöhnlicher Fund, wie der Autor im Folgenden näher ausführt.

Im Früh­ling 2013 besuch­te ich ein klei­nes medi­zin­his­to­ri­sches Muse­um in Güters­loh auf der Suche nach Roll­stuhl­ex­po­na­ten für eine geplan­te Son­der­aus­stel­lung im Zusam­men­hang mit der OTWorld 2014. In dem klei­nen Muse­um über­rasch­te mich des­sen Kura­tor Mar­tin Wede­king mit eini­gen ein­ma­li­gen Expo­na­ten, dar­un­ter einem Elek­tro­roll­stuhl der Mar­ke „West­fa­lia“, her­ge­stellt etwa 1929 bei der Fir­ma H. W. Volt­mann in Bad Oeyn­hau­sen. Es ist kaum zu glau­ben, dass es zu die­ser Zeit bereits Elek­tro­roll­stüh­le gab – wäre da nicht die­ses gut erhal­te­ne Expo­nat. Mit dem Aus­tausch von Foto­ma­te­ria­li­en, die ich 2014 auch für einen Fach­ar­ti­kel ver­wen­den konn­te, ent­stand die Idee, Kran­ken­fahr­zeu­ge vor dem Ver­ges­sen zu bewahren.

Anzei­ge

Ein Ange­bot aus dem Nach­lass einer Kur­ein­rich­tung am Tegern­see über zwei „anti­ke“ Roll­stüh­le erreich­te mich über das Muse­um in Güters­loh, das nicht über die finan­zi­el­len Mit­tel für einen Ankauf ver­füg­te. Die ers­ten Fotos der Stüh­le und deren Beschrei­bung waren viel­ver­spre­chend, denn bei­de waren unre­stau­riert im Ori­gi­nal­zu­stand. Mit dem Besit­zer des Hotels „Rex“ in Bad Wies­see (Abb. 1) wur­de ich rasch han­dels­ei­nig und hat­te nun zwei volu­mi­nö­se Tra­ge­roll­stüh­le in Bad Wies­see ste­hen, aber noch lan­ge nicht in Berlin.

Hier kam mir ein Netz­werk enga­gier­ter Muse­ums­mit­ar­bei­ter zu Hil­fe: Das Deut­sche Muse­um in Mün­chen orga­ni­sier­te die Abho­lung aus Bad Wies­see nach Mün­chen, von wo aus bei­de Roll­stüh­le mit einem der gele­gent­li­chen Trans­por­te des Deut­schen Hygie­ne-Muse­ums nach Dres­den geschafft wur­den, wo ich die guten Stü­cke end­lich in Emp­fang neh­men konnte.

Das älte­re Modell, ca. 1904 gefer­tigt, ist ein Tra­ge­roll­stuhl der Fir­ma Volt­mann aus Bad Oeyn­hau­sen. Die Holzkon­struktion aus Buche ist dem Kut­schen­bau ent­lehnt, aber mit 28 Schar­nier­ge­len­ken so kon­stru­iert, dass der schwe­re Tra­ge­stuhl auch zusam­men­ge­fal­tet wer­den kann. Der Holz­rah­men des Fahr­ge­stells weist zwei Bruch­stel­len auf, die mit Eisen­be­schlä­gen sta­bi­li­siert wur­den. Die­se Metall­ver­stär­kun­gen erhö­hen das Gewicht des Stuhls auf 30 kg.

Die Fir­ma Volt­mann bestand seit 1871 wahr­schein­lich als Schlos­se­rei, wobei der Schlos­ser­meis­ter Volt­mann ver­mut­lich ange­sichts der Inva­li­den des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges 1870/71 mit der Kon­struk­ti­on von Roll­stüh­len begann (Abb. 2). Zwei Söh­ne tra­ten in die Fuß­stap­fen des Vaters; der ältes­te Sohn, Wil­helm, grün­de­te 1901 einen eige­nen Betrieb, der zweit­äl­tes­te, Her­mann, über­nahm den väter­li­chen Betrieb. Bereits um 1903 galt Bad Oeyn­hau­sen als roll­stuhl­ge­rech­te Kur­stadt mit den ers­ten ver­füg­ba­ren Selbstfahrern.

Der Tra­ge­roll­stuhl Modell „West­fa­lia“ ist offen­sicht­lich ein Son­der­mo­dell, das nicht in den alten Pro­dukt­un­ter­la­gen auf­ge­lis­tet ist (Abb. 3). Der Emp­fän­ger war ein Hotel in Bad Wies­see am Tegern­see, das – 1901 erbaut – der höhe­ren Gesell­schaft einen Kur­auf­ent­halt anbot. Um 1910 wur­den beson­ders im Alpen­vor­land Mol­ke­ku­ren ange­bo­ten. In Mey­ers Kon­ver­sa­ti­ons-Lexi­kon von 1897 heißt es: „Man benutzt die M[olke] als Heil­mit­tel bei Blut­sto­ckun­gen im Unter­leib, bei Gicht, Skrofu­lo­se [Haut­tu­ber­ku­lo­se], beson­ders bei ver­schie­de­nen chro­nisch ver­lau­fen­den Affek­tio­nen des Respi­ra­ti­ons­ap­pa­rats, vor allem bei der Schwind­sucht, oft gemischt mit Mine­ral­wäs­sern, wie Ober­salz­brunn, Emser Krän­chen. Man läßt die M[olke] am bes­ten bei Beginn der Krank­heit trin­ken, wenn die Pati­en­ten hus­ten und spär­lich expek­to­rie­ren [Schleim aus­wer­fen], die loka­len Erschei­nun­gen aber erst wenig aus­ge­bil­det sind. Appe­tit und Ver­dau­ung müs­sen unge­stört sein, auch darf kei­ne Nei­gung zu Durch­fall bestehen“ 1.

Durch Zufall wur­de 1909 bei einer Boh­rung nach Erd­öl in Wies­see eine Jod-Schwe­fel-Quel­le ent­deckt, die nach einer ana­ly­ti­schen Bewer­tung des Was­sers einen umfang­rei­che­ren Kur­be­trieb ermög­lich­te. Pro­mi­nen­te erho­lung­su­chen­de Gäs­te des Hotels waren unter ande­rem König Fer­di­nand von Bul­ga­ri­en, spä­ter Max Schme­ling mit sei­ner Frau Anny Ondra und die Fami­lie Krupp von Boh­len und Hal­bach. Bei allem Luxus des Kur­ho­tels der geho­be­nen Klas­se fehl­te jedoch ein Per­so­nen­auf­zug, sodass die Lösung für älte­re oder gebrech­li­che Gäs­te der Tra­ge­roll­stuhl sein muss­te. Im Hotel­be­trieb war die Nach­fra­ge nach die­sem Stuhl, der auch als Schie­be­roll­stuhl genutzt wer­den konn­te, offen­bar so groß, dass ein zwei­tes Exem­plar mit den glei­chen Maßen und ver­gleich­ba­rer Mecha­nik in Ber­lin in Auf­trag gege­ben wurde.

Die Fir­ma Fried­rich Albrecht fer­tig­te die­sen falt­ba­ren Stahl­rohr-Tra­ge­roll­stuhl mit gefloch­te­nem Sitz und Rücken­teil (Abb. 4). Bei die­sem Stuhl liegt das Eigen­ge­wicht bei 33 kg. In den his­to­ri­schen Unter­la­gen der Fir­ma Fried­rich Albrecht, gegrün­det 1888 in Ber­lin, fin­den sich kei­ne Abbil­dun­gen über die Fer­ti­gung eines Tra­ge­roll­stuhls. Aller­dings zeigt der Ent­wurf eines falt­ba­ren Schie­be­roll­stuhls um 1912, der sich in der Samm­lung von Robert Albrecht in Ber­lin befin­det, eini­ge tech­ni­sche Merk­ma­le, die beim Tra­ge­roll­stuhl aus Bad Wies­see wie­der­zu­fin­den sind und damit die zeit­li­che Ein­ord­nung um 1912 recht­fer­ti­gen. 1943 wur­de das Hotel „Rex“ auf Ver­lan­gen der Wehr­macht in ein Reser­ve-Laza­rett umge­wan­delt, das 1945 von der ame­ri­ka­ni­schen Armee beschlag­nahmt wur­de. In die­ser Zeit dürf­ten die Tra­ge­roll­stüh­le ihre letz­te stän­di­ge Nut­zung erfah­ren haben.

Die bei­den beschrie­be­nen Tra­ge­roll­stüh­le sind Bei­spie­le für her­aus­for­dern­de Pro­ble­me und deren Lösun­gen inklu­si­ve deren tech­ni­sche Umset­zung in einer Zeit des indi­vi­du­el­len Roll­stuhl­baus zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts in Deutsch­land. Daher dan­ke ich jenen, die über ein Jahr­hun­dert eine sol­che hand­werk­li­che Leis­tung respek­tier­ten und zwei Tra­ge­roll­stüh­le auch dann noch bewahr­ten, als deren Nut­zen entfiel.

Der Autor:
Klaus Ditt­mer
Argen­ti­ni­sche Allee 20
14163 Ber­lin
Klaus.Dittmer.Orthopaedie@gmail.com

Zita­ti­on
Ditt­mer K. Gerollt und getra­gen — Die Ent­de­ckung zwei­er Tra­ge­roll­stüh­le. Ortho­pä­die Tech­nik, 2018; 69 (9): 38–39

Wei­ter­füh­ren­de Literatur:

Ditt­mer K. Ortho­pä­die-Tech­nik: Begleit­heft zur Aus­stel­lung: Vom Kran­ken­fahr­stuhl zum Rol­li. OTWorld, 2014

Wede­king M. Bad Oeyn­hau­sen – Stadt der Roll­stüh­le. Ein Gewer­be­zweig zwi­schen 1870 und 1945. Bei­trä­ge zur Hei­mat­kun­de der Stadt Löh­ne und Bad Oeyn­hau­sen, 2013; 22: 21–42

 

  1. Mey­ers Kon­ver­sa­ti­ons-Lexi­kon. 5., gänz­lich neu bear­bei­te­te Auf­la­ge. Band 12. Leip­zig und Wien: Biblio­gra­phi­sches Insti­tut, 1897: 436
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