OT: Warum wurde das Projekt ins Leben gerufen?
Andreas Oehme: Die Handwerkskammern in Nordrhein-Westfalen engagieren sich für Studienabbrecher:innen deshalb, weil sie eine interessante Zielgruppe für die Nachwuchswerbung sind. Die Statistiken weisen zwischen 25 % und 33 % Abbrecher eines Studiums an Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland aus. Einige technische Studiengänge haben noch deutlich höhere Abbrecherzahlen. Gerade in Nordrhein-Westfalen ist zudem die Hochschuldichte besonders ausgeprägt. In NRW gibt es 37 staatliche Hochschulen, 26 private und kirchliche Hochschulen sowie 5 Verwaltungshochschulen. Aufgrund des seit Jahren zunehmenden Fachkräftemangels im Handwerk sind die Handwerkskammern davon überzeugt, dass weitere Zielgruppen als Nachwuchskräfte gezielt angesprochen und beworben werden müssen. Die Zielgruppe der Studienabbrecher:innen ist nach aller Erfahrung überaus interessant.
OT: Inwiefern können Sie Studienabbrecher:innen auf dem Weg in eine Ausbildung im Handwerk unterstützen?
Oehme: Viele Studienabbrecher:innen fühlen sich ziemlich hilflos, da sie das angestrebte Bildungsziel nicht erreicht haben. Über Alternativen haben sich viele nie Gedanken gemacht, so dass eine Beratung über die Perspektiven und Bildungswege im Handwerk sehr hilfreich ist. Ohne eine gezielte Ansprache hat die Zielgruppe den Wirtschaftsbereich Handwerk im Regelfall nicht im Fokus. Mit guten Beispielen, einer Online-Präsenz, gezielten Beratungstagen sowie Veranstaltungen in Hochschulen unterstützen die Handwerkskammern Studienabbrecher:innen genauso wie Ausbildungsbetriebe, die Nachwuchs suchen.
OT: Fällt es Studienabbrecher:innen schwer ein Studium zu beenden und eine Ausbildung im Handwerk zu beginnen?
Oehme: Sehr vielen Studierenden fällt es schwer, sich mit ihren Studienzweifeln auseinanderzusetzen und zu dem Entschluss zu gelangen, das Studium besser vorzeitig zu beenden. Dies gilt umso mehr, je länger jemand studiert. Denn es ist eine große psychische Belastung, seinen Eltern und seinem persönlichen Umfeld mitzuteilen, dass man den eingeschlagenen Weg nicht zu Ende führt. Häufig führt genau dieser Aspekt dazu, dass junge Menschen viel länger als Studenten an den Hochschulen eingeschrieben sind, als sie tatsächlich zielgerichtet studieren. Diejenigen, die ein Studium nur einmal ausprobieren und nach ein bis drei Semestern zu dem Entschluss kommen, dass ein Studium nicht passt, haben kaum Schwierigkeiten, diese Entscheidung zu treffen.
OT: Mit welchen Sorgen und Fragen treten sie an Sie heran?
Oehme: Eine Hauptsorge können wir aus den Beratungsgesprächen feststellen: Die Studienaussteiger:innen fragen sich, ob sie die Ausbildung im Handwerk schaffen und was sie dafür tun müssen. Dies liegt häufig daran, dass sie negative Erfahrungen hinsichtlich der Leistungsüberprüfung an Hochschulen gemacht haben. Wenn man die bildungspolitische Diskussion rund um den Studienabbruch verfolgt, taucht immer wieder eine Frage auf: Welche Hochschulleistungen können auf eine Ausbildung angerechnet werden? Aus der Beratungsarbeit wissen wir, dass viele Studienaussteiger:innen nicht in einen fachlich affinen Bereich wechseln wollen. Insofern stellt sich die Anerkennungsfrage dann nicht. Wer jedoch in einem fachlich affinen Bereich bleibt, hat aufgrund der Sorge des Scheiterns häufig gar nicht die große Motivation, die Ausbildung von Anfang an zu verkürzen. Insbesondere, wenn man Interessierten vermittelt, dass man seine Ausbildungszeit auch im Nachhinein noch verkürzen sowie zusätzlich auch einen Antrag auf vorzeitige Zulassung zur Gesellenprüfung beantragen kann. Zudem haben die meisten Studierenden eine Hochschulreife und können allein deshalb die Ausbildung um ein Jahr verkürzen, wenn sie und der Ausbildungsbetrieb darin übereinkommen.
Natürlich gibt es eine ganze Reihe von weiteren konkreten Fragen: So zum Beispiel, was mit dem BAföG-Anspruch oder einem Studienkredit passiert, welche Auswirkungen ein Studienabbruch auf das Kindergeld hat, wie man nach einem Studienabbruch krankenversichert ist und ob man zum Beispiel auch in einer dualen Ausbildung im Handwerk BAföG erhält.
OT: Haben Betriebe Vorbehalte einen Studienabbrecher einzustellen? Welche Vorzüge kann ein Studienabbrecher mitbringen?
Oehme: Im Handwerk gibt es ausgesprochen wenig Vorbehalte, Menschen einzustellen, die sich zuvor an der Hochschule probiert haben. Viele Studienaussteiger:innen sind sehr gewissenhaft, da sie auf keinen Fall scheitern wollen. Auch die Lern- und Lebenserfahrung kommt vielen Ausbildungsbetrieben sehr entgegen. Eine ganze Reihe von Studienaussteiger:innen ist genauso jung wie andere Auszubildende, auch, da sie bereits mit 20 oder 21 Jahren wieder aus dem Studium ausgestiegen sind. Aber auch Studienaussteiger:innen mit Ende 20 oder sogar Anfang 30 sind schon erfolgreich in eine duale Erstausbildung vermittelt worden.
Nach unserer Erfahrung stellen Handwerksbetriebe Auszubildende nur ein, wenn sie diese vorher persönlich kennengelernt haben, in der Regel über ein Praktikum. Der große Vorteil der überwiegend inhabergeführten Handwerksbetriebe ist, dass der einzelne Mensch zählt und es viel mehr darauf ankommt, wie der Mensch ins Team passt, inwieweit man eine gemeinsame Wellenlänge entwickelt und welche Motivation für das Erlernen eines Berufes vorhanden ist. Insofern kann ein höheres Alter eine gewisse Sorge bereiten, die sich aber beim Kennenlernen oft auflöst.
Schwierigkeiten gibt es hin und wieder mit der Berufsschule, da die Auszubildenden dort ziemlich unterfordert sein können – allerdings haben Berufsschullehrkräfte häufig passende Möglichkeiten, auf die individuellen Voraussetzungen der Studienaussteiger:innen einzugehen.
OT: Wie genau läuft die Vermittlung in eine Ausbildungs- oder Praktikumsstelle ab? Wie können sich Betriebe bei Ihnen melden, die einem Studienabbrecher einen Ausbildungsplatz anbieten wollen?
Oehme: Die Fachstelle nimmt über ihre Website und über eine zentrale Telefonnummer, und zwar der Rufnummer 0211/3007777, Kontaktanfragen aus der Zielgruppe entgegen und berät sie. Sofern eine grundlegende berufliche Orientierung vorhanden oder geschaffen wurde, geht der Weg immer über das Kennenlernen des Berufes in einem Betrieb. Dies ist dann auch das entscheidende Scharnier für die Anbahnung eines Ausbildungsvertrages. Betriebe, die Interesse an Studienaussteiger:innen haben, können ebenfalls diese Rufnummer wählen und ihr Interesse kundtun. Unsere Empfehlung wäre zusätzlich, dass sie sich bei den lokalen/regionalen Initiativen melden, die es zwischen Kammern und Hochschulen gibt und auf der Projektlandkarte unserer Website zu finden sind.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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