G‑BA ver­ein­facht Zugang zu Hilfsmitteln

In einem Gastbeitrag erklärt Rechtsanwalt Nico Stephan, Anwalt bei Stephan & Hein Rechtsanwälte sowie Geschäftsführer des Fachverbandes für Orthopädie- und Rehabilitationstechnik, Sanitäts- und medizinischer Fachhandel Sachsen und Thüringen e. V., wie der Gesetzgeber und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Zugang zu teilhaberelevanten Hilfsmitteln für Behinderte und schwer erkrankte Versicherte in der GKV vereinfachen.

Der Gesetz­ge­ber hat mit dem Gesund­heits­ver­sor­gungs­stär­kungs­ge­setz (GVSG), wel­ches zum 01.03.2025 in Kraft getre­ten ist, in § 33 Absatz 5c SGB V eine Neu­re­ge­lung geschaf­fen, die der Beschleu­ni­gung von Bewil­li­gungs­ver­fah­ren im Hilfs­mit­tel­be­reich in beson­ders gela­ger­ten Fäl­len die­nen soll. Die gesetz­li­che Neu­re­ge­lung ent­las­tet die Betei­lig­ten und redu­ziert büro­kra­ti­sche Auf­wän­de. Es wur­de erkannt, dass zur Siche­rung der Teil­ha­be sowie einer mög­lichst selbst­stän­di­gen Lebens­füh­rung und einer damit ein­her­ge­hen­den Lebens­qua­li­tät sowie zur Ver­mei­dung von Begleit- und Fol­ge­er­kran­kun­gen eine zeit­na­he Ver­sor­gung der Betrof­fe­nen mit medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln von gro­ßer Wich­tig­keit ist.

Ins­be­son­de­re ist bei noch im Wachs­tum befind­li­chen Kin­dern oder jun­gen Erwach­se­nen eine gleich­mä­ßi­ge hilfs­mit­tel­ge­stütz­te För­de­rung der kogni­ti­ven und moto­ri­schen Ent­wick­lung sowie eine früh­zei­ti­ge und kon­ti­nu­ier­li­che Mobi­li­sa­ti­on ein posi­ti­ver Aspekt, der Beein­träch­ti­gun­gen im täg­li­chen Leben stark beein­flus­sen kann. Bei der Bean­tra­gung von medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln wer­den nach der gesetz­ge­be­ri­schen Grund­aus­rich­tung Leis­tungs­an­trä­ge durch die Kran­ken­kas­sen selbst oder durch den medi­zi­ni­schen Dienst (MD) geprüft. Eine zen­tra­le Rol­le bei der Prü­fung gestell­ter Anträ­ge spielt die Fra­ge, ob das bean­trag­te Hilfs­mit­tel im Ein­zel­fall geeig­net, erfor­der­lich und ange­mes­sen ist, um dem all­ge­mei­nen Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung zu genügen.

Die Fra­ge der Geeig­ne­t­heit beur­teilt sich danach, ob das bean­trag­te Hilfs­mit­tel auf­grund sei­ner tech­ni­schen Kon­fi­gu­ra­ti­on die Eig­nung auf­weist, den vor­han­de­nen Funk­ti­ons­ver­lust beim Ver­si­cher­ten aus­zu­glei­chen. Die Fra­ge der Ange­mes­sen­heit beur­teilt die Kos­ten-Nut­zen-Rela­tio­nen der ange­streb­ten Ver­sor­gung. Hier­bei sind die spe­zi­fi­schen Beson­der­hei­ten des Ein­zel­falls im Hin­blick auf die zu befrie­di­gen­den Grund­be­dürf­nis­se zu beachten.

Haupt­au­gen­merk in der Prü­fung liegt regel­mä­ßig auf der Erfor­der­lich­keit des Hilfs­mit­tels. Häu­fig wer­den Leis­tungs­an­trä­ge an den MD über­stellt, wodurch es zu enor­men Ver­zö­ge­run­gen in der Bewil­li­gungs­pra­xis kommt. Für die Fra­ge der Erfor­der­lich­keit ist es maß­ge­bend, ob das Hilfs­mit­tel nach dem all­ge­mei­nen aner­kann­ten Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft („evi­dence based“) zur Errei­chung der in § 33 Abs. 1 SGB V genann­ten Ver­sor­gungs­zie­le objek­tiv erfor­der­lich ist. Dabei ist auch zu prü­fen, inwie­weit bereits eine Aus­stat­tung mit ent­spre­chen­den oder ähn­li­chen Hilfs­mit­teln vor­liegt und gege­be­nen­falls das bean­trag­te Hilfs­mit­tel eine Über­ver­sor­gung darstellt.

Mit der Neu­re­ge­lung des § 33 Abs. 5c SGB V setzt der Gesetz­ge­ber für bestimm­te Ver­sor­gung­kon­stel­la­tio­nen an der hoch umkämpf­ten Dis­kus­si­ons­zo­ne der Erfor­der­lich­keit an, indem er einen gesetz­li­chen Ver­mu­tungs­tat­be­stand schafft. So wird nach der geschaf­fe­nen Neu­re­ge­lung die Erfor­der­lich­keit eines Hilfs­mit­tels ver­mu­tet, wenn das Hilfs­mit­tel durch behan­deln­de Ver­trags­ärz­te eines sozi­al­päd­ia­tri­schen Zen­trums (SPZ) oder eines medi­zi­ni­schen Behand­lungs­zen­trums für Erwach­se­ne mit geis­ti­ger Behin­de­rung oder schwe­ren Mehr­fach­be­hin­de­run­gen (MZEB) emp­foh­len wird.

Eine regel­haf­te geson­der­te Prü­fung der medi­zi­ni­schen Erfor­der­lich­keit durch Kran­ken­kas­se oder MD soll ange­sichts der beson­de­ren Eil­be­dürf­tig­keit bei der Ver­sor­gung und der not­wen­di­gen Gewähr­leis­tung gesell­schaft­li­cher Teil­ha­be der betrof­fe­nen Ver­si­cher­ten nicht mehr not­wen­dig sein. Die Kran­ken­kas­sen haben in den vor­ge­nann­ten Fäl­len von einer medi­zi­ni­schen Erfor­der­lich­keit aus­zu­ge­hen, soweit nicht offen­kun­dig ist, dass eine medi­zi­ni­sche Erfor­der­lich­keit der bean­trag­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung nicht vor­liegt, etwa im Fall von offen­sicht­lich nicht gerecht­fer­tig­ten, unwirt­schaft­li­chen Mehrfachversorgungen.

Mit der geschaf­fe­nen gesetz­li­chen Ver­mu­tung wird die Beweis­last im Rah­men der Bean­tra­gung von Hilfs­mit­teln neu jus­tiert. Durch die gesetz­li­che Ver­mu­tung wird bei der Rechts­an­wen­dung das Vor­lie­gen einer tat­sa­chen­ba­sie­ren­den Rechts­ver­mu­tung (kon­kret: die Erfor­der­lich­keit des Hilfs­mit­tels) unter­stellt. Im Streit­fall hat ein Rich­ter die gesetz­li­che Ver­mu­tung sei­ner Ent­schei­dung zu Grun­de zu legen, sofern die Ver­mu­tung durch die Kran­ken­kas­se nicht wider­legt wird oder ihr der Beweis des Gegen­teils gelingt.

Für die Ver­si­cher­ten wird damit die Posi­ti­on im leis­tungs­recht­li­chen Ver­fah­ren ver­bes­sert, und es ist anzu­neh­men, dass strei­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen durch Kran­ken­kas­sen nur im Aus­nah­me­fall geführt wer­den. Ein eige­ner Prüf­raum steht Kran­ken­kas­sen im Bereich der Erfor­der­lich­keit ledig­lich bei der Fra­ge der Beur­tei­lung vor­han­de­ner Hilfs­mit­tel oder bei der Fra­ge von Mehr­fach­aus­stat­tun­gen zu. Die Schwel­le für eine medi­zi­ni­sche Gegen­ar­gu­men­ta­ti­on durch den MD ist durch die Auf­wer­tung der Kom­pe­ten­zen von SPZ und MZEB auf­grund ihres inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansat­zes deut­lich erhöht.

Es bleibt abzu­war­ten, wie die Kran­ken­kas­sen die gesetz­li­che Neu­re­ge­lung aus­fül­len wer­den. Leis­tungs­er­brin­ger, die auf Ver­sor­gun­gen von Ver­si­cher­ten in SPZ und MZEB spe­zia­li­siert sind, soll­ten in Zukunft ihren Blick auf die Hand­ha­bung und Pra­xis der Kran­ken­kas­sen rich­ten und die Fra­ge einer Regel­pra­xis oder Ein­zel­fall­hand­ha­bung bei der Prü­fung der Erfor­der­lich­keit kri­tisch beleuch­ten. Bei einer offen­sicht­lich fehl­ge­lei­te­ten Hand­ha­bung, trotz gesetz­li­cher Ver­mu­tung, wäre hier die Rechts­auf­sicht der Kran­ken­kas­sen der ers­te Ansprech­part­ner. Zudem stel­len sich Fra­gen zur Umset­zung in der Pra­xis: Wie lässt sich schnell erken­nen, dass das Rezept aus einem SPZ oder MZEB stammt, wie wer­den ent­spre­chen­de Kos­ten­vor­anschlä­ge sicht­bar übermittelt?

Dis­ku­tiert wer­den ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze, unter ande­rem der hän­di­sche Ver­merk auf der Ver­ord­nung, die Auf­nah­me eines Hin­wei­ses zu § 33 Abs. 5c SGB V im eKV, die Auf­nah­me eines Klam­mer­zu­sat­zes im Arzt­stem­pel zur Kenn­zeich­nung eines SPZ/MZEB oder digi­ta­le Lösun­gen wie maschi­nen­les­ba­re Zusät­ze auf der Ver­ord­nung selbst. Die Beant­wor­tung die­ser und wei­te­rer Fra­gen wird sich zukünf­tig in der prak­ti­schen Umset­zung zeigen.

Die Neu­re­ge­lung im SGB V wur­de zudem flan­kiert durch einen umfang­rei­chen Beschluss des gemein­sa­men Bun­des­aus­schus­ses (G–BA), durch den die Richt­li­nie über die Ver­ord­nung von Hilfs­mit­teln in der ver­trags­ärzt­li­chen Ver­sor­gung (Hilfs­mit­tel­richt­li­nie) mit Wir­kung zum 16.05.2025 grund­le­gend über­ar­bei­tet wurde.

Der G‑BA hat­te bereits im Jahr 2023 mit einem Bera­tungs­ver­fah­ren begon­nen, um die Hilfs­mit­tel­richt­li­nie mit Blick­punkt auf die Ver­sor­gung von Men­schen mit kom­ple­xen Behin­de­run­gen zu über­prü­fen. Nach Dar­stel­lung des G‑BA gestal­te­te sich die Fest­stel­lung des genau­en Bedarfs, die ärzt­li­che Ver­ord­nung und auch der Geneh­mi­gungs­pro­zess bei bestimm­ten Pati­en­ten­grup­pen oft anspruchs­voll und zeit­in­ten­siv. Mit der Über­ar­bei­tung der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie stand das Ziel der Ver­ein­fa­chung des kom­pli­zier­ten Prüf- und Geneh­mi­gungs­pro­zes­ses sowie die Gewähr­leis­tung einer schnel­le­ren Ver­sor­gung mit Hilfsmitteln.

Die neu gestal­te­te Hilfs­mit­tel­richt­li­nie ent­hält unter § 3 erst­mals die For­mu­lie­rung eines soge­nann­ten Ver­sor­gun­gan­spruchs, der dann besteht, wenn eine Behin­de­rung bei der Befrie­di­gung von Grund­be­dürf­nis­sen des täg­li­chen Lebens aus­zu­glei­chen und dadurch auch die selbst­be­stimm­te und gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be zu för­dern ist, soweit es sich nicht um Leis­tun­gen von ande­ren Leis­tungs­trä­gern handelt.
Hier­durch wird die Teil­ha­be von schwer erkrank­ten und behin­der­ten Men­schen erheb­lich gestärkt. Wei­ter­hin wird durch die neue Hilfs­mit­tel­richt­li­nie das Aus­stel­len von ver­trags­ärzt­li­chen Ver­ord­nun­gen erleich­tert. Zukünf­tig dür­fen Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen auch per Video­sprech­stun­de und in Aus­nah­me­fäl­len sogar auf Basis ledig­lich eines tele­fo­ni­schen Kon­tak­tes aus­ge­stellt wer­den. Ver­si­cher­te erhal­ten zudem einen bes­se­ren Infor­ma­ti­ons­zu­gang zur Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Sie kön­nen unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen die Erstel­lung eines soge­nann­ten Teil­ha­be­plans gegen­über der Kran­ken­kas­se bean­spru­chen. Wesent­lich und prä­gend ist die Erwei­te­rung der inhalt­li­chen Aus­ge­stal­tung einer ver­trags­ärzt­li­chen Verordnung.

Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen kön­nen künf­tig durch wei­te­re, die Ver­ord­nung kon­kre­ti­sie­ren­de Unter­la­gen ergänzt wer­den. So kön­nen nun auch Hin­wei­se auf spe­zi­fi­sche Bedar­fe in der Ver­ord­nung gege­ben wer­den. Dies sol­len unter ande­rem die maß­geb­li­chen Ver­sor­gungs­zie­le, rele­van­te Kon­text­fak­to­ren und Syn­er­gien sowie Aus­füh­run­gen zu Funk­tio­na­li­tä­ten und wesent­li­chen Gebrauchs­vor­tei­len und deren Aus­wir­kun­gen auf die Ver­sor­gungs­zie­le sein. Es kön­nen der Ver­ord­nung nun­mehr auch geson­der­te Anla­gen bei­gefügt wer­den, die durch die Kran­ken­kas­sen zu berück­sich­ti­gen sind.

Die Über­ar­bei­tung der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie stärkt deut­lich die Bedeu­tung von medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln im Ver­sor­gungs­sys­tem. Wie stark und in wel­cher kon­kre­ten Aus­prä­gung Ver­trags­ärz­te zukünf­tig die Vor­ga­ben der Richt­li­nie umset­zen wer­den, wird sich zei­gen. Dies setzt aller­dings vor­aus, dass den Ver­trags­ärz­ten zukünf­tig wie­der mehr Zeit ver­bleibt, um sich mit den spe­zi­fi­schen Belan­gen ihrer Pati­en­ten inten­si­ver zu befassen.

Bei­de vor­ge­stell­ten Initia­ti­ven und deren kon­kre­te Umset­zung zei­gen den rich­ti­gen Weg zu Auf­wer­tung von medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln im Ver­sor­gung­all­tag auf. Die Nut­zung der neu­en Mög­lich­kei­ten führt über Auf­klä­rung und Wis­sen zur Anwen­dung und Wir­kung der medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­tel, mit­hin zu einer Ver­bes­se­rung der ärzt­li­chen Aus­bil­dung, ins­be­son­de­re im Bereich der tech­ni­schen Ortho­pä­die. Der Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), die Initia­ti­ve ‘93, die Ver­ei­ni­gung Tech­ni­sche Ortho­pä­die (VTO) und die Deut­sche Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung (DGIHV) set­zen sich seit Jah­ren nach­hal­tig für eine Ver­bes­se­rung der ent­spre­chen­den Ausbildungs­inhalte für die Ärz­te­schaft ein.

Nico Ste­phan

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