Das Innovationspotenzial besteht laut Projektleiter Prof. Dr.-Ing. Marc Siebert darin, dass das Handbike das gleichzeitige Steuern und Antreiben zulässt sowie neben der elektrischen Unterstützung auch über einen kleinen Wendekreis und eine gute Traktion verfügt, sodass auch ein Befahren von losem Untergrund möglich ist. Damit wird einer möglichst großen Gruppe körperlich behinderter Menschen, Erwachsenen und Kindern gleichermaßen, die Nutzung eines Handbikes ermöglicht. „Das wollen wir auch unter Anwendung einer modularen Plattformstrategie erreichen, die u. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass Schnittstellen geschaffen werden, mit der handelsübliche Serienkomponenten aus dem Fahrradbereich verwendet werden können“, sagt Siebert. Basierend auf einem Basisrahmen-Konzept können so sowohl ein Alltags-Handbike, ähnlich einem Trekking- bzw. Cityrad, als auch ein High-End-Sportgerät realisiert werden.
Beteiligt waren an dem Projekt Studierende des 5. Semesters des Bachelorstudiengangs „Verbundwerkstoffe/Composites“, die im Rahmen der Vorlesung „Fertigungsverfahren für Faserverbundstrukturen (FVT)“ ein verstellbares Sitzsystem für das Handbike entwickelten. „Das Ziel der Vorlesung mit den Projekten besteht darin, die Studierenden den entscheidenden Schritt aus der konzeptionellen Phase hin zur realen Umsetzung und Fertigung physikalischer Prototypen vollziehen zu lassen“, erläutert Siebert. Zudem sei es für ihn ein Test gewesen, ob Studierende dieses Semesters bereits an Forschungsprojekten erfolgreich mitarbeiten können. Und den sollten sie bestehen: „Das Ergebnis kann sich sehen lassen, das Sitzsystem wurde erfolgreich in Leichtbauweise umgesetzt und verfügt über alle erforderlichen Verstellbereiche zur individuellen Anpassung“, betont Siebert. „Für Fünftsemester ist das eine Top-Arbeit“, sagt der Ingenieur über das mit Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) geförderte Projekt, das das Team vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2021 durchführte.
Lösung für Groß und Klein
Laut Siebert sind klassische Handbikes sehr tief, würden Rollstuhlfahrer:innen durch aufwendiges Auf- und Absteigen und die notwendige Unterstützung von Begleitpersonen nicht selten die Lust am Fahren vermiesen. Angebote für Kinder seien besonders rar. Und selbst Profisportler:innen blieb vor Jahren – mangels elektrischen Antriebes – der Wunsch, die Alpen per Handbike zu erklimmen verwehrt. Beim entwickelten Handbike würden die Rollstuhlfahrer:innen von einer wegschwenkbaren Lenksäule sowie einer leicht erhöhten Sitzposition profitieren. „Wir kommen mit einem Rahmen aus“, freut sich Siebert zudem über die praktikable Lösung für Groß und Klein. Durch geschicktes Ausnutzen der Verstellbereiche kann das E‑Handbike von Personen mit einer Körpergröße zwischen 1,30 und 1,85 Metern genutzt werden. Auch für die Kostenträger ein interessanter Aspekt, findet Siebert. „Da das Bike mitwächst, ist es eine langfristige Investition.“ Eine Fahrt im tiefen, losen Sand am Strand? Auch das sei dank FAT-Bereifung kein Problem. Die gute Geländegängigkeit habe sich auch bei Tests auf Gras, Waldboden und steilen Bergauffahrten bestätigt.
Da das Bike das gleichzeitige Antreiben (Kurbeltrieb) und Steuern (Fahrtrichtungswechsel) zulassen sollte, wurde auf einem zuvor entwickelten Handbike-Ergometer ermittelt, welcher Schwenkbereich der Antriebskurbel – subjektiv – noch als angenehm bzw. sinnvoll hinsichtlich des gleichzeitigen Antreibens und Einlenkens empfunden wird. Siebert war es wichtig, den Proband:innen so wenig Einweisung wie möglich zu geben, sondern sie intuitiv handeln zu lassen. „Ich hatte mehr zu meckern als die Testfahrer:innen“, gibt er mit einem Augenzwinkern zu. Mit dem Ergebnis, „einem erträglich kleinen Wendekreis“, seien aber schließlich alle zufrieden gewesen. Beim Selbstversuch stellte Siebert zudem fest: Das Bike kommt an. Nicht nur bei den Nutzer:innen selbst, sondern auch bei Außenstehenden. „Wie cool ist das denn?“, hieß es, als er seinen Sohn mit dem Bike, inklusive Mountainbike-Stollenreifen, von der Schule abholte. „Nicht nur Menschen mit Behinderungen – wir alle können das Bike nutzen“, schlussfolgert Siebert. Ein großer Schritt Richtung Mobilität, Selbstständigkeit, Teilhabe und Inklusion.
Für Groß und Klein, Jung und Alt, Alltag oder Offroad – Ziel des Projektteams war es, eine möglichst große Nutzergruppe anzusprechen, und das zu einem erschwinglichen Preis. Wer mehr will, setzt auf ein High-End-Modell und nimmt zusätzliche Optionen wie Reifendrucksensoren und Sturzsensoren in Anspruch. Ein Radarsystem erkennt Fahrzeuge, die sich nähern. Für Siebert nicht nur eine nette Spielerei, sondern ein wichtiger Sicherheitsaspekt für die schnell zu übersehende „Rennflunder“ auf der Straße. Transportiert werden kann das Bike mittels eines Anhängekupplungsträgers, so wie es auch für konventionelle Fahrräder üblich ist.
Noch handelt es sich bei dem E‑Handbike um einen Prototyp. Optimierungsbedarf sieht Siebert beispielsweise beim Sitzsystem. Für die bislang verwendete und selbst entwickelte Seilzuglenkung gebe es keine Zukauflösungen. Das soll der Umstieg auf eine Zahnriemenlenkung ändern.
Vorstellung auf der Rehacare 2022
Zu sehen sein wird das E‑Handbike auf der Rehacare 2022, die vom 14. bis 17. September in Düsseldorf stattfindet. Dann – und daran arbeitet das Team derzeit mit Hochdruck – soll dem Publikum nicht das bestehende, sondern ein optimiertes Modell, eine „Weltneuheit“, vorgestellt werden: ein Handbike mit kettenlosem Antrieb.
Das Forschungsteam der PFH strebt die Marktreife und die Vermarktung des E‑Handbikes an. Der Lieferant der Basis-Fahrgestelle habe bereits signalisiert kooperieren zu wollen und die Herstellung spezieller Aluminiumrahmen zu übernehmen. Die Sanitätshäuser, mit denen während des Projekts zusammengearbeitet wurde, zeigten ebenfalls Interesse, serienreife Handbikes, insbesondere für Kinder, in das Produktportfolio aufzunehmen. Zusammen mit dem Zentrum für Entrepreneurship der PFH sei über die Möglichkeit einer Ausgründung und Fördermöglichkeiten zur Vermarktung von Handbikes gesprochen worden.
Pia Engelbrecht
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