OT: Wie ist die Idee zur Studie entstanden?
David Remy: Exoskelette werden bislang von Expert:innen anhand subjektiver Kriterien eingestellt, also aus einer Außensicht. Manche Kriterien, wie zum Beispiel den Energieverbrauch zu senken, lassen sich dabei auch quantitativ und automatisch erfassen und optimieren. Hier stellt sich aber die Frage: Was will man eigentlich? Will man tatsächlich den Energieverbrauch minimieren, das Gelenk entlasten, den Komfort erhöhen oder erreichen, dass sich die Nutzer:innen wohlfühlen? Unsere Idee ist es, die Nutzer:innen in den Vordergrund zu stellen und sie selbst entscheiden zu lassen, welche Funktionen für sie am wichtigsten sind.
OT: Mit welchen Fragestellungen sind Sie an die Studie herangegangen?
Remy: Wir haben uns gefragt, ob die Nutzer:innen es tatsächlich schaffen, das Exoskelett in absehbarer Zeit selbst einzustellen. Und ob sie dabei verlässlich sind. Also, ob sie bei wiederholten Durchgängen auch immer wieder die gleichen Einstellungen wählen oder aber verschiedene.
OT: Wie war die Studie aufgebaut?
Remy: Es gab zwei Gruppen mit jeweils zwölf Teilnehmer:innen. Die eine Gruppe hatte noch nie ein Exoskelett benutzt, die andere hatte Vorerfahrungen. Ausgestattet mit Sprunggelenks-Exoskeletten liefen die Proband:innen auf einem Laufband. Auf einem Touchscreen konnten die Teilnehmer:innen beliebige Punkte auswählen. Dadurch wurden sowohl die Stärke der Unterstützung als auch der Zeitpunkt der maximalen Unterstützung verändert, also zwei Parameter, die steuern, wie sich die Unterstützung anfühlt. Die Auswahl der Punkte hat dann zu einer bestimmten, individuellen Einstellung geführt. Wir haben den Proband:innen – das war sozusagen ein kleiner Trick – ganz bewusst nicht gesagt, wie das Mapping zwischen Punkten auf dem Tablet und Einstellungen aussieht und zwischen den einzelnen Durchgängen die Achsen, also Stärke und Zeitpunkt, vertauscht oder gedreht, damit sie nicht immer auf die gleichen Punkte klicken wie bei den vorherigen Durchgängen. Wir haben wenig Anweisungen gegeben. Es ging darum, dass sich die Proband:innen ausprobieren können, aus dem Gefühl heraus entscheiden.
Unterschiedliche Vorlieben
OT: Welche Ergebnisse lieferte die Studie?
Remy: Das wohl wichtigste Ergebnis für uns: Es hat funktioniert (lacht). Innerhalb von durchschnittlich 1:45 Minuten sind die Nutzer:innen auf eine Einstellung gekommen. Und das haben sie sehr verlässlich gemacht. Die Abweichungen zwischen den verschiedenen Durchgängen waren minimal. Es wurde zudem deutlich, dass die Nutzer:innen unterschiedliche Vorlieben haben. Manche wollten viel Unterstützung, manche fast gar keine. Es zeigten sich auch Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Diejenigen, die schon Erfahrung mit Exoskeletten hatten, wollten mehr Unterstützung als diejenigen ohne Vorerfahrung. Was sich ebenfalls herausstellte: Gegen Ende hin wollten die Nutzer:innen mehr Unterstützung. Vorliebe ist also etwas, das dynamisch ist, sich mit der Zeit verändert. Die Hauptergebnisse waren also kurz gesagt: Es funktioniert, es funktioniert schnell und verlässlich und es erscheint notwendig, weil es individuelle Unterschiede gibt.
OT: Gab es Überraschungen?
Remy: Als Wissenschaftler hat es mich überrascht, dass es so gut funktioniert. Denn auch wir – wie viele andere Wissenschaftler:innen – haben gedacht, dass wir immer objektive, messbare Kriterien brauchen und haben lange ignoriert, die Betroffenen als Datenquelle nutzen zu können. Wir waren uns unsicher, ob sie verlässliche Informationen liefern. Im Nachhinein scheint es logisch, aber es hätten viele unterschiedliche Ergebnisse herauskommen können, zum Beispiel, dass die Nutzer:innen bei jedem Durchgang andere Einstellungen auswählen. Mich hat wirklich überrascht, wie zielstrebig und präzise die Teilnehmer:innen die für sie passende Einstellung gefunden haben. Was mich auch gewundert hat: Nahezu alle, also 23 von 24 Personen, wollten Unterstützung. Und das ist nicht selbstverständlich. Gerade wenn man noch nie in einem Exoskelett gestanden hat, liegt es nahe, das System komplett auszuschalten, weil sich das Gehen dann gewohnt und somit am besten anfühlt. Und es gab noch eine weitere Überraschung: Man könnte denken, Exoskelette unterliegen den gleichen Trends wie der Mensch selbst. Wir wissen: Je schneller jemand läuft, desto mehr müssen die Wadenmuskeln arbeiten. Heißt, wenn der Mensch nicht mehr einen Meter pro Sekunde läuft, sondern sich auf 1,4 Meter pro Sekunde steigert, braucht er 15 Prozent mehr Drehmoment, der Muskel macht also 15 Prozent mehr. Wir haben erwartet, dass das Gleiche für Exoskelette gilt, also dass die Nutzer:innen 15 Prozent mehr Drehmoment vom Exoskelett wollen. Wollten sie aber nicht. Hier liegt der Wert bei nur 6,5 Prozent. Das ist bemerkenswert. Denn es würde leichter fallen zu sagen: Wir versuchen den menschlichen Körper zu replizieren, also ein Gerät zu entwickeln, das genau das Gleiche wie dieser macht. Die Möglichkeit, die Biomechanik zu imitieren, wird grundsätzlich gern herangezogen. Doch hier haben wir gesehen: Das ist nicht der optimale Ansatz.
OT: Wie erklären Sie sich das?
Remy: Eine mögliche Erklärung ist, dass der Körper natürlich Grenzen hat. Biomechanisch bedingt ist es am besten, wenn der Mensch möglichst viel Bewegung aus dem Sprunggelenk erzeugt. Wären hier aber zu viele Muskeln, hätte das auch wieder Nachteile. An vorangegangene Studien, bei denen Personen durch Exoskelette am Sprunggelenk unterstützt wurden, sind wir ursprünglich mit der Erwartung herangegangen: Wenn das Exoskelett Unterstützung bringt, dann fährt der Mensch sein Sprunggelenk herunter. Was aber herauskam, ist, dass der Mensch sein Sprunggelenk anschaltet, aber den Beitrag an der Hüfte herunterfährt. Und zwar weil das der effizientere Ansatz ist. Das ist also eine mögliche Erklärung für das Ergebnis unserer Studie: Der menschliche Körper kann nicht immer all das, was er möchte. Es gibt viele andere Rahmenbedingungen wie die Gewichtsverteilung, die Durchblutung, die gewährleistet sein muss, und die Gelenke, die die Belastung aushalten müssen. Es ist aber auch möglich, dass der Mensch bei höheren Geschwindigkeiten andere Prioritäten setzt und z. B. Stabilität höher bewertet.
Mensch steht im Mittelpunkt
OT: An der Studie haben nur Proband:innen ohne körperliche Einschränkungen teilgenommen. Sind die Ergebnisse auch auf Menschen mit Einschränkungen übertragbar?
Remy: Ich glaube schon. Es geht bei dem Ansatz ja um die Frage, ob der Mensch in der Lage ist, Unterschiede zu spüren, einzuordnen und daraus Schlüsse zu ziehen. Das kann jemand, der eine Behinderung hat genauso gut.
OT: Welche Vorteile bringt die Selbstjustierung von Exoskeletten für die Nutzer:innen und die Versorger mit sich?
Remy: Es gibt viele Vorteile, einfach dadurch, dass man den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es braucht keine Expert:innen für die Einstellung, die Nutzer:innen können die Einstellung jeden Tag und in unterschiedlichen Situationen – wie beispielsweise auf der Arbeit oder zu Hause – ändern. Das erleichtert die Arbeit der Expert:innen aus Ärzteschaft, Therapie und Handwerk. Sie unterstützen durch ihren Blick von außen zwar nach wie vor. Was aber wegfällt, ist der Feedback Cycle.
OT: Was bedeutet das für die Kostenträger?
Remy: Vermutlich eine Kostenreduktion. Benötigen die Expert:innen bislang ein paar Stunden, ist die Einstellung nun in rund 15 Minuten gemacht. Und: Man muss es nicht wiederholt machen und die Einstellung nach ein paar Wochen wieder anpassen.
OT: Kann die Selbstjustierung von Exoskeletten auch Nachteile haben oder gibt es Grenzen?
Remy: Das ist eine Frage der Intention, hängt also davon ab, was man damit erreichen möchte. Wenn jemand eine bleibende Behinderung hat und es keine Aussicht auf Besserung gibt, dann ist dieses Verfahren optimal, da es die bestmögliche Unterstützung gibt. Anders verhält es sich bei Personen, die in Rehabilitation sind und trainieren sollen. Durch das Exoskelett soll ihnen natürlich geholfen werden zu laufen. Man möchte ihnen aber auch nicht alles abnehmen, sondern sie herausfordern. Deswegen stellt sich hier die Frage: Wie viel Kontrolle möchte man den Betroffenen geben und wann ist es sinnvoll, Ärzt:innen oder Techniker:innen hinzuzuziehen, um die Patient:innen zu fördern und auch zu fordern?
OT: Heißt, für die Nutzer:innen ist nicht immer das am besten, was sie als am besten empfinden?
Remy: Genau. Slacking (engl. „to slack off“ = nachlässig werden, Anm. d. Red.) heißt das Phänomen in der Biomechanik. Der menschliche Körper ist faul. Wir sind evolutionär bedingt darauf ausgerichtet, uns möglichst wenig zu bewegen und wenig Energie zu verbrauchen. Aber wenn es darum geht, Muskelmasse aufzubauen oder die Koordination zu trainieren, ist dieser Mechanismus nicht hilfreich. Es kann also Unterschiede geben zwischen dem, was die Nutzer:innen für gut befinden und dem, was die Expert:innen für richtig halten.
Nutzer:innen als verlässliche Datenquelle
OT: Welche Schritte lassen sich aus den Ergebnissen ableiten?
Remy: Wir können die Nutzer:innen in den Prozess miteinbeziehen und sie als – und das ist das Stichwort – verlässliche Datenquelle nutzen.
OT: Haben die Studienergebnisse weitere Fragen aufgeworfen, die in Folgestudien beantwortet werden könnten?
Remy: Unerforscht ist noch, warum Nutzer:innen bestimmte Einstellungen wählen. Geht es darum, den Energieverbrauch zu minimieren, geht es um den Komfort oder die Stabilität? Dafür könnte in einem nächsten Schritt zum Beispiel eine Nutzerbefragung durchgeführt werden. Auch könnte untersucht werden, wie sich diese Präferenzen auf ihren Energieverbrauch, ihre Muskelaktivität und ihre Physiologie auswirken.
OT: Für die Studie kamen Exoskelette für das Sprunggelenk zum Einsatz. Ist das System auch auf weitere Körperbereiche anwendbar?
Remy: Ja, die Studie, die wir gemacht haben, ist unabhängig vom Körperteil. Es ist eher eine Frage der Komplexität. Am Sprunggelenk gab es die zwei genannten Einstellungsparameter, die sich auf dem Tablet gut abbilden ließen. Bei einem Ganzkörperexoskelett gibt es aber vielleicht dutzende Parameter, die berücksichtigt und abgebildet werden müssten.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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