Ausnahmen gibt es nur, wenn die Konzentration von Diisocyanaten einzeln und in Kombination weniger als 0,1 Gewichtsprozent beträgt oder eine erfolgreiche Schulung zum Umgang mit Diisocyanaten absolviert wurde. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklären Tom Mewes, Geschäftsführer der Beil Kunststoffproduktions- und Handelsgesellschaft, sowie Dr. Rainer M. Buchholz, Geschäftsführer von Renia, was auf die Branche zukommt.
OT: Herr Buchholz, Herr Mewes, Diisocyanate klingt zunächst einmal ein wenig abstrakt. Welche Produkte, mit denen Orthopädietechniker:innen und Orthopädieschuhmacher:innen arbeiten, sind von der Änderung der EU-Verordnung betroffen?
Rainer M. Buchholz: Diisocyanate finden sich in Klebstoffen und deren Vernetzer sowie bei Primern und Weich- bzw. Hartschäumen – kurzum in Dingen des täglichen Gebrauchs in einer orthopädietechnischen Werkstatt. Die durch die EU – übrigens auf Initiative Deutschlands eingeführte – Beschränkung zielt auch auf die Monomere ab. Diese sind besonders reaktiv und damit auch tendenziell gefährlicher als bereits polymerisierte Bestandteile der eingesetzten Produkte. Im Bereich der Vernetzer für Klebstoffe gibt es bereits einige monomerarme Alternativprodukte, die nicht unter die Regulierung fallen, da sie eine Konzentration von 0,1 Prozent haben. Allerdings enthalten die aktuell für die Vernetzung von Lösemittelklebstoffen erhältlichen Produkte noch so viel Monomer, dass sie der Beschränkung unterliegen. 2K-PU-Klebstoffe, oder auch Kartuschenkleber genannt, enthalten ebenfalls Diisocyanate mit hohem Monomeranteil. Hier hängt die Verarbeitungszeit von der Reaktivität ab, wodurch eine Reduktion der Monomere aus unserer Sicht schwierig sein dürfte. Eine gute Nachricht ist, dass PUR-Verfestiger – Primer – dank ihrer geringen Monomerkonzentration von unter 0,1 Prozent bereits heute schon die Vorgaben der EU-Verordnung erfüllen.
Tom Mewes: Anders sieht es bei Weich- und Hartschäumen aus. Die Anforderungen aus den OT- und OST-Werkstätten an die Produkte sind eine hohe Reaktivität und eine schnelle Vernetzung. Diese Anforderungen sorgen dafür, dass man – auch perspektivisch – nicht auf einen hohen Monomeranteil verzichten kann.
OT: Das klingt so, als ob die Industrie daran arbeitet, neue Lösungen für vorhandene Produkte zu finden. Wann kann man damit rechnen?
Mewes: Einen genauen Zeitpunkt für ein bestimmtes Produkt kann ich derzeit nicht nennen, aber sobald wir die Produkte entsprechend angepasst haben, werden wir es veröffentlichen. Die Initiative, wie bereits angesprochen, sich mehr um den sicheren Umgang mit Gefahrenstoffen zu kümmern und so für eine hohe Arbeitssicherheit zu sorgen, kommt aus Deutschland und wird nun unionsweit umgesetzt. Aktuell müssen aber auch die Betriebe ihren Beitrag leisten.
OT: Wie sieht dieser Beitrag aus?
Buchholz: Auch wenn die Industrie an Produkten arbeitet, die die EU-Vorgaben einhalten, wird dies nicht die Lösung für jeden Anwendungsbereich sein. Die Betriebsinhaber müssen sich darum kümmern, dass ihre Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Ab August 2023 müssen die Betriebsinhaber auf Verlangen einer zuständigen Behörde nachweisen, dass ihre Mitarbeiter entsprechend ausgebildet sind. Wir, als Lieferanten, haben die Verpflichtung auf den Schulungsbedarf hinzuweisen, am Ende kontrollieren wir aber natürlich nicht, wer in der Werkstatt mit unseren Produkten arbeitet.
OT: Müssen alle Mitarbeitenden geschult werden?
Buchholz: Eine Pflicht, das gesamte Werkstattteam schulen zu lassen, besteht nicht. Aber: Wer mit Isocyanaten zu tun hat, der muss so eine Schulung absolvieren. Allerdings ist es sicherlich empfehlenswert, dass auch Vorgesetzte und Inhaber, die nicht mehr selbst in der Werkstatt stehen, zumindest eine Grundlagenschulung mitmachen. Eine Vertiefung der Kenntnisse auf diesem Gebiet ist bestimmt nicht von Nachteil, gerade wenn es um die Notwendigkeit technischer oder organisatorischer Schutzmaßnahmen geht.
OT: Wie können die Betriebe ihre Mitarbeitenden entsprechend der neuen EU-Richtlinien schulen lassen?
Mewes: Mit Isopa und Alipa haben die beiden großen europäischen Verbände der Isocyanathersteller eine digitale Schulungsplattform zum Selbstlernen entworfen und bereits 2022 den betroffenen Betrieben zur Verfügung gestellt. Unter www.safeusediisocyanates.eu können die Mitarbeiter der Betriebe mit einem – aus unserer Sicht – vertretbaren Maß an Zeit- und Kostenaufwand ihre Schulungen absolvieren. Es werden verschiedene Module angeboten, die sich an die vielen möglichen Anwender dieser Produkte richten. Die Module werden jeweils mit einem Test abgeschlossen – das dann ausgestellte Zertifikat ist fünf Jahre gültig, und der Teilnehmer erfüllt damit die durch REACH (Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Anm. d. Red.) geforderten Voraussetzungen. Das Training kann auch in Gruppen absolviert werden, allerdings muss jeder Teilnehmer angemeldet werden und auch jeder den abschließenden Test bestehen. Es ist auch möglich, für Schulungen Dritter eine Trainingslizenz zu erhalten – es gibt aktuell schon Dienstleister, die solche Schulungen anbieten.
OT: Orthopädietechniker:innen beziehungsweise Orthopädieschuhmacher:innen sind ja nur ein kleiner Teil an Anwender:innen, die sich mit Isocyanaten beschäftigen. Woher wissen die betroffenen Betriebe, welche Module für sie jeweils richtig sind?
Mewes: Das Portal enthält eine Suchfunktion, um die jeweils notwendigen Module für die fragliche Anwendung zu ermitteln. In einem OST/OT-Betrieb werden Vernetzer in Klebstoff eingemischt und das Gemisch aufgetragen, Formen ausgeschäumt und Ähnliches. Dazu wählt man auf dem Schulungsportal die Option „Selbstlernen“ aus. Nun bucht man ein „Web Based Training“ und selektiert unter den Anwendungsbereichen die Option „Herstellung von Gemischen, die Diisocyanat enthalten“, dann erscheint „Handhabung offener Gemische, Reinigung und Abfall (015)“ als Option. Diese Schulung enthält auch die Grundlagenschulung und dauert etwa 90 Minuten. Das Modul schließt mit einem Test ab, im Anschluss erhält man bei erfolgreicher Durchführung ein Zertifikat zum Download und Ausdruck. Damit erfüllt man alle Anforderungen der EU-Richtlinien und die entsprechenden Mitarbeiter können weiterhin mit den Produkten arbeiten.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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